Max Friedemann starrte auf die tanzenden Zahlen an der Kabinendecke des ICE. 178. 176. 177. 178. Sie fuhren jetzt mit 178 Stundenkilometern Richtung Dresden. Sie flogen in die Arme seiner Schwiegereltern. Das ging ihm alles zu schnell. Zwei Stunden sollte die Fahrt von Berlin nach Dresden dauern.

Die Hälfte war bereits rum. Der ICE hieß „Elbflorenz“, seine Schwiegereltern Karin und Reiner. Fahrstuhl zum Schafott, dachte Friedemann. Er hatte den Film nie gesehen, aber er fühlte ihn. Draußen war alles schwarz, in seinem Kopf spielte Miles Davis Trompete.

Leer, ruhig, paradiesisch: Warum ich in Berlin alleine Weihnachten feiere – und es liebe

•gestern

Schneller als ein Kampfjet: Weihnachtsmann entflieht Ortung der US-Luftwaffe

•gestern

Friedemann sah in der spiegelnden Scheibe Paula, in die Kopfstütze gelehnt. Sie hörte einen Psychologie-Podcast, glaubte er. Und obwohl er es nicht genau wusste, fühlte er sich bedroht. Er hatte das Gefühl, sie redeten über ihn. In den kleinen weißen Kopfhörern in Paulas Ohren wurde sein Geisteszustand diskutiert. Ein Gedanke, der nicht auszusprechen war, weil er damit sofort zehn Punkte auf der Narzissten-Skala verdienen würde. Du denkst immer, die Welt dreht sich um dich, Max, was? Ja, das stimmte wohl. Schon wieder. 168. 170. 171.

22.12.2023

23.12.2023

23.12.2023

•vor 55 Min.

gestern

„Frohe Weihnachten, liebe Fahrgäste. Ich möchte Sie noch mal auf unser gastronomisches Angebot hinweisen“, rief die Stimme aus dem Lautsprecher. „Unser Bordbistro befindet sich in Wagen vier. Wir bieten Ihnen heute unsere Christmas-Sandwiches mit Gänsebrust an, dazu ein frisch gezapftes Bier. Nächster planmäßiger Halt ist Doberlug-Kirchhain.“

Doberlug-Kirchhain und Christmas-Sandwich in einem Atemzug, dachte Friedemann. Das schaffte nur die Deutsche Bahn. 174. 175. 177. Friedemann sah auf die Uhr. Er hatte noch eine Stunde. Er würde sich ein Bier zapfen lassen. Das würde ihn sanfter machen, wenn er seinen Schwiegereltern Karin und Reiner gegenübertrat, die sicher schon auf dem Dresdener Hauptbahnhof warteten. Zwei Glockenmäntel. Na da seid ihr ja endlich. Reiners Rasierwasser – Fahrenheit von Dior – hatte Friedemann jetzt schon in der Nase. Reiner badete in dem Fusel. Man roch tagelang selbst danach, eine Zeitreise in die frühen 90er. Duft, nannte Reiner das. Herrenduft von Dior. Wie er Dior aussprach. Dioooar. Die Flasche des Parfüms – der Flackong, wie Reiner sagen würde – hatte die Form seines Glockenmantels und die Farbe seines Gesichts. Ein Herrenduft namens Reiner.

Friedemann stand auf, Paula sah ihn abwesend an, in Gedanken bei der Traumdeutung, der Abwehr, der Manie oder der Sucht. Frisch gezapftes Bier. Nachmittags um halb vier. Sie analysierten ihn, der Psychologenstammtisch im Kopf seiner Frau nahm ihn auseinander. Der Patient hat nie eine angemessene Strategie entwickelt, seinen Stress zu bewältigen. Er nickte in Richtung Bordrestaurant. Paula sah durch ihn hindurch.

Wenn sie nach Dresden fuhren, veränderte sich das Wesen seiner Frau, dachte Friedemann. Sie trieb von ihm weg hin zu ihrer Sippe. Sie trat ins Glied, sie verwandelte sich der Familie Heidler an. Die Heidlers aus Loschwitz. Heute Morgen in Berlin hatte sie ihn gemustert, als sei er in Dresden so nicht vorzeigbar. In dieser Form ihrer Familie nicht zumutbar. Dann hatte sie gesagt: „Du hast so schöne Hemden, Max.“ Als er eines seiner Hemden angezogen hatte, wollte sie, dass er auch die Hose wechselte. Für Reiner, einen Loschwitzer Wasserbauingenieur im Ruhestand.

Karin und Reiner bewohnten zweieinhalb Zimmer im Obergeschoss eines Einfamilienhauses aus den 30er-Jahren, zur Miete. Sie waren ein sächsisches Rentnerpaar mit Zwiebelmuster-Service von Kahla in der „Anrichte“ und der kompletten Zola-Ausgabe des ostdeutschen Verlages Rütten & Loening im Bücherregal, komplett ungelesen auch. Paula aber gab ihm zunehmend das Gefühl, in eine adelige Familie eingeheiratet zu haben. Diooaaar. Es war Dresden, diese bescheuerte Residenzstadt. Der Fürstenzug. Stille Nacht in der Frauenkirche. Peter Schreier, Theo Adam, die Semperoper. Der Striezelmarkt, seit 1434. Die Glocken der Kreuzkirche. Als hätten sie Weihnachten erfunden, diese Kaffeesachsen. Seit 50 Jahren kauften die Heidlers ihre Stollen bei der Bäckerei Werner, die ganze Familie pilgerte da hin wie die Weisen aus dem Morgenland in den Stall zu Bethlehem.

Wie immer, Herr Heidler?

Wie immer, Frau Werner.

Reiner schnitt den Christstollen in seinem Wohnzimmer an, als taufe er eine Weltraumfähre.

Und natürlich Dynamo Dresden. Er sah schon die aufgeblasenen Nasenflügel der Dior-Glocke Reiner Heidler. Einsnull gegen Bielefeld. Dynamo würde auf einem Aufstiegsplatz überwintern. In der Regionalliga. Friedemann war sich sicher, dass Reiner „überwintern“ sagen würde. Er war über drei Ecken mit dem ehemaligen Dynamo-Stürmer Gert Heidler verwandt, behauptete Reiner gern. Die große Mannschaft der 70er-Jahre. Der Dresdner Kreisel. „Der Gert hat ja damals im Viertelfinale des Uefa-Cups gegen Liverpool gespielt“, war der Satz, den sein Schwiegervater in Friedemanns Gegenwart am häufigsten ausgesprochen hatte. Immer gefolgt von einer kleinen Pause und dann einem gehauchten, gut abgeschmeckten: „Anfield Road.“

Liwwwerpuuhl. Juhlnewwwrwalllkaloooohn.

Früher hatte er mit Paula über diesen Zirkus lachen können, inzwischen nicht mehr. Man wurde immer reaktionärer im Alter, dachte Friedemann. Wahrscheinlich klang er selbst wie Eckensteher Nante, wenn er seine Mutter in Mahlsdorf besuchte. Er besaß eine Waschtasche des 1. FC Union und verpasste kein Weihnachtssingen in der Alten Försterei.

Ein Bier würde ihn besänftigen. Taking the edge off. Von ihm aus ein Radeberger.

Als er die Mitte des Wagens sechs erreichte, bremste der Zug, die roten Zahlen an der Kabinendecke liefen rückwärts. Max Friedemann legte sich in die Fliehkraft wie eine Möwe in den Wind, er surfte im Mittelgang des sechsten Wagens vom ICE „Elbflorenz“. Mit nachlassendem Druck kippte Friedemann in seine Ausgangsposition zurück. Die Anzeige stoppte bei 0 km/h.

Es befanden sich nicht viele Passagiere im Zug, es war später Nachmittag am Heiligabend. Friedemann wartete auf eine Durchsage, aber es kam nichts. Es knisterte in den Lautsprechern, die Stimme des Mannes, der ihn gerade ins Bordbistro eingeladen hatte, erklärte nun: „Ich müsste Ihnen jetzt mitteilen, was passiert ist. Irgendwelche Gründe aufzählen. Sie warten ja drauf. Oberleitungsschaden. Arzteinsatz. Ein Zug vor uns. Ein Baum auf der Strecke. Ein Pferd. Eine Kuh. Gleisbauarbeiten. Der russische Angriffskrieg. Long Covid. Pipapo.“

Friedemann stand gebannt im Gang. Was für ein Ton. Neben ihm, im Abteil mit dem Tisch, saß eine junge Frau, die einen Laptop vor sich aufgebaut hatte. Sie sah zur Decke, von wo die Stimme kam.

„Ich habe hier eine Liste mit Dingen, die ich Ihnen als Entschuldigung aufzählen kann, aber an Weihnachten sagt man die Wahrheit. Wissen Sie ja.“ „Love Actually“, sagte die Frau. Friedemann lächelte, nickte. Er dachte an den Mann vor Keira Knightleys Tür, der ihr auf Pappschildern seine Liebe gesteht: Für mich bist du perfekt.

„Also, ich habe auch keine Ahnung“, erklärte der Bahnbegleiter. „Ich geh’ gleich mal vor zum Zugführer, frage den und sage Ihnen dann Bescheid. Bis dahin ein bisschen Musik vom guten alten Electric Light Orchestra. Last Train To London.“ Die Streicher begannen, und dann sang Jeff Lynne.

It was one of those nights

One of those nights when you feel the world stop turning

You were standing there

There was music in the air

I should have been away

But I knew I had to stay

Der Ostdeutsche: Jetzt spricht er nicht nur Russisch, jetzt ist er auch noch wütend

02.10.2023

Kathrin Angerer über Wolfgang Harich: Er wollte die Stasi abschaffen, nicht die DDR

09.12.2023

Die junge Frau zuckte fragend mit den Achseln. „E.L.O“, sagte Friedemann. „Vor Ihrer Zeit wahrscheinlich.“ Sie lächelte. „Eigentlich sogar vor meiner“, sagte er. Dann fiel ihm ein, dass in „Love Actually“ die Bay City Rollers sangen. Und Joni Mitchell. Und die Beach Boys.

But I really want tonight to last forever

„So“, sagte der Ansager am Ende des Liedes. „Es gibt Neuigkeiten. Interessante Neuigkeiten.“ Er räusperte sich. „Wir fahren jetzt bis Doberlug-Kirchhain vor. Das dauert so fünf Minuten. Dort wird unser Zug seine Richtung ändern. Wohin, weiß ich auch nicht. Auf jeden Fall fahren wir nicht nach Dresden. Wer unbedingt dort hin will, muss jetzt aussteigen und auf den nächsten Zug warten. Dauert nicht lange. Versprochen“, sagte der Mann von der Bahn und kicherte kurz. „Ehrenwort. Sie wissen schon. Kaufen Sie sich auf unsere Kosten einen Glühwein“, sagte er. Der Zug rollte an. Die roten Zahlen kletterten wieder, aber nur langsam.

„Wie gesagt, Sie haben fünf Minuten, um sich zu entscheiden, wohin Ihre Reise geht. Ich muss auch erst mal überlegen, was ich eigentlich mache. Frohe Weihnachten“, sagte der Mann im Bahnradio. „Was war das denn?“, fragte die junge Frau.

„Die Bahn“, sagte Friedemann, der an Julklapp dachte, an Udo Jürgens und auch an eine Stelle aus einem amerikanischen Roman, den er mal gelesen hatte. Ein Grubenarbeiter geht ins Freie, um zu pinkeln. Da stürzt seine Grube ein und begräbt alle Kollegen. Er schließt die Hose, steigt in sein Auto, fährt ans andere Ende des Landes und beginnt ein neues Leben, während seine Familie im alten um ihn trauert.

Die junge Frau packte ihre Sachen ein und zog sich den Mantel an. Friedemann hätte jetzt zurückgehen müssen, um mit Paula auszusteigen, die sicher bereits bei ihren Eltern angerufen hatte, um mitzuteilen, dass es später wird. Reiner würde den Untergang Deutschlands beklagen. Vor hundert Jahren kamen die Züge aus Berlin schneller nach Dresden als heute. Das erzählte er gern, der Großcousin vom Heidler, Gert. Früher war alles besser. Im Bordfunk lief Stefan Diestelmanns „Reichsbahnblues“, eine Platte, die Friedemanns Vater manchmal gehört hatte.

Er nickte der jungen Frau zu. Sie sah ihn ratlos an. „Ich werd’ mal. Ich war auf dem Weg ins Bordbistro“, sagte er. „Zapfbier.“ „Ich muss doch aber nach Dresden“, sagte sie. „Ich auch“, sagte Friedemann. „Aber wissen Sie was?“ Die Frau sah ihn erwartungsvoll an. „Man muss gar nichts.“

Es ging eine wahnsinnige Kraft von diesem Satz aus, dachte Friedemann, während er weiterlief, Richtung Wagen vier, wo sich das Bordbistro befand. Sie müssen gar nichts, Herr Friedemann! Fragen Sie sich lieber, was Sie wollen. Im Übergang zwischen Wagen fünf und Wagen sechs guckte er aus dem Fenster. Der Zug hielt in Doberlug-Kirchhain.

Der Bahnhof war nur matt beleuchtet. Es sah nicht so aus, als würde man hier Glühwein kriegen. Aber der nächste Zug nach Dresden würde schon in zwanzig Minuten kommen. Das stand auf der Anzeigetafel, die er sehen konnte. Ein paar Reisende betraten den Bahnhof. Paula, die aus Wagen acht treten musste, konnte er von hier aus nicht sehen. Aber sie hatte alles, was sie brauchte, dachte Friedemann. Er gehörte nicht dazu. Er fühlte nach seiner Brieftasche, sie war da. Er zog sich vom Fenster zurück, für den Fall, dass Paula ihn suchen sollte. Er wollte keine Erklärungen abgeben, er hatte auch gar keine. Außer der, dass Reiner und Karin ja nicht auf ihn warteten. Er könnte eine Zeile aus „Last Train To London“ singen.

I should have been away

But I knew I had to stay

Auch das ein Fall für die Psychologenrunde in ihrem Ohr. Er betrat einen Popsong. Eskapismus. Klassisches Vermeidungsverhalten. Patient Max neigt dazu, der Realität aus dem Weg zu gehen.

Susan Neiman: „Es ist falsch, alles nur im Licht deutscher Schuld zu betrachten“

26.11.2023

Ulrich Khuon: Was ist das Problem, wenn ich den BDS-Beschluss für wenig hilfreich halte?

13.12.2023

Dann fuhr der Zug ab. Ins Ungewisse. Friedemann begann sich zu entspannen. Wie immer, wenn die Dinge unscharf wurden. Es fährt ein Zug nach Nirgendwo, den es noch gestern gar nicht gab. Christian Anders. Der Philosoph unter den deutschen Schlagersängern.

Die Abteile, die Max Friedemann durchquerte, waren verlassen, der Zug fuhr zunächst gemächlich, dann aber immer schneller, als taste er sich an seine neue Route heran. Im Bistro stand ein Paar in seinem Alter, vielleicht ein bisschen jünger. Sie tranken Sekt. Auf dem Tresen lehnte ein Mann in Bahnuniform, das Hemd relativ weit aufgeknöpft. Er lächelte Friedemann an.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte er. Es war die Stimme des Ansagers. „Ich nehm das Bier. Aus dem Weihnachts-Special“, sagte Friedemann. „Frisch gezapft?“, fragte der Kellner und zwinkerte. Friedemann nickte, im Bordradio lief „Nowhere Man“ von den Beatles.

He’s a real nowhere man

Doesn’t have a point of view

Knows not where he’s going to

Seine Hymne. Schon wieder. Sie drehten den Film seines Lebens. Friedemanns Fiebertraum. Er spürte Tränen aufsteigen. Kleiner narzisstischer Anfall. Die Zahlen an der Kabinendecke näherten sich der 300. Vor den Fenstern die schwarze, heilige Nacht. Dem Paar sah man an, dass es sich gerade erst kennengelernt hatte. Keine Handys, keine Kopfhörer. Sie hingen einander an den Lippen.

„Wissen Sie schon, wo die Reise hingeht?“, fragte Friedemann den Barmann. „In etwa?“ „Taner ist Türke“, sagte der Mann. „Taner?“, fragte Friedemann. „Der Lokführer. Unser Captain. Taner Yilmaz.“ „Orientexpress dann“, sagte Friedemann und fragte sich sofort, ob das so okay war. Aber der Bahnmann lächelte freundlich. „Wo endet der?“, fragte Friedemann. „Istanbul?“ „Konstantinopel“, sagte der Kellner und nickte. „Aber die Strecke gibts ja schon lange nicht mehr.“

„Außerdem fahren wir nicht nach Osten“, sagte der Mann, der neben der Frau stand. Er hatte ganz schwarze Augen. „Woher wissen Sie denn das?“, fragte Friedemann. „Fühle ich. Weil ich aus dem Osten komme“, sagte der Mann. Ein ganz leichter Akzent war da zu hören. Im Piratenradio lief „Stairway to Heaven“ von Led Zeppelin.

There’s a feeling I get when I look to the West

And my spirit is crying for leaving

Ein griechischer Chor kommentierte alles, was er tat und dachte. Der Soundtrack seines Lebens. Friedemanns Favoriten. Die Anzeige zitterte sich in Richtung 400, es war unmöglich, bei dieser Geschwindigkeit die Bahnhofsschilder zu lesen, an denen sie vorüberflogen. Es wirkte aber nicht mehr wie Deutschland dort draußen, dachte Friedemann. Vielleicht lag es am Tempo.

Michael Wolffsohn: Psychologisch ist der Terror der Hamas nachvollziehbar, politisch töricht

13.10.2023

Omer Bartov: „Netanjahu hat den Wind gesät, den Israel nun als Sturm ernten musste“

13.10.2023

„Taner heißt Morgendämmerung, hat mir der Lokführer gesagt. Mehr weiß ich auch nicht“, sagte der Barmann. „Noch ein Bier?“ Friedemann nickte. Frisch gezapftes Weihnachtsbierchen. Vielleicht würde er später das Christmas-Sandwich probieren. „Wo aus dem Osten kommen Sie denn her?“, fragte er den Mann mit den schwarzen Augen. Der sah ihn nachdenklich an, beobachtet von der Frau an seiner Seite. „Ich komme nämlich auch aus dem Osten“, sagte Friedemann. „Aus Mahlsdorf.“ Der Mann grinste, er nahm die Frau in den Arm. Sie schmiegte sich an ihn wie eine Katze.

„Mahlsdorf?“, sagte der Mann, nur das eine Wort. Friedemanns gesamte Ostbiografie schien zu Staub zu zerfallen. Die Frau schnurrte. „Ich bin aus Belgrad“, sagte der Schwarzäugige. Er erzählte, dass er als Junge mit seiner Mutter vorm Krieg geflüchtet war, er war in München groß geworden. Er hatte die Tennis-Akademie von Niki Pilic besucht, zusammen mit Novak Djokovic.

„Der Joker“, warf Friedemann ein. Das war alles, was er in den nächsten zehn Minuten sagte, während der Mann von seiner Tenniskarriere erzählte, die ihn um die Welt geführt hatte, aber nie in die Top 100. Er hatte mal die zweite Runde der Australian Open erreicht, als Junior. Mehr nicht. Er konnte dieses Leben nicht führen, das Novak führte, sagte er. Keinen Alkohol, kein Gluten, kein Zucker. Nix für ihn. Er nickte dem Barmann zu, der zwei neue Piccolos entkorkte. Piccolöchen.

„Die einzige Reise, die man als Nummer eins der Welt antreten kann, geht abwärts“, sagte der Mann mit den schwarzen Augen. Er war tiefsinniger als Christian Anders, dachte Friedemann. Der Mann zündete sich eine Zigarette an, als sei er ein Chansonnier. Der Bahnbeamte zog einen Aschenbecher unter seiner Theke hervor, auf dem Mitropa stand. Friedemann dachte an das Zwiebelmuster-Geschirr seiner Schwiegereltern. Karin schenkte bestimmt gerade ein. Bohnenkaffee. Stollenanschnitt. Niemand würde ihn vermissen. Alles, was von ihm übrig blieb, war ein seltsames, fades Gefühl. Ein leerer Stuhl. Eine Beule im Polster. Der Mann, der nicht vom Bierholen zurückkehrte.

Der tödlichste See von Berlin: Warum ertrinken im Weißen See so viele Menschen?

19.08.2023

Berliner Tierheim: „Die wollten gar keinen Hund an mich vermitteln“

23.09.2023

„Peace Train“ von Cat Stevens. „Locomotive Breath“ von Jethro Tull, „Trans Europa Express“ von Kraftwerk. Drittes Bier. Viertes Bier. Fünftes Bier. Frisch gezapft. Friedemann schlauchte eine Zigarette vom serbischen Fahrgast. Sein Name war Radan. Seine Freundin hieß Katja und kam aus Spandau. Friedemann war ein bisschen schwindlig, er hatte seit zwanzig Jahren nicht geraucht. Die Zahlen an der Kabinendecke verschwammen. Es sah aus, als würden sie 480 fahren, aber das konnte er sich nicht vorstellen. Friedemann dachte an den Polarexpress, der durch Seen fuhr, rein und wieder raus, und der ein Gefälle von 99,9 Prozent überstand. Er dachte an den Hogwarts-Express, der am Gleis Neundreiviertel abfuhr, in King’s Cross, London.

„Glauben Sie, ich könnte mal mit dem Lokführer reden?“, fragte Friedemann. „Mit Taner.“ „Worüber denn?“, fragte der Barkeeper. Friedemann konnte es nicht sagen. Er konnte es nicht aussprechen. Er wollte natürlich wissen, wo der Zug hinfuhr. Er wollte wissen, ob man dem Zugführer trauen konnte. Er wollte die Kontrolle nicht abgeben. Dieser Zug, dachte er, war nur ein Experiment der Psychologenrunde, die in Paulas Kopf über ihn beriet. Eine Versuchsanordnung. Das Gleisarbeiter-Dilemma, Herr Friedemann. Ein Zug rollt unkontrolliert auf fünf Gleisarbeiter zu. Sie können eine Weiche umstellen zu einem Gleis, auf dem nur ein Gleisarbeiter steht. Fünf oder eins. Können Sie das entscheiden? Fühlen Sie es?

Alle sahen ihn an. Die schwarzen Augen von Radan machten ihn fertig. Friedemann zuckte mit den Achseln. Im Bordradio lief „Mystery Train“ von Elvis. Die vier an der Kabinendecke verwandelte sich in eine fünf. Die Tür zum Bordrestaurant öffnete sich, und die junge Frau erschien, mit der er vorhin im Kabinengang über „Love Actually“ geredet hatte. Zu Weihnachten sagt man die Wahrheit.

„Ich dachte, Sie sind in Doberlug-Kirchhain ausgestiegen“, sagte Friedemann. „War ich auch schon“, sagte sie. „Aber da stand dieser Zug wie ein Versprechen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, er lässt mich zurück. Versteht ihr das?“ Friedemann nickte. Deswegen sind wir hier. Sie stellte ihren Rucksack ab. „Was kann ich für dich tun?“, fragte der Barmann.

Elvis sang: Train, train, comin’ ’round the bend.

Well, it took my baby

But it never will again.

Katja schmiegte sich noch enger an Radan, wenn das überhaupt möglich war. „Einen Rotwein“, sagte die junge Frau. „Einen Primitivo? Einen Malbec? Tempranillo? Spätburgunder? Zinfandel? Bordeaux?“, fragte der Mitropa-Mann. Alle sahen ihn überrascht an. Er zuckte mit den Schultern. „Unterschätzt die Bahn nicht“, sagte er. „Was habt ihr denn für Tempranillo?“, fragte Radan. „Einen 2019er Rioja Crianza“, sagte der Barmann. „Nimm den“, sagte Radan.

Die junge Frau nickte, lächelte. Der Barmann verschwand kurz in seinem Kabuff und kam mit einer Rotweinflasche zurück, entkorkte sie, roch am Korken, goss ein Glas ein, schwenkte es und reichte es der jungen Frau. „Ich nehm auch eins“, sagte Friedemann. Er prostete ihr zu. „Max“, sagte er. „Isa“, sagte sie.

„Ich bin kein Gaddafi“: Was Issa Remmo am Zaun der Clan-Villa in Alt-Buckow zu sagen hat

17.12.2023

Crack und Kokain in Berlin – unterwegs mit zwei Junkies in der Berliner Drogenszene

24.10.2023

Sie erinnerte ihn an jemanden, aber Friedemann wusste nicht an wen. Zum zweiten Glas baute sie sich einen Joint. Sie sah ihn an. Er hatte ewig nicht mehr Gras geraucht, nickte aber. Sie gab ihm den Joint, zündete ihn an. Im Radio lief „The Night They Drove Old Dixie Down“ in der Fassung von Joan Baez. Max Friedemann dachte noch, dass das gut passte, alles. Und als er wach wurde, war es hell. Es war ein ganz anderes Licht, ein südliches Winterlicht, aber Joan Baez sang immer noch.

„Algeciras“, sagte der Barmann. Sie waren allein im Abteil. „Wo sind denn alle?“, fragte Friedemann. „Draußen“, sagte der Barmann. „Wollen wir?“ Er machte die Musik aus. Sie verließen den Zug. Es war warm, nicht heiß, aber doch angenehm warm. Auf dem Bahnsteig stand ein großer Mann in einer Bahneruniform und sah zu ihnen herüber. „Wenn du immer noch eine Frage an den Lokführer hast, Max. Das ist Taner“, sagte der Barmann.

„Guten Morgen“, sagte Taner. Er hatte eine tiefe Stimme. „Morgen“, sagte Friedemann. „Sind wir da?“ „Ich erkundige mich mal, wann die Fähre geht“, sagte der Lokführer. „Wohin denn?“, fragte Friedemann. „Na, nach Tanger“, sagte Taner. „Wir fahren nach Marrakesch. Hat dir niemand Bescheid gesagt?“ „Habe ich wahrscheinlich verschlafen“, sagte Friedemann. Taner sah zum Horizont, wo ein Leuchtturm im Morgenlicht stand. „Gibraltar“, sagte er.

Friedemann folgte seinem Blick. Dabei sah er, wie am anderen Ende des Bahnsteiges eine Frau aus dem Zug stieg. Der Bahnsteig war ansonsten völlig leer. Die Frau sah zu ihnen herüber. Er dachte erst, dass es Isa war. Aber dann erkannte er: Es war Paula. Seine Frau hatte ihre Reisetasche in der Hand und seinen Mantel überm Arm. Sie lächelte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal so glücklich war. Sie liefen aufeinander zu. Friedemann rannte fast.

Und dann standen sie am Meer und sahen nach Afrika. Friedemann hob einen flachen Stein auf und ließ ihn über das Wasser schnippen. Achtmal hüpfte er. Er nahm sich noch einen Stein, einen silbrigen Stein, durch dessen Mitte eine weiße Linie lief. Er war sehr flach und schön, er war perfekt. Bevor er ihn warf, sah er seine Frau an. „Marrakesch, Max?“, fragte Paula und lächelte. Er nickte. Er fragte sich, ob eigentlich immer noch Weihnachten war. Die Antwort sangen Yoko und John. Happy Xmas. War is over.

Max Friedemann wurde in Paulas ehemaligem Kinderzimmer in Loschwitz wach. Er lag allein im Bett, es war grau draußen, fast noch dunkel. Es roch nicht nach Meer, es roch nach Fahrenheit von Dior, aber es sangen immer noch Yoko und John. Von draußen, aus der Wohnküche der Familie Heidler. Friedemann wäre so gern in seinen Traum zurückgekehrt.

„Das war die Weihnachtsbotschaft von John Lennon und Yoko Ono. Es ist zehn vor neun, sie hören Sachsen Radio“, sagte der Moderator. „Der Krieg ist vorbei, Papa“, sagte Paula aus der Küche. „Glaubste ja wohl selber nicht“, sagte Reiner Heidler. „Mir würde reichen, wenn dein Göttergatte mal langsam aus der Kiste steigt.“ „Lass Max in Ruhe“, sagte Paula, erstaunlich entschieden.

Friedemann seufzte und zog die Sachen an, die ihm seine Frau gestern ans Herz gelegt hatte, damit er in Loschwitz nicht unangenehm auffiel. Als er die blaue Cordhose nahm, fiel etwas heraus. Es war ein Stein. Ein flacher silbriger Stein, durch den eine weiße Linie lief. Er war perfekt.

QOSHE - Irre Reise mit der Deutschen Bahn nach Dresden: Alles nur ein Traum? - Alexander Osang
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Irre Reise mit der Deutschen Bahn nach Dresden: Alles nur ein Traum?

32 1
25.12.2023

Max Friedemann starrte auf die tanzenden Zahlen an der Kabinendecke des ICE. 178. 176. 177. 178. Sie fuhren jetzt mit 178 Stundenkilometern Richtung Dresden. Sie flogen in die Arme seiner Schwiegereltern. Das ging ihm alles zu schnell. Zwei Stunden sollte die Fahrt von Berlin nach Dresden dauern.

Die Hälfte war bereits rum. Der ICE hieß „Elbflorenz“, seine Schwiegereltern Karin und Reiner. Fahrstuhl zum Schafott, dachte Friedemann. Er hatte den Film nie gesehen, aber er fühlte ihn. Draußen war alles schwarz, in seinem Kopf spielte Miles Davis Trompete.

Leer, ruhig, paradiesisch: Warum ich in Berlin alleine Weihnachten feiere – und es liebe

•gestern

Schneller als ein Kampfjet: Weihnachtsmann entflieht Ortung der US-Luftwaffe

•gestern

Friedemann sah in der spiegelnden Scheibe Paula, in die Kopfstütze gelehnt. Sie hörte einen Psychologie-Podcast, glaubte er. Und obwohl er es nicht genau wusste, fühlte er sich bedroht. Er hatte das Gefühl, sie redeten über ihn. In den kleinen weißen Kopfhörern in Paulas Ohren wurde sein Geisteszustand diskutiert. Ein Gedanke, der nicht auszusprechen war, weil er damit sofort zehn Punkte auf der Narzissten-Skala verdienen würde. Du denkst immer, die Welt dreht sich um dich, Max, was? Ja, das stimmte wohl. Schon wieder. 168. 170. 171.

22.12.2023

23.12.2023

23.12.2023

•vor 55 Min.

gestern

„Frohe Weihnachten, liebe Fahrgäste. Ich möchte Sie noch mal auf unser gastronomisches Angebot hinweisen“, rief die Stimme aus dem Lautsprecher. „Unser Bordbistro befindet sich in Wagen vier. Wir bieten Ihnen heute unsere Christmas-Sandwiches mit Gänsebrust an, dazu ein frisch gezapftes Bier. Nächster planmäßiger Halt ist Doberlug-Kirchhain.“

Doberlug-Kirchhain und Christmas-Sandwich in einem Atemzug, dachte Friedemann. Das schaffte nur die Deutsche Bahn. 174. 175. 177. Friedemann sah auf die Uhr. Er hatte noch eine Stunde. Er würde sich ein Bier zapfen lassen. Das würde ihn sanfter machen, wenn er seinen Schwiegereltern Karin und Reiner gegenübertrat, die sicher schon auf dem Dresdener Hauptbahnhof warteten. Zwei Glockenmäntel. Na da seid ihr ja endlich. Reiners Rasierwasser – Fahrenheit von Dior – hatte Friedemann jetzt schon in der Nase. Reiner badete in dem Fusel. Man roch tagelang selbst danach, eine Zeitreise in die frühen 90er. Duft, nannte Reiner das. Herrenduft von Dior. Wie er Dior aussprach. Dioooar. Die Flasche des Parfüms – der Flackong, wie Reiner sagen würde – hatte die Form seines Glockenmantels und die Farbe seines Gesichts. Ein Herrenduft namens Reiner.

Friedemann stand auf, Paula sah ihn abwesend an, in Gedanken bei der Traumdeutung, der Abwehr, der Manie oder der Sucht. Frisch gezapftes Bier. Nachmittags um halb vier. Sie analysierten ihn, der Psychologenstammtisch im Kopf seiner Frau nahm ihn auseinander. Der Patient hat nie eine angemessene Strategie entwickelt, seinen Stress zu bewältigen. Er nickte in Richtung Bordrestaurant. Paula sah durch ihn hindurch.

Wenn sie nach Dresden fuhren, veränderte sich das Wesen seiner Frau, dachte Friedemann. Sie trieb von ihm weg hin zu ihrer Sippe. Sie trat ins Glied, sie verwandelte sich der Familie Heidler an. Die Heidlers aus Loschwitz. Heute Morgen in Berlin hatte sie ihn gemustert, als sei er in Dresden so nicht vorzeigbar. In dieser Form ihrer Familie nicht zumutbar. Dann hatte sie gesagt: „Du hast so schöne Hemden, Max.“ Als er eines seiner Hemden angezogen hatte, wollte sie, dass er auch die Hose wechselte. Für Reiner, einen Loschwitzer Wasserbauingenieur im Ruhestand.

Karin und Reiner bewohnten zweieinhalb Zimmer im Obergeschoss eines Einfamilienhauses aus den 30er-Jahren, zur Miete. Sie waren ein sächsisches Rentnerpaar mit Zwiebelmuster-Service von Kahla in der „Anrichte“ und der kompletten Zola-Ausgabe des ostdeutschen Verlages Rütten & Loening im Bücherregal, komplett ungelesen auch. Paula aber gab ihm zunehmend das Gefühl, in eine adelige Familie eingeheiratet zu haben. Diooaaar. Es war Dresden, diese bescheuerte Residenzstadt. Der Fürstenzug. Stille Nacht in der Frauenkirche. Peter Schreier, Theo Adam, die Semperoper. Der Striezelmarkt, seit 1434. Die Glocken der Kreuzkirche. Als hätten sie Weihnachten erfunden, diese Kaffeesachsen. Seit 50 Jahren kauften die Heidlers ihre Stollen bei der Bäckerei Werner, die ganze Familie pilgerte da hin wie die Weisen aus dem Morgenland in den Stall zu Bethlehem.

Wie immer, Herr Heidler?

Wie immer, Frau Werner.

Reiner schnitt den Christstollen in seinem Wohnzimmer an, als taufe er eine Weltraumfähre.

Und natürlich Dynamo Dresden. Er sah schon die aufgeblasenen Nasenflügel der Dior-Glocke Reiner Heidler. Einsnull gegen Bielefeld. Dynamo würde auf einem Aufstiegsplatz überwintern. In der Regionalliga. Friedemann war sich sicher, dass Reiner „überwintern“ sagen würde. Er war über drei Ecken mit dem ehemaligen Dynamo-Stürmer Gert Heidler verwandt, behauptete Reiner gern. Die große Mannschaft der 70er-Jahre. Der Dresdner Kreisel. „Der Gert hat ja damals im Viertelfinale des Uefa-Cups gegen Liverpool gespielt“, war der Satz, den sein Schwiegervater in Friedemanns Gegenwart am häufigsten ausgesprochen hatte. Immer gefolgt von einer kleinen Pause und dann einem gehauchten, gut abgeschmeckten: „Anfield Road.“

Liwwwerpuuhl. Juhlnewwwrwalllkaloooohn.

Früher hatte er mit Paula über diesen Zirkus lachen können, inzwischen nicht mehr. Man wurde immer reaktionärer im Alter, dachte Friedemann. Wahrscheinlich klang er selbst wie Eckensteher Nante, wenn er seine Mutter in Mahlsdorf besuchte. Er besaß eine Waschtasche des 1. FC Union und verpasste kein Weihnachtssingen in der Alten Försterei.

Ein Bier würde ihn besänftigen. Taking the edge off. Von ihm aus ein Radeberger.

Als er die Mitte des Wagens sechs erreichte, bremste der Zug, die roten Zahlen an der Kabinendecke liefen rückwärts. Max Friedemann legte sich in die Fliehkraft wie eine Möwe in den Wind, er........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play