Stanislawski lag still im Gras. Seine linke Wange drückte in den Rasen, mit dem rechten, freiliegenden Ohr hörte er das Summen der Treskowallee, das schwere Atmen des Mannes, der auf seiner Hüfte kniete, sowie ein Knacken, das vermutlich aus dem Funkgerät des Mannes stammte.

Stanislawski nahm an, dass es ein Mann war. Er hatte einen Schatten gesehen, auf dem Weg zur Hecke, in der ein längliches, dunkelblaues Päckchen steckte, das Ruth dort für ihn versteckt hatte. Sicher ein Duschbad. Die beiläufige Bewegung, mit der er auf den Rasen gewuchtet und fixiert worden war, deutete auf einen Mann, dachte Stanislawski.

So jedenfalls hätte er sich bei einer Zeugenaussage ausgedrückt. Er hätte auch gesagt, dass der Mann eine Maske trug, weil er sich das so vorstellte. Mit Maske. Stanislawski glaubte allerdings nicht, dass es zu einer Zeugenaussage kommen würde. Die Bewegung des Mannes hatte etwas Zweifelsfreies gehabt, es war die Aktion eines Angreifers gewesen, der sich im Recht wähnte. Ein Angreifer mit Papieren und Auftrag. Ein staatlicher Angreifer. Das würde auch erklären, warum sie nicht miteinander sprachen, obwohl sie so eng beieinander lagen.

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Stefan Stanislawski also war am Ostersonntag im Garten seines Karlshorster Grundstücks von einem fremden, wahrscheinlich maskierten Mann überwältigt worden, beklagte sich aber nicht. Der Fremde rechtfertigte sich nicht. Sie lagen im Gras, in der Ferne summte die Treskowallee weiter, der Mann atmete und schien den Dingen zu lauschen, die ihm die Stimme eines Vorgesetzten in seinen Ohrknopf befahl. Zumindest kam es Stanislawski so vor. Und es beruhigte ihn. Es gab eine Instanz jenseits dieses Ringkampfes.

Alles hatte seine Ordnung.

•gestern

29.03.2024

•gestern

•gestern

gestern

Stanislawski fokussierte sein rechtes Auge auf den mittleren der Grashalme, die er von hier aus sehen konnte. Dahinter verschwamm die Landschaft wie in einem Film über Insekten. A Bugs Life. Er würde darauf warten, dass sich etwas in sein Blickfeld bewegte. Eine Ameise. Wenn er Glück hatte, ein Zitronenfalter. Regenwürmer gab es keine mehr. Andererseits hatte es viel geregnet im Winter. Man konnte, so nahm er an, seinen Organismus herunterfahren, eins werden mit der Natur. Die Schwingungen der Karlshorster Erde aufnehmen. Ein Regenwurm werden.

Er dachte an den amerikanischen Spielfilm „The Thin Red Line“, in dem ein amerikanischer Soldat in der ausufernden Natur einer südpazifischen Insel im Zweiten Weltkrieg gezeigt wurde. Die Gräser, das Zirpen, eine Schlange, der Feind irgendwo, unsichtbar, unwichtig auch. Er hatte die Handlung des Filmes vergessen, aber diese beruhigende, universelle Naturstudie nicht. Hier in Karlshorst, am anderen Ende Welt, war wenig später der Krieg beendet worden, auf dem Papier jedenfalls. Sie hatten aus den Trümmern den nahen Tierpark aufgebaut. Bärenzwinger, Brehm-Haus, Dickhäutergehege. In seinem Arbeitszimmer hing ein Foto, das ihn als Kind zeigte, einen der Elefanten fütternd. Seine kleine Hand, der Rüssel des Elefanten. Verblasste Farben aus den 70er-Jahren. Es war eine Aufnahme seines Vaters, der als Fotograf für eine Berliner Illustrierte gearbeitet hatte und seit ein paar Jahren in einem Friedrichshagener Pflegeheim lag, riesige weiße Flecken im Gehirn.

Stanislawskis Mutter hatte die ersten Flecken der gesamten Familie bei einem Weihnachtsessen beschrieben wie ein kosmisches Phänomen, das sie entdeckt hatte. Seltsam erfreut, stolz fast. Sein Vater, ihr Ehemann, hatte lächelnd mit am Tisch gesessen und anschließend gefragt: „Kann ich noch einen Kloß bekommen, Heidrun?“

Stanislawskis Mutter hatte den Kopf geschüttelt und war zwei Monate später gestorben. Wie aus Trotz.

Er fühlte sich plötzlich sehr alleingelassen, hier im Gras, mit all seinen Fragen. Sie hatten ihm den Nachnamen eines berühmten sowjetischen Regisseurs vererbt und den Vornamen Stefan. Keine Erklärungen.

Er roch in den Frühlingsboden. Er dachte ans Vertikutieren, von dem er gerade irgendwo gelesen hatte, dass es Unsinn war. Zehn Jahre hatte er den Boden unter seiner Wiese aufgelockert, mit Sauerstoff versorgt, wie es hieß, er hatte bereits zwei Vertikutierer verschlissen, und jetzt erklärten sie: alles umsonst.

Stanislawski dachte, dass er – sollte er das hier überleben – weiter vertikutieren würde. Er hatte die Technik und wusste inzwischen, dass man nur auf die nächste Studie warten musste, die das Gegenteil behauptete. So war es mit allem. Kriege, Pandemien, Gesellschaftsformationen und Landschaftspflege. Sie liebt mich, sie liebt mich nicht, sie liebt mich, sie liebt mich nicht. Der Maskenmann, der auf seiner Hüfte kniete, sprach in sein Mikrofon. Drei Wörter.

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„Ein Kilo, Mario?“

Stanislawski lauschte dem Wort Mario nach. Es klang aus dem Mund des Mannes über ihm wie Mahjo. Ein Berliner, dachte Stanislawski, und freute sich, etwas in der Hand zu haben. Einen Faden.

„Nee, nee“, sagte die Stimme über ihm. Und dann: „Copy that.“

Die Berliner Variante. Koppisett.

Der Mann verlagerte sein Gewicht ein wenig. Er wurde schwerer. Nicht bedrohlich, nur schwer. Das war nicht Minnesota, das war Karlshorst, sagte sich Stanislawski. Koppisett. Er war sich keiner Schuld bewusst.

Er glaubte, Ruths Stimme zu hören, er hob den Kopf vom Boden. Nur ein bisschen, er wollte niemanden reizen. Er sah Osterglocken vor der Hecke, die im unteren Teil, den Stanislawski einsehen konnte, bereits leuchtend grün war. Er hätte sie gern noch einmal gestutzt vor Frühlingsbeginn, hatte aber den Zeitpunkt verpasst. Ab dem 1. März war das verboten. Lebende Zäune nannten sie die Hecken jetzt. Man konnte, wenn es schlecht lief, bis zu 10.000 Euro Strafe zahlen. Das hatte ihm Bernd Ludwig gesagt, sein Nachbar, der ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, angezeigt hätte, der Gartennazi. Der braune Bernd, der schon die Deutschlandfahne gebügelt hatte für die Heim-EM. Stanislawski sah zwei schwarze Schnürstiefel, die sicher zu einem anderen Maskenmann gehörten, und dann noch zwei. Offenbar wurde eine größere Operation durchgeführt in seinem Garten, eine Art Manöver. Easter Egg Hunt, 24. Er spürte einen leichten Druck an der Schläfe, sein Bewacher drückte seinen Kopf zurück ins Gras.

War Ruth eingeweiht? Sah Bernd zu?

Bernd Ludwig hatte eine Drohne, die er gelegentlich über der Siedlung kreisen ließ. Die Männer mit den Stiefeln würden die sofort runterschießen, eine Vorstellung, die Stanislawski erfreute. Er hätte nicht mal etwas dagegen, wenn sie Bernd Ludwig gleich mit erlegten. Er spürte, wie er lächelte. Es hatte etwas Meditatives, so herumzuliegen, ohne zu wissen, worum es eigentlich ging. Es war ein schönes Bild für sein Leben insgesamt. Er hatte den Überblick verloren und die Hoffnung, irgendwie ins Weltgetriebe eingreifen zu können. Die Zeit flog an ihm vorbei. Die einzige Information, die er hatte, war, dass er nicht wegkonnte. Er schloss die Augen. Er hörte Geraschel und Getrappel, er stellte sich vor, wie sich die Schnürstiefel über seinen unvertikutierten Rasen bewegten.

Das Gewicht von seiner Hüfte löste sich.

„So“, sagt eine Stimme über ihm. „Aufi!“

Aufi.

Offenbar war seine Zen-Übung vorbei. Er öffnete die Augen und drückte sich langsam nach oben. Es war nicht einfach. Er hockte im Gras wie ein Hund und drehte den Kopf. Die Gartentür war offen, dahinter standen drei Beamte, alle trugen Helme, maskiert war niemand. Hinter ihnen in der Einfahrt parkten zwei Polizeivans. Dazwischen befanden sich zwei weitere Beamte und, wenn er das richtig sah, Bernd Ludwig, der sicher angeboten hatte, eine Aussage zu machen, zu irgendwas. Es war ja alles bedenklich jenseits seines Gartenzaunes. Bernd hatte schon diese Aussagehaltung, dieses leicht Gebeugte, in den Knien Federnde.

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„Und?“, sagte der Mann über ihm.

Stanislawski reckte den Kopf. Er sah eine Hand vor seinem Gesicht baumeln, behandschuht. Einen Augenblick lang dachte er darüber nach, hineinzubeißen. Dann ergriff er sie und zog sich hoch. Der Mann war bestimmt zwanzig Jahre jünger als Stanislawski. Er sah ihn unbeteiligt an. So, als hätte er ihm über die Straße geholfen und nicht gerade zehn Minuten auf seiner Hüfte gekniet. Er zeigte zur Terrasse, wo sechs seiner Kollegen mit Ruth zusammenstanden und zu ihnen herübersahen. Ein seltsames, fast religiöses Bild an diesem Ostersonntag. Ruth und die Jünger Jesu im wärmsten Frühjahr seit den Wetteraufzeichnungen. Die beiden Kirschen neben der Terrasse begannen zu blühen, die Forsythien waren schon fast durch.

Sein Polizist schob Stanislawski mit sanftem Druck in Richtung der anderen. Sie standen um den Teakholztisch, den er schon im letzten Jahr schleifen und ölen wollte. Ruth hatte ihn mehrfach darum gebeten. Jetzt war es auch egal.

Auf dem Tisch lag ein schmales, graublaues Päckchen. Es war, wenn er das richtig sah, das Paket, das er gerade aus der Hecke hatte pflücken wollen. Sein Osterei. Das letzte. Die Kinder waren seit kurzem aus dem Haus. Rosa machte ein Erasmusjahr in Budapest, Paul arbeitete auf irgendeiner Farm im Kalifornien, um herauszufinden, was er wollte im Leben. Aber sie hatten den Garten, es war Ostern. Es musste weitergehen. Ruths Ei steckte im Rhododendron. Eine Nachtcreme für 49 Euro. Stanislawski dachte seit einem halben Jahr über einen Hund nach. Manchmal stand er in der Tierklinik in der Ehrlichstraße herum und studierte die Hundekäfige. Wahrscheinlich fiel er den Pflegern bereits auf. Die Beamten sahen das Päckchen an, als sei es vom Himmel gefallen.

Stanislawski drehte sich zur Hecke um. Da war nix mehr, soweit er das erkennen konnte. Er sah wieder auf den Tisch.

„Ja?“, sagte Stefan Stanislawski.

Es war das zehnte Wort an diesem Morgen. Die ersten neun waren gewesen: „Dann guck ick ma, wat der Osterhase jebracht hat.“

„Die Herren sind vom Landeskriminalamt“, sagte Ruth. Sie klang ein bisschen vorwurfsvoll. So, als müsse er sich nicht wundern. Bei seinem Lebensstil. Der Mann, der auf herrenlose Hunde starrte.

„Referat 4“, sagt einer der Männer. Er war in Stanislawskis Alter, wahrscheinlich hatte er hier den Hut auf.

„Vier“, sagte Stanislawski.

„Rauschgiftdelikte“, sagte Ruth.

Er nickte, als sei er mit den LK-Referatsnummern vertraut.

„Stanislawski, der Name kommt mir irgendwie bekannt vor“, sagte der Chef.

„War ein sowjetischer Regisseur“, sagte Stanislawski. „Er hat den Naturalismus in den Film gebracht.“

Ruth blähte die Nasenflügel auf. Sie machte sich lustig, wenn er diese Verbindung herstellte. Genau wie seine Mutter sich darüber lustig gemacht hatte, wenn sein Vater sie hergestellt hatte.

„Konstantin Sergejewitsch“, sagte Stanislawski.

„Kenn ick nich.“, sagte der Einsatzleiter.

„Klingt wie’n Russe“, sagte einer der Männer, vielleicht der, der noch vor einer Minute auf ihm gekniet hatte, dachte Stanislawski. Er hätte nicht mehr sagen können, wer von den Männern an seinem Terrassentisch das gewesen war. So funktionierte das. Keiner hatte einen Namen, keiner ein Gesicht. Sie brauchten gar keine Masken.

„Holger“, sagte ein anderer Mann.

„Wat?“, fragte der Chef.

„Holger Stanislawski. So hießt mal’n Trainer von St. Pauli.“

Alle sahen den Chef an.

„Richtich“, sagte der Einsatzleiter. „Olle Stani.“

Ruth nickte.

„Worum gehts hier eigentlich?“, fragte Stanislawski. „Ich nehme nicht an, dass Sie hier am Ostersonntag in Mannschaftsstärke erschienen sind, um meinen Stammbaum zu kontrollieren.“

Er schaute zu seinem Gartentor, wo immer noch Bernd Ludwig stand. Ratlos, sicher auch ein bisschen enttäuscht, dass sie seinen Nachbarn so schnell wieder aus dem Schwitzkasten gelassen hatten.

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„Ihr Sohn Paul hält sich zurzeit wo auf?“, fragte der Einsatzleiter.

„In Kalifornien“, sagte Ruth. „Sacramento.“

„Ernteeinsatz“, sagte Stanislawski.

„Ernteeinsatz in Kalifornien“, sagte der Chef der schnellen Eingreiftruppe vom LKA 4. Er grinste. Auch Stanislawski musste grinsen. Ernteeinsatz in Sacramento. Die Entwicklung der letzten vierzig Jahre in einem Satz. Er hatte einst einen Ernteeinsatz bei Neubrandenburg gehabt, als Berufsschüler. Ende der 80er. Kartoffelernte. Sie hatten aus dem Schlamm geklaubt, was die Sammelmaschinen übrig ließen. Und jetzt: Sacramento. Man könnte es singen. Zur Melodie von Mendocino vielleicht. Michael Holm.

Mendocino, Mendocino

Ich fahre jeden Tag nach Mendocino

An jeder Tür klopfe ich an

Doch keiner kennt mein Girl in Mendocino

„Was erntet er denn da, der Paul? In Sacramento?“, fragte der Einsatzleiter.

„Es ist, genauer gesagt, außerhalb von Sacramento, nördlich“, sagte Ruth. „In den Bergen.“

„In den Bergen“, sagte der Einsatzleiter. Er sah seine Männer an, vielsagend. Sie nickten.

Stanislawski bekam eine Ahnung davon, was sie hier suchten. Schlaglichtartig. Paul hatte nie eine Leidenschaft für die Landwirtschaft gehabt. Er war nicht mal in der Lage gewesen, ihren Rasen zu sprengen. Paul hatte sein Abitur mit Ach und Krach geschafft, er hatte mit Leuten in aller Welt irgendwelche Strategiespiele gespielt und war dem 1. FC Union zu jedem Auswärtsspiel hinterhergereist, sogar nach Braga. Stanislawski hatte sich nie gefragt, wie er diese Reisen finanzierte. Bisher. Er ahnte die Antwort.

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Was wuchs denn in den Bergen nördlich von Sacramento?

Er hörte ein Surren in der Luft. Die Einsatzgruppe sah in den Karlshorster Himmel. Da kreiste eine Drohne. Stanislawski schaute zum Nachbargrundstück. Die Blicke der anderen folgten seinem. Man sah Bernd Ludwig hinter der leuchtend grünen, aber noch lichten Hecke an einer mobilen Konsole hantieren. Der Einsatzgruppenleiter nickte einem seiner Männer zu, der die Terrasse verließ und ein paar Schritte über den Rasen lief, wo er etwas in ein Mikrofon sprach. Wenig später sah man hinter der Hecke zwei Schatten, schnelle Bewegungen. Bernd Ludwig verschwand wie in einer Puppentheateraufführung. Der Kasper. Hinter der Hecke sah man stattdessen einen Mann mit Helm, der die Konsole in der Hand hielt. Der Polizist.

Die Drohne verlor an Höhe und landete auf dem Rasen von Stanislawski, in der Nähe des Mannes, den der Einsatzleiter dorthin beordert hatte. Der Mann zog eine Art Metallstab aus seinem Gürtel, hielt ihn an die gelandete Drohne von Bernd Ludwig. Es knarzte und funkte.

„So“, sagte der Einsatzleiter. „Wo waren wir? Sacramento. Was erntet Paul da?“

„Kartoffeln eher nicht“, sagte Stanislawski gut gelaunt, jetzt, wo der braune Bernd bezwungen war.

Ruth sah ihn verärgert an.

„Vorgestern jedenfalls kam hier bei Ihnen ein Paket für Paul Stanislawski an“, sagte der Einsatzleiter und sah zu einem seiner Männer.

„Vierzehnzehn“, sagte der Mann.

„Bitte?“, fragte Stanislawiski.

„Zehn nach zwei“, sagte der Einsatzleiter.

„Da waren wir bei Kerstin und Andi“, sagte Ruth.

Die Männer vom LKA 4 sahen ihn an.

„Meine Schwester und mein Schwager“, sagte Stanislawski.

„Ehekrise“, sagte Ruth.

„Naja“, sagte Stanislawski.

„Wie würdest du denn das nennen?“, rief Ruth.

„Jedenfalls war niemand hier, als die Post das Paket für Paul aus den Vereinigten Staaten brachte“, sagte der Einsatzleiter. „Rechteckig, rund ein Kilo schwer.“

„Es wurde in Hindsdale aufgegeben“, sagte sein Kamerad. „Hindsdale, California.“

„Ich nehme an, das ist in den Bergen, nördlich von Sacramento“, sagte der Einsatzleiter. Er blähte die Nasenflügel auf. Wie Ruth vorhin.

„Bei einem Routinebesuch auf der Postzentrale in Lichtenberg schlug einer unserer Hunde an“, sagte der Mitarbeiter, es klang triumphierend.

„Gab es denn einen Absender?“, fragte Stanislawski.

Die Einsatzgruppe sah sich an. Stanislawski glaubte, ihre Ratlosigkeit zu spüren. Kein Absender, nix. Es war ihre Achillesferse, und er kannte die. Eine diffuse Gefahr, die sie bedrohte. Er sah auf die Uhr. Es war mitten in der Nacht in Sacramento. Paul schlief. Etwas knisterte im Ohrstöpsel des Einsatzleiters. Stanislawski hatte den Eindruck, in seinem Gesicht die Cannabispolitik der Bundesregierung lesen zu können. Das Für und Wider. Das Pipapo. Die Ampel flackerte in den Zügen des Einsatzleiters. Dann war Ruhe. Der Chef nickte. Er straffte sich. Er räusperte sich.

„Und was ist das?“, fragte er und zeigte auf das längliche Paket auf dem Terrassentisch.

„Ein israelisches Duschbad für Stefan“ sagte Ruth.

„Hat der Osterhase gebracht“, sagte Stanislawski. Er spürte, wie sich seine Nasenflügel blähten. Sie verspotteten sich alle gegenseitig. Er wickelte das Paket aus. Ein Duschbad. Wie versprochen. Dead Sea Minerals, stand auf der Verpackung. Ein Kosmetikprodukt aus dem Salz des Toten Meeres.

Israel“, sagte der Einsatzleiter.

Das Wort klang wie ein letztes, finales Argument für diesen seltsamen Einsatz. Eine Art Bedeutung. Sie verwehte, und die Ruhe war feierlich. Österlich. Osterruhe. Stanislawski dachte an Corona. Die Altkanzlerin. Und an Jerusalem. Ölberg, Grabeskirche, Golgatha.

Der Chef machte auf dem Hacken kehrt. Die anderen folgten. Sie marschierten über den unvertikutierten Rasen von Stanislawski. Sie stiegen in ihre Vans und fuhren ab. Nur die Trümmer von Bernds Drohne zeugten noch von dem Manöver, das hier gerade stattgefunden hatte. Der großen Drogenrazzia in Karlshorst.

Stanislawski strich über die Packung des israelischen Duschbades.

„Jetzt bist du dran“, sagte er zu Ruth und versuchte, nicht zum Rhododendron zu schauen.

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Die große Drogenrazzia in Karlshorst: Eine Ostergeschichte von Alexander Osang

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31.03.2024

Stanislawski lag still im Gras. Seine linke Wange drückte in den Rasen, mit dem rechten, freiliegenden Ohr hörte er das Summen der Treskowallee, das schwere Atmen des Mannes, der auf seiner Hüfte kniete, sowie ein Knacken, das vermutlich aus dem Funkgerät des Mannes stammte.

Stanislawski nahm an, dass es ein Mann war. Er hatte einen Schatten gesehen, auf dem Weg zur Hecke, in der ein längliches, dunkelblaues Päckchen steckte, das Ruth dort für ihn versteckt hatte. Sicher ein Duschbad. Die beiläufige Bewegung, mit der er auf den Rasen gewuchtet und fixiert worden war, deutete auf einen Mann, dachte Stanislawski.

So jedenfalls hätte er sich bei einer Zeugenaussage ausgedrückt. Er hätte auch gesagt, dass der Mann eine Maske trug, weil er sich das so vorstellte. Mit Maske. Stanislawski glaubte allerdings nicht, dass es zu einer Zeugenaussage kommen würde. Die Bewegung des Mannes hatte etwas Zweifelsfreies gehabt, es war die Aktion eines Angreifers gewesen, der sich im Recht wähnte. Ein Angreifer mit Papieren und Auftrag. Ein staatlicher Angreifer. Das würde auch erklären, warum sie nicht miteinander sprachen, obwohl sie so eng beieinander lagen.

Katja Lange-Müller: Der „Jammerossi“ ist eine westdeutsche Erfindung – und sie fußt auf Neid

25.03.2024

Kritik an Unesco-Welterbe wird laut: „Berlin hat den Techno nicht erfunden“

26.03.2024

Stefan Stanislawski also war am Ostersonntag im Garten seines Karlshorster Grundstücks von einem fremden, wahrscheinlich maskierten Mann überwältigt worden, beklagte sich aber nicht. Der Fremde rechtfertigte sich nicht. Sie lagen im Gras, in der Ferne summte die Treskowallee weiter, der Mann atmete und schien den Dingen zu lauschen, die ihm die Stimme eines Vorgesetzten in seinen Ohrknopf befahl. Zumindest kam es Stanislawski so vor. Und es beruhigte ihn. Es gab eine Instanz jenseits dieses Ringkampfes.

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•gestern

29.03.2024

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gestern

Stanislawski fokussierte sein rechtes Auge auf den mittleren der Grashalme, die er von hier aus sehen konnte. Dahinter verschwamm die Landschaft wie in einem Film über Insekten. A Bugs Life. Er würde darauf warten, dass sich etwas in sein Blickfeld bewegte. Eine Ameise. Wenn er Glück hatte, ein Zitronenfalter. Regenwürmer gab es keine mehr. Andererseits hatte es viel geregnet im Winter. Man konnte, so nahm er an, seinen Organismus herunterfahren, eins werden mit der Natur. Die Schwingungen der Karlshorster Erde aufnehmen. Ein Regenwurm werden.

Er dachte an den amerikanischen Spielfilm „The Thin Red Line“, in dem ein amerikanischer Soldat in der ausufernden Natur einer südpazifischen Insel im Zweiten Weltkrieg gezeigt wurde. Die Gräser, das Zirpen, eine Schlange, der Feind irgendwo, unsichtbar, unwichtig auch. Er hatte die Handlung des Filmes vergessen, aber diese beruhigende, universelle Naturstudie nicht. Hier in Karlshorst, am anderen Ende Welt, war wenig später der Krieg beendet worden, auf dem Papier jedenfalls. Sie hatten aus den Trümmern den nahen Tierpark aufgebaut. Bärenzwinger, Brehm-Haus, Dickhäutergehege. In seinem Arbeitszimmer hing ein Foto, das ihn als Kind zeigte, einen der Elefanten fütternd. Seine kleine Hand, der Rüssel des Elefanten. Verblasste Farben aus den 70er-Jahren. Es war eine Aufnahme seines Vaters, der als Fotograf für eine Berliner Illustrierte gearbeitet hatte und seit ein paar Jahren in einem Friedrichshagener Pflegeheim lag, riesige weiße Flecken im Gehirn.

Stanislawskis Mutter hatte die ersten Flecken der gesamten Familie bei einem Weihnachtsessen beschrieben wie ein kosmisches Phänomen, das sie entdeckt hatte. Seltsam erfreut, stolz fast. Sein Vater, ihr Ehemann, hatte lächelnd mit am Tisch gesessen und anschließend gefragt: „Kann ich noch einen Kloß bekommen, Heidrun?“

Stanislawskis Mutter hatte den Kopf geschüttelt und war zwei Monate später gestorben. Wie aus Trotz.

Er fühlte sich plötzlich sehr alleingelassen, hier im Gras, mit all seinen Fragen. Sie hatten ihm den Nachnamen eines berühmten sowjetischen Regisseurs vererbt und den Vornamen Stefan. Keine Erklärungen.

Er roch in den Frühlingsboden. Er dachte ans Vertikutieren, von dem er gerade irgendwo gelesen hatte, dass es Unsinn war. Zehn Jahre hatte er den Boden unter seiner Wiese aufgelockert, mit Sauerstoff versorgt, wie es hieß, er hatte bereits zwei Vertikutierer verschlissen, und jetzt erklärten sie: alles umsonst.

Stanislawski dachte, dass er – sollte er das hier überleben – weiter vertikutieren würde. Er hatte die Technik und wusste inzwischen, dass man nur auf die nächste Studie warten musste, die das Gegenteil behauptete. So war es mit allem. Kriege,........

© Berliner Zeitung


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