»Torpor« war das Wort, das sich Paul Auster im Februar 2021 für das Gespräch im »Zeit«-Podcast »Alles gesagt« nach kurzem Überlegen ausgesucht hatte, um die Unterhaltung zu beenden. Torpor beschreibt einen Zustand der Lethargie, des Erschöpft­seins, einer langen Ruhephase. Es ist ein eher selten gebrauchtes Wort, eines, das nur Paul Auster in seinem Schrei­ben so verwenden konnte, dass es weder antiquiert noch konstruiert schien, sondern sich mit großer Selbstverständlichkeit las.

Paul Auster ist am 30. April mit 77 Jahren an den Folgen einer Krebserkrankung in New York gestorben. Er wird keine Bücher mehr schreiben, es wird keine neuen klugen Gedanken zum Zustand der USA und auch keine Lesungen mehr mit ihm geben.

Es wird aber etwas bleiben, nämlich sein Werk, das mehr als 30 Bücher umfasst, dazu unzählige Essays und Zeitungsbeiträge. Wie den aus der Ausgabe des »New Yorker« vom Dezember 1995, der den Titel »Why write?« trägt, in dem Auster fünf kurze Momente einfing, die seltsam zufällig, gefährlich liebevoll, traumatisch, fast unmöglich und lebensverändernd waren. Letzterer war der, der den Grundstein für sein Schrei­ben legte: eine verpasste Autogrammgelegenheit mit seinem Baseball-Idol, weil niemand einen Stift bei sich trug. Von dem Moment an hatte Paul Auster immer einen Stift dabei. Und er schrieb.

Und die Welt las. Nicht gleich seine ersten Versuche, wie er im legendären Winter Journal erklärte, aber allerspätestens seit The New York Trilogy doch vieles mehr. Moon Palace zum Beispiel. Und die Welt konnte sein Schreiben auch sehen. Wie in Smoke, dem Film von Wayne Wang, der auf Austers Script beruhte und die Geschichte von fünf Menschen erzählt, die auf ganz unterschiedliche Art mit einem kleinen Tabakladen in Brooklyn verbunden sind.

Überhaupt Brooklyn. Der in New Jersey Geborene ist zumindest literarisch so eng mit New York verbunden gewesen wie kaum ein anderer international anerkannter Autor. Von den über 20 Adressen, an denen er einst gewohnt hat, sind viele in New York gewesen. Manhattan, aber immer wieder Brooklyn, denn die Alltagsgespräche der redefreudigen Stadtteilbewohner inspirierten ihn. Aber Auster lebte auch außerhalb der USA. In Frankreich zum Beispiel, wo er einmal seine jüdische Herkunft einer älteren jüdischen Dame gegenüber so charmant benutzte, dass aus einer Lärmbeschwerde fortan ein freundliches Grüßen wurde. Auster hatte einen besonderen Bezug zu Europa.

Er war der Amerikaner, der die intellektuelle Lust und die Neugier hatte, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Bei einer Lesung 2017 in Berlin sagte er, dass er das Gefühl habe, die Stadt sei – von allen europäischen Städten – die, die New York am ähnlichsten sei. Das Buch, aus dem er damals las, war 4 3 2 1. Es ist seiner Frau gewidmet, der Schriftstellerin Siri Hustvedt, der er es während der Entstehung laut vorlas – wie fast alles, was er schrieb. Hustvedt und Auster, das war nicht ein Paar in der Literaturwelt, es war DAS Paar. Und vielleicht sogar viel mehr als das, was das kitschige Wort Liebe beschreiben kann.

Hustvedt war es auch, die in einem Instagram-Post 2023 offenlegte, dass ihr Mann an Krebs erkrankt war. Seitdem schrieb sie in regelmäßigen Abständen von ihrer beider Reise durch »Cancerland«, wie sie es nannte. Sie wurden Großeltern, Auster entschied, dass er »Papa« genannt werden wolle. Im Februar schrieb Hustvedt, dass sein Zustand stabil sei. Das Paar fand trotz aller Schwierigkeiten kleine »Taschen voller Glück«, schrieb Hustvedt Mitte März. Diese Taschen müssen die Leser nun in Paul Austers Werken finden. Die noch viel mehr bedeuten, da die Welt gerade auch irgendwie in einem Zustand namens »Torpor« ist.

QOSHE - Winter in Brooklyn - Katrin Richter
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Winter in Brooklyn

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02.05.2024

»Torpor« war das Wort, das sich Paul Auster im Februar 2021 für das Gespräch im »Zeit«-Podcast »Alles gesagt« nach kurzem Überlegen ausgesucht hatte, um die Unterhaltung zu beenden. Torpor beschreibt einen Zustand der Lethargie, des Erschöpft­seins, einer langen Ruhephase. Es ist ein eher selten gebrauchtes Wort, eines, das nur Paul Auster in seinem Schrei­ben so verwenden konnte, dass es weder antiquiert noch konstruiert schien, sondern sich mit großer Selbstverständlichkeit las.

Paul Auster ist am 30. April mit 77 Jahren an den Folgen einer Krebserkrankung in New York gestorben. Er wird keine Bücher mehr schreiben, es wird keine neuen klugen Gedanken zum Zustand der USA und auch keine Lesungen mehr mit ihm geben.

Es wird aber etwas bleiben, nämlich sein Werk, das mehr als 30 Bücher umfasst, dazu unzählige Essays und Zeitungsbeiträge. Wie den aus der Ausgabe des »New Yorker« vom Dezember 1995, der........

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