Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein, und Fußballgötter sind auch nur irdisch. Und dies nicht einmal so selten. Zuletzt sogar immer häufiger. Tendenz steigend. Davor, das erfährt der 1. FC Union Berlin in diesen Tagen auf ernüchternde Weise, ist nicht einmal ein Verein gefeit, der 2019 mit dem Fan-Slogan „Scheiße, wir steigen auf!“ in die Erstklassigkeit kam, dort seitdem die Fraktion der Romantiker auf eindrucksvolle Weise stärkt, sich gern gegen die – gern wird von Gesetzen gesprochen – Mechanismen des Geschäfts stemmt, sich ihnen dennoch immer wieder beugen muss. Wie erst jetzt wieder im Fall ihres Stürmers Kevin Behrens, seit Mittwochabend ein Ex-Stürmer.

Natürlich ist das Stadion An der Alten Försterei nicht der Olymp, und wer auch immer dort arbeitet, ob Trainer, Manager, Präsident oder Spieler, nicht Zeus. Selbst wenn sich das im Herzen mancher Anhänger so darstellen mag. Immer öfter nämlich steigt jemand herab, gibt seinen Götterstatus freiwillig ab (mancher, so ist zu befürchten, pfeift sogar darauf) und dient, oft ohne größere Skrupel, ab sofort einem anderen Gott. Oder er schwört auf ... Es hat ebenso vier Buchstaben, fängt auch mit G an, endet aber auf d.

Als „eine sehr schwierige Entscheidung“ bezeichnet Manager Oliver Ruhnert es, dem Wechselwunsch seines Spielers nachgekommen zu sein, denn „es war eine tolle Reise mit ihm in den letzten Jahren. Er wird uns als Typ fehlen, und dennoch werden wir uns jederzeit gern an seine Zeit bei Union erinnern“. Was man halt so sagt, wenn man gute Miene zum bösen Spiel machen muss und dabei sein Gesicht wahren möchte.

Andersrum ist es nicht anders, höchstens noch schwulstiger. „Union ist in den letzten Jahren zu meiner Familie geworden“, sagt der nunmehr Ehemalige, „ich habe hier eine unglaublich schöne Zeit erleben dürfen, die für immer einen Platz in meinem Herzen haben wird.“ Vor nicht einmal einem Jahr war da noch das „Gefühl, für den Verein wichtig zu sein, sodass ich nicht lange über meine Verlängerung nachdenken musste“. Außerdem hieß es damals: „Ich will den Weg mit Union weitergehen und bin überzeugt, dass wir noch viel vor uns haben.“

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Gut, ein bisschen was davon hat er abgearbeitet. Die Eisernen haben, auch dank der Tore von Kevin Behrens, die Qualifikation für die Champions League geschafft. Er selbst ist, ob glücklicher Umstand oder Fehlen von Alternativen, Nationalspieler geworden. Ein 180-Sekunden-Internationaler, der seine Einsatzzeit mit 180 Sekunden Nachspielzeit flott mal verdoppelt hat.

Das ist keine Ironie, das ist Anerkennung, höchste sogar. Weil Behrens sich damit einen Traum erfüllt hat, von dem jeder Junge träumt und der für ihn längst unerfüllbar schien. Jedenfalls ist er derjenige, der als erster im Trikot des 1. FC Union sein Debüt im A-Team des Deutschen Fußball-Bundes gegeben hat. Glück gehabt und zur richtigen Zeit für den richtigen Verein richtig häufig getroffen.

Da ist aber auch: zu meiner Familie geworden; eine unglaublich schöne Zeit; für immer einen Platz in meinem Herzen … Warum gibt man so etwas einmalig Schönes, Wärmendes, Heimeliges auf? Welchen Grund sollte es dafür geben? Es müssen nicht hundert sein, auch nicht fünfzig, nicht zwanzig und nicht zehn, neun, acht. Einer würde genügen. Ein triftiger sollte es schon sein.

Bei einem Wechsel ins Ausland wird gerne das Kennenlernen einer anderen Kultur angeführt, ansonsten das Annehmen einer neuen Herausforderung, der nächste Karriereschritt. Oft genug gehört und deshalb nicht mehr ernstgenommen. Deutlich seltener, denn das ist nachprüfbar, das Erlernen einer fremden Sprache.

All das trifft auf Behrens nicht zu. Eine andere Kultur wäre, dass er sein Fahrrad, mit dem er ab und an in Köpenick unterwegs war, eintauscht gegen den Dienstwagen des vereinseigenen Hauptsponsors. Klimaneutral wäre – dazu müsste der Angreifer nicht einmal seinen Wohnsitz ändern – eine Bahncard 100 für Geschäftsreisende. Kostenpunkt in der 1. Klasse: 7714 Euro. Fahrzeit von Berlin Hauptbahnhof bis Wolfsburg: 70 Minuten, auf der Straße niemals zu schaffen.

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Eine neue Herausforderung? Schon eher. Vielleicht will sich einer, für den vor zweieinhalb Spielzeiten mit dem Vertrag bei einem Bundesligisten eine langjährige Karriere in der Zweit- und Drittklassigkeit doch noch die späte Kurve nach oben nahm, anderswo beweisen. In einem Verein, der, als die Angreifer dort Grafite und Edin Dzeko hießen und der Trainer Felix Magath, deutscher Meister wurde. Vor 15 Jahren war das. Grafite wurde mit 28 Toren (in nur 25 Einsätzen) Bundesliga-Torschützenkönig. Dzeko erzielte 26 Treffer, 21 davon allein in der Rückrunde. Einen 54-Tore-Angriff hat es seitdem nie wieder gegeben.

Die Latte liegt nicht mehr ganz so hoch. Dennoch wird ein Stürmer auch dort vor allem an seinen Toren gemessen. Das gilt um so mehr für einen wie Behrens, der in den vergangenen 22 Pflichtspielen keines mehr erzielt hat. Sowas nagt an einem Stürmer. Es kann sich aber schnell geben, sollte er treffen. In Köpenick hatten sie bis zuletzt vergeblich darauf gehofft.

Mit dem nächsten Karriereschritt ist es bei einem, der an diesem Sonnabend, einen Tag vor dem Heimspiel des VfL gegen Hoffenheim, 33 Jahre alt wird, auch so eine Sache. Natürlich kann man selbst mit 35 noch Weltmeister werden. So wie Lionel Messi. Oder gar mit 40. So wie 1982 Dino Zoff. Erstens aber war Behrens noch nie Weltfußballer wie der Argentinier, und er ist auch kein Torhüter wie der Italiener.

Bleibt letztlich allein das Geld, neben Titeln, Siegen und Toren die wahrscheinlich noch viel wichtigere Währung in der Karriere. Von einem Vertrag bis 2026 ist bei Behrens die Rede, womit er seine späte Erstligakarriere glatt verdoppeln würde und er den Preis für die Bahncard 100 in gut zwei Tagen eingespielt hätte. Kann ihm das jemand verdenken? Herz, Schmerz, Familie hin oder her.

Ist der Wechsel von Behrens womöglich kein Wolfsburg- und kein Union-Problem, sondern eines des deutschen Fußballs? Gibt es nicht mehr so viele Angreifer von Format? Zumindest nicht mehr so viele, die den Pass mit dem Bundesadler besitzen? Vor Monaten schon, als Behrens von Julian Nagelsmann für das Nationalteam nominiert wurde, stellte sich diese Frage. Mit 32 Jahren war Behrens ein ganz Spätberufener. Die Nummer 9 der ältesten DFB-Neulinge ist er. Eigentlich sogar die Nummer 8, denn Karl Sesta, seit 1941 mit 35 Jahren und 89 Tagen der Super-Oldie, hatte vor dem sogenannten Anschluss schon 44 Länderspiele für Österreich absolviert.

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Fakt jedenfalls ist, dass es in 20 Jahren vor Niclas Füllkrug, der in der vorigen Saison mit nur 16 Treffern Torschützenkönig in der Bundesliga geworden ist, nur vier Spieler gab, die als beste Torjäger einer Saison für das DFB-Team gespielt haben oder hätten spielen dürfen: Miroslav Klose 2006 für Werder Bremen, Mario Gomez 2011 für Bayern München, Stefan Kießling 2013 für Bayer Leverkusen und Alexander Meier 2015 für Eintracht Frankfurt.

In Erinnerung bleiben wird bei den Union-Anhängern von den 14 Toren, die Behrens für die Eisernen in der Bundesliga erzielt hat, vor allem jenes, das im April 2022 zum Tor des Monats gewählt wurde. Gemeinsam mit Sven Michel, dessen Vorarbeit noch sehenswerter war als die Vollendung, wurde er geehrt. Es hätte sowas von Herz und Gefühl werden können, hätte Behrens seine Ladehemmung gerade in Leipzig, wo der 1. FC Union Berlin am Sonntag zu Gast ist, beenden können. Nun wird er kein Tor mehr für die Eisernen erzielen. Höchstens – und das womöglich bereits kommende Woche am Sonnabend, wenn der VfL im Stadion An der Alten Försterei zu Gast ist – gegen sie.

Der Fußballgott kennt da ja manchmal kein Erbarmen.

QOSHE - 1. FC Union Berlin: Kevin Behrens verlässt die Köpenicker – aber warum denn nur? - Andreas Baingo
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1. FC Union Berlin: Kevin Behrens verlässt die Köpenicker – aber warum denn nur?

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03.02.2024

Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein, und Fußballgötter sind auch nur irdisch. Und dies nicht einmal so selten. Zuletzt sogar immer häufiger. Tendenz steigend. Davor, das erfährt der 1. FC Union Berlin in diesen Tagen auf ernüchternde Weise, ist nicht einmal ein Verein gefeit, der 2019 mit dem Fan-Slogan „Scheiße, wir steigen auf!“ in die Erstklassigkeit kam, dort seitdem die Fraktion der Romantiker auf eindrucksvolle Weise stärkt, sich gern gegen die – gern wird von Gesetzen gesprochen – Mechanismen des Geschäfts stemmt, sich ihnen dennoch immer wieder beugen muss. Wie erst jetzt wieder im Fall ihres Stürmers Kevin Behrens, seit Mittwochabend ein Ex-Stürmer.

Natürlich ist das Stadion An der Alten Försterei nicht der Olymp, und wer auch immer dort arbeitet, ob Trainer, Manager, Präsident oder Spieler, nicht Zeus. Selbst wenn sich das im Herzen mancher Anhänger so darstellen mag. Immer öfter nämlich steigt jemand herab, gibt seinen Götterstatus freiwillig ab (mancher, so ist zu befürchten, pfeift sogar darauf) und dient, oft ohne größere Skrupel, ab sofort einem anderen Gott. Oder er schwört auf ... Es hat ebenso vier Buchstaben, fängt auch mit G an, endet aber auf d.

Als „eine sehr schwierige Entscheidung“ bezeichnet Manager Oliver Ruhnert es, dem Wechselwunsch seines Spielers nachgekommen zu sein, denn „es war eine tolle Reise mit ihm in den letzten Jahren. Er wird uns als Typ fehlen, und dennoch werden wir uns jederzeit gern an seine Zeit bei Union erinnern“. Was man halt so sagt, wenn man gute Miene zum bösen Spiel machen muss und dabei sein Gesicht wahren möchte.

Andersrum ist es nicht anders, höchstens noch schwulstiger. „Union ist in den letzten Jahren zu meiner Familie geworden“, sagt der nunmehr Ehemalige, „ich habe hier eine unglaublich schöne Zeit erleben dürfen, die für immer einen Platz in meinem Herzen haben wird.“ Vor nicht einmal einem Jahr war da noch das „Gefühl, für den Verein wichtig zu sein, sodass ich nicht lange über meine Verlängerung nachdenken musste“. Außerdem hieß es damals: „Ich will........

© Berliner Zeitung


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