Tore sind das Salz in der Fußballsuppe. Das weiß man spätestens seit dem 30. November 1872, als in Glasgow zwischen den gastgebenden Schotten und den Engländern erstmals ein Länderspiel nach einheitlichen Regeln ausgetragen wurde. Die sahen vor, dass es in der Mannschaftsstärke von elf gegen elf gegeneinander ging. Auch dass der Ball eine nunmehr festgelegte Größe hatte und sich dessen Umfang zwischen 68 und 70 Zentimetern bewegen musste. Gleichfalls ist seit damals klar, dass nur noch dem Torhüter ein Handspiel erlaubt ist. Allerdings sahen die 4000 Zuschauer im „West of Scotland Cricket Ground“ beim 0:0 keine Tore. Das Salz fehlte.

Nicht gleich, aber immer mal wieder gab es danach Vorschläge, wie die angeblich schönste Nebensache der Welt mit mehr Toren noch schöner werden könne. So wurde 1920 das Abseits beim Einwurf aufgehoben. Siebzig Jahre später wurde gleiche Höhe als nicht mehr strafbar für den Angreifer bewertet. Was sich allerdings über die Jahrzehnte gehalten hat, ist die Größe des Tores: 8 Fuß mal 8 Yards, haben die Briten einst festgelegt, sind die Innenmaße zwischen den Pfosten und zwischen Torlinie und Latte. Metrisch gemessen: 7,32 Meter in der Höhe und 2,44 Meter in der Breite, exakt im Verhältnis drei zu eins.

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Nun kommt Gianluigi Buffon ins Spiel, der frühere italienische Torhüter, fünfmal zum Weltbesten auf seiner Position gewählt. So einer weiß, wovon er spricht. Denkt man. Was er zeit seines Fußballerlebens zu verhindern suchte, möchte er nunmehr aufweichen. Erst dieser Tage hat er vorgeschlagen, die Tore größer zu machen. Weil er nicht mehr im Kasten steht? Seine Gedanken zielen in folgende Richtung: Weil die Schlussleute mittlerweile größer als früher sind und allein wegen ihrer Maße bessere Chancen hätten, ihr Heiligtum zu schützen, wäre eine Modifikation sinnvoll. Anders formuliert: Die Fußballsuppe könnte mehr Salz vertragen.

Die rein rechnerische Komponente liefert Buffon gleich mit. Und zwar am eigenen Beispiel. Mit seinen 1,91 Metern sei er 1995 bei seinem Profidebüt in der Serie A der fünftgrößte Spieler gewesen. In seiner letzten Saison im vorigen Jahr sei er gleichfalls der fünftgrößte gewesen, allerdings von denen, die gerade auf dem Feld standen. So habe sich das Verhältnis verschoben. Enorm. Das ist der Lauf der Zeit. Vor hundert Jahren waren die Menschen in Deutschland, auch weil die Ernährung nicht so gut und ausgewogen, vor allem nicht so vitaminreich war, etwa 15 Zentimeter kleiner als heute.

Was also: doch größere Tore? Oder lieber nicht?

Was gab es andererseits für einen Aufschrei, als Yann Sommer, seit Jahren die Nummer 1 in der Schweizer Nati, kurz mal aus Mönchengladbach zu den Bayern gewechselt war und dort einen Treffer aus der Distanz hinnehmen musste. Zu klein sei der Schlussmann mit seinen 1,83 Metern. Damit sei Weltklasse, wie der deutsche Rekordmeister sie brauche, nicht zu erreichen. Seit Beginn der laufenden Saison hütet Sommer den Kasten bei Inter Mailand. In allen bisherigen zwanzig Serie-A-Spielen dieser Saison stand der Eidgenosse im Kasten. Seine Bilanz: zehn Gegentore, die wenigsten der Liga. Gewachsen ist er, soweit man weiß, inzwischen aber nicht.

Was also? Doch größere Tore? Oder lieber nicht?

„Vielleicht sollte man das Tor drei Zentimeter höher und fünf Zentimeter breiter machen“, sagte einst der jetzige österreichische Nationalcoach Ralf Rangnick. Seinen Augen und den Mundwinkeln aber war anzusehen, dass er diese Worte nicht ernst meinte. Denn auch er weiß, dass eine derartige Umwälzung, schließlich betrifft es 211 Verbände, die im Weltfußballverband organisiert sind, kaum zu stemmen ist.

Es ist auch nicht nötig. Denn das Salz wird nicht weniger. Was die Schlussleute an Länge hinzugewinnen, machen die Angreifer anderweitig wett. Wer wie ich Ende der 1950er- oder Anfang der 1960er-Jahre mit dem Kicken begann, hatte erst einmal ganz andere Probleme. Die Schuhe, sofern schon ohne Stahlkappe, hatten ein Gewicht, als wären die Sohlen aus Blei. Von Gefühl zwischen Innenrist und Außenspann konnte keine Rede sein. Der Ball, tatsächlich aus Leder, war ein Monstrum: schwer wie eine eiserne Leichtathletikkugel – und bei Regen, obwohl mit Lederwichse eingefettet, bei Kopfbällen gehirnerschütterungsverdächtig.

Als ich, zehn-, zwölfjährig, Oberligaspiele von Motor Zwickau besuchte, und Heini Franke, ein Vorvorgänger des großen Jürgen Croy, von der Strafraumgrenze den Ball aus der Hand bis kurz hinter die Mittellinie drosch, zog ein Raunen über die legendäre Halde. So weit konnte dieser Kerl schießen, glatt vierzig Meter. Treffer von außerhalb des Strafraums fielen deshalb selbst gegen kleine Torhüter nur selten.

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Dagegen sind die heutigen Bälle Highspeedgeräte. Zudem flattern sie aufgrund ihrer glatten Oberfläche wie verrückt und zittern sich geradezu in manchen Kasten. Auch nehmen sie viel besser Drall an. Spezialisten, die sich aufs Effet verstehen, kommen viel stärker zur Geltung als einst. Tore von jenseits der Mittellinie zu erzielen war lange nicht möglich oder hätte als Werk des Teufels gegolten.

Als ich 1975 zum 1. FC Union Berlin kam, gab es die beliebte Trainingsdisziplin Ballweittreiben. Die ging so: Zwei Spieler stehen sich in gleicher Entfernung zur Mittellinie gegenüber und versuchen, den Ball so weit zu schlagen, dass der Partner über seine Torauslinie getrieben wird. Erläuft der Gegenspieler den Ball oder kann ihn stoppen, darf er von dieser Stelle aus schießen.

Um mir auf subtile Art zu zeigen, was ich für ein Schwächling war, stellte man mir einen wuchtigen Abwehrmann gegenüber. Karsten Simon hieß er, hatte Oberschenkel wie ein Pferd und einen wahren Huf am Leibe. Natürlich war ich derjenige, der an die Grundlinie getrieben wurde, aber erst mit dem vierten oder fünften Hieb. Mit den Bällen von heute hätte ich gar keinen ersten Versuch, sondern müsste die Pille gleich, bei welchem Gegenüber auch immer, entweder aus der Wuhle fischen oder hinter der Waldseite im Unterholz suchen.

Es muss nicht unbedingt Harry Kane sein

Es ist über die Jahre ein Spiel mit zwei Gleichungen. Die erste lautet: größere Torhüter = weniger Tore. Die zweite: Leichtere, schnittigere, windschlüpfrige Bälle, dazu austrainierte Athleten = schärfere Schüsse und mehr Tore.

Die Entwicklung der Trefferquote in der Bundesliga macht es deutlich. Schon ewig, 38 Jahre, bleibt die Saison-Ausbeute unter der Tausendergrenze. Nachdem lange vorn eine acht stand, kratzen die Torjäger wieder permanent am vierstelligen Bereich: 973, 982, 928, 954 und zuletzt, ohne Robert Lewandowski und Erling Haaland und noch ohne Harry Kane: 971. Da geht doch was.

Diesmal nehmen sie einen neuen Anlauf und haben gut vorgesorgt. Die Hinrunde ist vorbei und damit Halbzeit. Mit 498 Toren halten die Offensivleute ihre Zielmarschroute haargenau ein. Außerdem, hier kommt wieder der 1. FC Union Berlin ins Spiel, gibt es für die Rot-Weißen neben dem am Freitag ausgefallenen Rückrundenstart in Mainz die Nachholpartie kommenden Mittwoch in München. Für das Spiel in Fröttmaning ist indes klar: Zwei Tore noch, dann gäbe es auf dem Weg zum Tausender schon die halbe Ernte. Es muss ja nicht unbedingt Harry Kane sein, der sie einfährt.

Übrigens stimmt es, dass die Torhüter immer länger werden, da hat Buffon recht. Acht der achtzehn Stammkeeper der Bundesligisten messen mehr als er mit seinen 191 Zentimetern. Unions Frederik Rönnow gehört mit 1,90 Metern genau in die Mitte. Kleiner als er, wenn auch minimal, sind nur der Frankfurter Kevin Trapp (1,89) und der Darmstädter Marcel Schuhen (1,88), der Hoffenheimer Oliver Baumann und der Bremer Michael Zetterer (je 1,87) sowie der Augsburger Finn Dahmen und der Bochumer Manuel Riemann (je 1,86). Am Ende ist es mit dem Salz in der Fußballsuppe dennoch ein Nullsummenspiel. Deswegen, Signore Buffon, lassen Sie den Toren ihre Größe und dem Spiel seine Seele.

QOSHE - 1000 Saisontore in der Bundesliga? Am 1. FC Union Berlin soll dieser Versuch nicht scheitern – oder doch? - Andreas Baingo
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1000 Saisontore in der Bundesliga? Am 1. FC Union Berlin soll dieser Versuch nicht scheitern – oder doch?

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© Berliner Zeitung


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