München - Das Ende des Demonstrationszuges zu erkennen, das ist auch aus dem hinteren Drittel der Demo noch vollkommen unmöglich. Es sind einfach zu viele Menschen, die sich anlässlich des Großstreiks in der Innenstadt versammelt haben.

Pflegerinnen, Feuerwehrleute, Theaterbeschäftigte. Universitätsdozentinnen, Studenten, Restauratoren. Ein Meer aus gelben Verdi-Westen und roten Verdi-Fahnen.

Die Mitarbeiter des Freistaats sind im Streik. Um 10.30 Uhr haben sie sich am Odeonsplatz versammelt, sind einmal durch die Innenstadt gezogen und steuern dann auf die Abschlusskundgebung zu. 12.000 Menschen, aus Universitätskliniken, Hochschulen und Jugendeinrichtungen; Landes- und Kommunalbeamte – und Beschäftigte aus dem Handel.

Letztere sind natürlich nicht beim Freistaat angestellt. Aber die Gewerkschaft Verdi hat sie kurzfristig ebenfalls zum Streik aufgerufen. Einmal mehr – für viele Beschäftigte des Groß- und Einzelhandels ist es bereits der 30., der 40. oder sogar der 50. Streiktag.

Der 41-jährige Shkelqim Selemi beispielsweise ist seit Mai bereits 31 Mal in den Streik getreten. Heute ist sein 32. Streiktag. Selemi arbeitet bei Edeka in Moosach und sagt: "Mir ist klar, dass Streiks nervig sind. Aber heutzutage geht es anders nicht mehr."

Im April ist der Tarifvertrag im Handel ausgelaufen. Seither versuchen die Beschäftigten, ihre Forderung von 2,50 Euro mehr die Stunde im Einzelhandel und 13 Prozent im Großhandel durchzusetzen.

Das Angebot der Arbeitgeberseite bewegt sich aktuell zwischen 4,5 und 5,3 Prozent für 2023, gefolgt von einer Erhöhung um 2,9 bis 3,2 Prozent im folgenden Jahr. Zu wenig, findet Selemi. "Die Arbeitgeber schneiden sich ins eigene Fleisch, wenn sie unseren Forderungen nicht nachgeben", sagt er. "Wir werden nämlich immer mehr. Heute ist zum Beispiel ein Kollege zum ersten Mal dabei, der bis vor Kurzem nicht einmal wusste, was eine Gewerkschaft ist."

Der 52-jährige Zoran, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will, hat ähnliches beobachtet. Er arbeitet bei Metro in München und hat am Dienstag gemeinsam mit fast 30 Kollegen die Arbeit niedergelegt. "Das sind zwei Drittel des Betriebs", sagt er. "Wir werden immer mehr."

Die Arbeitsbedingungen bei Metro seien schon lange nicht mehr tragbar, sagt Zoran. "Die Warenverräumer verdienen bei uns gerade einmal 2.500 Euro brutto", sagt er. "Und mehr als 3.000 Euro brutto bekommt überhaupt niemand."

Davon ein Leben in München zu bezahlen, sei für viele Kollegen nicht möglich. "Viele von uns machen nebenher noch einen Nebenjob, sie putzen oder sind bei Aldi an der Kasse – und das neben der Vollzeitstelle", sagt er. "Das kann so nicht weitergehen."

Dominik Datz, Streikleiter von Verdi für den Bereich des Einzelhandels, geht davon aus, dass es nicht der letzte Streiktag gewesen sein wird. "Wir haben eine Streikplanung bis zum 23. Dezember", sagt Datz. "Man muss sich vor Augen halten: Die reichsten Deutschen sind Händler, Rewe hat gerade erst das beste Ergebnis seiner Unternehmensgeschichte erzielt – unsere Forderungen zu erfüllen, könnten sich diese Unternehmen locker leisten. Aber sie wollen nicht."

Stattdessen würden sie ein "mieses Propagandaspiel" betreiben und auf Konzerne wie Galeria und deren schlechte finanzielle Lage verweisen. "Dabei sind die überhaupt nicht tarifgebunden – bei dem Streik geht es gar nicht um sie. Es geht um die Großen, die Krisengewinner."

"Alles wird teurer, ich sehe das ja bei mir im Laden. Was letztes Jahr 1,95 Euro gekostet hat, kostet jetzt 2,49 Euro. In den vergangenen zwei Jahren sind Lebensmittel um mehr als 25 Prozent teurer geworden. Und im Mai habe ich dazu noch einen Brief von meinem Vermieter bekommen, dass ich ihm 100 Euro mehr im Monat zahlen soll. Nur: Wovon? Ich verdiene jetzt 1.700 Euro netto. In Vollzeit! Und inzwischen zahle ich fast 1.000 Euro Miete, man kann sich ja ausrechnen, was da übrig bleibt. Dabei leisten wir harte Arbeit. Wir sitzen an der Kasse, räumen die Regale ein, beruhigen unangenehme Kunden. Und Penny macht immer mehr Gewinn – seit der Corona-Krise sind die noch mal weiter gestiegen. Allein gestern habe ich 9.800 Euro verkassiert. Im Mai haben sie uns eine Erhöhung von 5,5 Prozent gegeben, davor habe ich nur 14 Euro pro Stunde verdient. Aber die 1.700 Euro netto im Monat, die ich jetzt bekomme, gleichen die gestiegenen Preise nicht aus. Wir fordern 2,50 Euro mehr pro Stunde und das ist nur gerecht. Wir sagen: Alles wird teurer – wir auch!"

QOSHE - "Anders geht es nicht mehr": Münchens Mitarbeiter im Einzelhandel ... - Laura Meschede
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"Anders geht es nicht mehr": Münchens Mitarbeiter im Einzelhandel ...

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06.12.2023

München - Das Ende des Demonstrationszuges zu erkennen, das ist auch aus dem hinteren Drittel der Demo noch vollkommen unmöglich. Es sind einfach zu viele Menschen, die sich anlässlich des Großstreiks in der Innenstadt versammelt haben.

Pflegerinnen, Feuerwehrleute, Theaterbeschäftigte. Universitätsdozentinnen, Studenten, Restauratoren. Ein Meer aus gelben Verdi-Westen und roten Verdi-Fahnen.

Die Mitarbeiter des Freistaats sind im Streik. Um 10.30 Uhr haben sie sich am Odeonsplatz versammelt, sind einmal durch die Innenstadt gezogen und steuern dann auf die Abschlusskundgebung zu. 12.000 Menschen, aus Universitätskliniken, Hochschulen und Jugendeinrichtungen; Landes- und Kommunalbeamte – und Beschäftigte aus dem Handel.

Letztere sind natürlich nicht beim Freistaat angestellt. Aber die Gewerkschaft Verdi hat sie kurzfristig ebenfalls zum Streik aufgerufen. Einmal mehr – für viele Beschäftigte des Groß- und Einzelhandels ist es bereits der 30., der 40. oder sogar der 50. Streiktag.

Der 41-jährige Shkelqim Selemi beispielsweise ist seit Mai bereits 31 Mal in den Streik........

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