Marc Benioff ist ein viel beschäftigter Mann. Der Gründerchef des börsennotierten Softwareunternehmens Salesforce trägt die Verantwortung für über 70.000 Mitarbeiter. Im Gegensatz zu den rastlosen CEOs, die um 4.30 Uhr morgens aufstehen und die ersten Mails checken, hat sich Benioff trotz diverser Konferenzmarathons seine Ruhepausen beibehalten.

Acht Stunden Schlaf und morgendliche Meditation gehören zu seinen Routinen. Nachdem im Januar 2023 bekannt wurde, dass Salesforce zehn Prozent seiner Mitarbeiter entlassen würde, schaltete Benioff alle Geräte aus und verabschiedete sich für zehn Tage nach Französisch-Polynesien zu einem Offline-Trip. Kein Laptop, kein Smartphone, keine News.

Der analoge Urlaub in der Südsee war für den Unternehmer eine heilsame Erfahrung. Als er wieder zu seinem Smartphone griff, schickte er der New York Times eine Textnachricht: „Wir sind so süchtig nach unseren Geräten (zumindest bin ich es), dass es sehr befreiend ist, all das für eine Weile hinter sich zu lassen.“

Der Salesforce-Chef gehört zu einer analogen Elite, die Achtsamkeit zur neuen Heilslehre in der digitalen Welt ausgerufen hat. Schon vor einigen Jahren ließ Benioff buddhistische Mönche aus Frankreich zu einer Konferenz einfliegen und lud sie sogar in eines seiner beiden Häuser in San Francisco ein. Davon inspiriert, ließ Benioff im neuen Hauptquartier von Salesforce in jedem Stockwerk Meditationsräume einrichten: „mindfulness zones“, in denen Mitarbeiter ihre Smartphones in einen Korb werfen können.

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Auch beim Softwarekonzern SAP, wo es sogar einen „Chief Mindfulness Officer“ gibt, absolvieren Mitarbeiter regelmäßig Achtsamkeitstrainings und Schulungen, um ihre Akkus wieder aufzuladen. Daimler und VW lassen schon seit einiger Zeit eingehende E-Mails im Urlaub und nach Feierabend automatisch löschen, damit die Mitarbeiter abschalten können.

Handyverbot an Schulen: Sinnvoll oder kontraproduktiv?

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Roboter für zu Hause von Apple: Ist die Entwicklung bereits im vollen Gange?

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Die gesundheitlichen Folgen der Dauererreichbarkeit sind hinreichend bekannt: Stress, Konzentrationsdefizite, Schlafstörungen. Selfies sind fünfmal tödlicher als Hai-Attacken – Selfie-Tote, Online-Sucht und digitaler Burnout sind die Kollateralschäden einer Aufmerksamkeitsökonomie, die permanente Erreichbarkeit verlangt. Studien belegen, dass die Social-Media-Nutzung mit einer Verschlechterung des mentalen Wohlbefindens einhergeht. Gleichzeitig erhöht das häufige Checken von E-Mails den Stress. Dass die Idee des Digital Detox ihren Ursprung im Silicon Valley hat, dessen Apps die Menschen weltweit zu Dopamin-Süchtigen gemacht hat, ist nur auf den ersten Blick verwunderlich.

Zahlreiche Tech-Vorstände haben ihre Kinder in einer weitgehend computerfreien Umgebung erzogen: Apple-Gründer Steve Jobs verbot seinen Kindern die Nutzung des iPads, weil er es für zu gefährlich hielt. Bill Gates erlaubte seinen Kindern ein eigenes Handy erst ab dem Alter von 14 Jahren. Und Google-Chef Sundar Pichai, der nach eigenen Angaben 20 Smartphones gleichzeitig benutzt, versucht zumindest, die Bildschirmzeit seiner Kinder zu begrenzen. Eltern im Silicon Valley erziehen ihre Sprösslinge längst bildschirmfrei und schicken sie auf Waldorfschulen.

Der Trend ist bis nach Neuseeland geschwappt. Dort hat 2021 auf einer stillgelegten Schaf- und Apfelfarm eine Montessori-Schule mit computerfreien Klassenzimmern eröffnet. Galt das Fehlen von IT bislang als Ausweis von technologischer Rückständigkeit, wird es in Zeiten digitaler Reizüberflutung zum Distinktionsmerkmal einer neuen Elite. Nach den ermüdenden Bildschirmerfahrungen mit Homeschooling und Homeoffice in der Corona-Pandemie wächst bei vielen Eltern und Kindern das Bedürfnis nach Ruhe und weniger Ablenkung.

Die Niederlande haben zu Beginn des Jahres digitale Endgeräte aus den Klassenzimmern verbannt, und auch in Deutschland diskutiert man – mal wieder – über ein Handyverbot an Schulen. Während in vielen Klassenzimmern unter den Tischen heimlich gedaddelt wird, sind Konzertsäle bereits handyfreie Zone: So mussten bei der letzten Tour von Bob Dylan im vergangenen Jahr Fans ihre Smartphones am Eingang abgeben und in einer Hülle versiegeln lassen. Die Musiklegende will nicht mehr in ein Lichtermeer von Handys schauen.

Digitalzwang: Wer kein Handy hat, muss draußen bleiben

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Wegen Suchtgefahr: EU-Kommission leitet Verfahren gegen TikTok ein

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In Hamburg gibt es sogar eine ganze Veranstaltungsreihe, bei der ohne Handy getanzt und gesungen wird. Das Motto: Nofomo, welches die „Fear of missing out“ (fomo), die panische Angst, etwas zu verpassen, in ein sinnliches Erlebnis umkehren will. Handyfrei liegt voll im Trend. Brautpaare organisieren „Unplugged Weddings“, Autohersteller verbauen wieder analoge Knöpfe statt digitalen Touchscreens, Unterkünfte bieten „Bio-Natur-Urlaub“ in einsame Berghütten und Yoga-Retreats, Funkstille inklusive.

Mittlerweile existieren sogar Reiseveranstalter, die sich auf Digital-Detox-Destinationen spezialisiert haben. Drei Nächte in der romantischen Offline-Hütte in den urigen Wäldern der englischen Grafschaft Sussex gibt es für 500 Euro – Brettspiele, Feuerstelle und abschließbare Handy-Box inklusive. Leben wie Henry Thoreau im 19. Jahrhundert. Analog muss man sich freilich leisten können – nicht das Funkloch, das in Fahrten der Deutschen Bahn im Preis inbegriffen ist, sondern die finanzielle Freiheit, nicht auf E-Mails oder Anrufe reagieren zu müssen. Das kann sich in der heutigen Arbeitswelt kaum noch jemand erlauben. Dass Speeddating inzwischen als Entschleunigung zum burnoutgefährdenden Onlinedating gilt, sagt einiges über die Rasanz der digitalen Gesellschaft.

Auch jüngere Menschen fühlen sich durch die Dauererreichbarkeit gestresst. Ausgerechnet die Generation Z, die mit dem Internet sozialisiert wurde, knipst mit analogen Kameras und telefoniert mit alten Handyknochen wie dem Nokia 3310, das kein mobiles Internet hat und außer SMS und Telefonieren nicht viel kann. Dumbphone statt Smartphone. Sogar die gute alte Schreibmaschine wird aus der Mottenkiste der Technikgeschichte hervorgekramt und liebevoll entstaubt: Auf TikTok findet man unter den Hashtags #typewriter und #tiktokpoetry herzzerreißende Videoclips von jungen Menschen, die Liebesbriefe und Gedichte auf Schreibmaschine und Papier verfassen. Es ist das Kontrastprogramm zu ChatGPT.

Zerstreut und weniger empathisch: Was das Handy mit unserem Hirn macht

17.04.2024

Der Politikwissenschaftler Andre Wilkens schreibt in seinem Buch „Analog ist das neue Bio“ (2015): „So wie Bio eine Antwort auf die industrielle Massenproduktion von Lebensmitteln ist und diese nun beeinflusst, kann Analog eine Antwort auf die industrielle Massenproduktion und Verarbeitung von Daten sein und auch diese Entwicklung beeinflussen.“

Inzwischen wird Analog auch staatlich verordnet. So haben die Bürger der französischen Gemeinde Seine-Port südlich von Paris kürzlich in einem Referendum das Handy-Scrollen in der Öffentlichkeit verboten. Zwar ist das Verbot eher symbolischer Natur. Eine Sanktion droht Smartphone-Junkies bei Zuwiderhandlung nicht. Die kommunale Charta will aber ein Bewusstsein für mentale Gesundheit schaffen. Marc Benioff würde es dort sicher gut gefallen.

QOSHE - Die digitale Elite erholt sich analog: „Kein Laptop, kein Smartphone, keine News“ - Adrian Lobe
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Die digitale Elite erholt sich analog: „Kein Laptop, kein Smartphone, keine News“

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23.04.2024

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Acht Stunden Schlaf und morgendliche Meditation gehören zu seinen Routinen. Nachdem im Januar 2023 bekannt wurde, dass Salesforce zehn Prozent seiner Mitarbeiter entlassen würde, schaltete Benioff alle Geräte aus und verabschiedete sich für zehn Tage nach Französisch-Polynesien zu einem Offline-Trip. Kein Laptop, kein Smartphone, keine News.

Der analoge Urlaub in der Südsee war für den Unternehmer eine heilsame Erfahrung. Als er wieder zu seinem Smartphone griff, schickte er der New York Times eine Textnachricht: „Wir sind so süchtig nach unseren Geräten (zumindest bin ich es), dass es sehr befreiend ist, all das für eine Weile hinter sich zu lassen.“

Der Salesforce-Chef gehört zu einer analogen Elite, die Achtsamkeit zur neuen Heilslehre in der digitalen Welt ausgerufen hat. Schon vor einigen Jahren ließ Benioff buddhistische Mönche aus Frankreich zu einer Konferenz einfliegen und lud sie sogar in eines seiner beiden Häuser in San Francisco ein. Davon inspiriert, ließ Benioff im neuen Hauptquartier von Salesforce in jedem Stockwerk Meditationsräume einrichten: „mindfulness zones“, in denen Mitarbeiter ihre Smartphones in einen Korb werfen können.

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Auch beim Softwarekonzern SAP, wo es sogar einen „Chief Mindfulness Officer“ gibt, absolvieren Mitarbeiter regelmäßig Achtsamkeitstrainings und Schulungen, um ihre Akkus wieder aufzuladen. Daimler und VW lassen schon seit einiger Zeit........

© Berliner Zeitung


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