Am 9. Februar passierte es wieder – diesmal in der Notaufnahme des Krankenhauses Hedwigshöhe in Treptow-Köpenick. Eine hysterische Patientin schlug einer Pflegerin mit der Faust ins Gesicht. Die Mitarbeiterin ist noch immer krankgeschrieben. Solche Angriffe und Pöbeleien gegen das Personal gehören zum Alltag in den 37 Berliner Rettungsstationen.

Mit drastischen Beschreibungen meldeten sich am Montag Ärzte und Pfleger zu Wort. Ihre Schilderungen bei der Anhörung des Gesundheitsausschusses im Abgeordnetenhaus sind bedrückend. Der Angriff auf die Kollegin sei brutal und unvermittelt erfolgt, sagt die ärztliche Leiterin der Rettungsstelle Hedwigshöhe, Petra Haar. Und es sei nicht klar, ob sie nach ihrer vierwöchigen Krankschreibung wieder dienstfähig ist. „Unsere Mitarbeitenden haben Angst, in den Dienst zu kommen, weil das keine Ausnahme, sondern ein tägliches Ereignis ist.“ In Hedwigshöhe seien im Durchschnitt 450 Übergriffe pro Jahr auf Mitarbeiter dokumentiert worden.

2023 gab es die meisten Polizeieinsätze in den fünf großen Rettungsstellen der Vivantes-Häuser in Friedrichshain, Kreuzberg und Schöneberg sowie des Evangelischen Krankenhauses Herzberge in Lichtenberg und des St.-Hedwig-Krankenhauses in Mitte. Dorthin wurde die Polizei zwischen 600- und 735-mal gerufen. Noch in Erinnerung haben viele auch die brutale Attacke zu Silvester in der Rettungsstelle des Lichtenberger Sana-Klinikums, als zwei Männer einen Pfleger und einen Arzt niederschlugen.

Die St.-Hedwig-Kliniken, zu denen Hedwigshöhe gehört, geben pro Jahr 30.000 Euro für Deeskalationsschulungen aus. Würde der bisherige Sicherheitsdienst aufgestockt für eine Bewachung rund um die Uhr, müssten die Kliniken 500.000 Euro pro Jahr investieren. Deshalb fordert die Klinik einen 24/7-Objektschutz aller Berliner Notaufnahmen durch die Polizei.

24.02.2024

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In der Region Südost mit 620.000 Einwohnern, zu der auch der BER und Gebiete von Brandenburg zählen, ist Hedwigshöhe eines von drei Akut-Krankenhäusern. Die Kapazität der Notaufnahme wurde einmal für 8000 Patienten pro Jahr berechnet. Inzwischen werden 26.000 behandelt. „Mit der Enge und den wenigen Behandlungsplätzen kämpfen wir täglich“, sagt Haar. Inzwischen seien Büros zu Behandlungsräumen umfunktioniert worden.

Lange Wartezeiten, Überlastung und Burnouts bei Mitarbeitern sind nicht nur in Hedwigshöhe, sondern auch in vielen anderen Notaufnahmen eine Folge der „Patientensteuerung“. Durch die unzureichende ambulante Versorgung komme es zu Fehleinweisungen der Hausärzte und auch zu Selbsteinweisungen, sagt Petra Haar. „Mehrfach täglich stellen sich Patienten in der Notfallambulanz vor und sagen, sie bekommen keinen Facharzttermin, sie finden keinen Hausarzt. Sie sind verzweifelt und suchen dann Hilfe für Bagatellgeschichten in der Notaufnahme.“ Das seien nicht viele, es binde aber Kapazitäten.

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Ein drastisches Bild zeichnet bei der Anhörung auch Matthias Metz, der seit 13 Jahren in der Notfallpflege arbeitet und bei der Aktion „Notaufnahmen retten“ aktiv ist, die auf die prekäre Situation aufmerksam macht. Eine Umfrage unter 823 Mitarbeitern ergab 2022, dass 94,5 Prozent glaubten, dass unter den derzeitigen Bedingungen die Patienten gefährdet sind, und fast 80 Prozent eine Überlastung spürten. Fast 80 Prozent würden Konzepte gegen Überfüllung vermissen. 49,4 Prozent seien in den letzten zwölf Monaten fünfmal oder häufiger Opfer von Gewalt geworden, referiert Metz.

Lediglich 15,3 Prozent der Befragten hätten sich vorstellen können, dass sie in fünf Jahren noch in der Notaufnahme arbeiten werden. Die Befragung sei zwei Jahre alt. „Ich mag mir nicht ausmalen, wie meine Arbeit als Krankenpfleger in drei Jahren aussieht“, sagt Metz.

Der Chefarzt Andreas Umgelter, der die Rettungsstelle am Humboldt-Klinikum in Reinickendorf leitet, sagt: „Bei uns kann man ablesen, wo in der Daseinsvorsorge die Lücken sind. Wir sind immer offen für den schwersten Notfall, der lebensrettende Hilfe braucht, für den medizinisch unterversorgten Bewohner eines wirtschaftlich optimierten Pflegeheims, für die Bewegungsunfähigen, die Dementen, für die frierenden Obdachlosen, für die Unversicherten, für die, deren Sprache niemand spricht, für die Intoxikierten sowie für den 87-jährigen freundlichen Herren mit Bauchschmerzen, der seit vier Wochen keinen Magenspiegelungstermin bekommt und sich verzweifelt bei uns vorstellt, weil wieder bei der Kassenärztlichen Vereinigung niemand ans Telefon geht – für all diejenigen also, die sich in unserem zerklüfteten Gesundheitssystem nicht mehr zurechtfinden können.“

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Die Belastungsgrenze sei längst überschritten. „Das bedeutet, dass wir in einem unsicheren Bereich arbeiten. Wir verletzen täglich die Menschenwürde und etablierte Standards der Medizin und der Hygiene in viel zu kleinen, baulich veralteten, unterbesetzten und mangelhaft ausgestatteten Notaufnahmen“, berichtet Umgelter. An den sogenannten Bagatellfällen, also an Patienten, die zu Fuß wegen Lappalien in die Notaufnahme kommen, liegt es seiner Meinung nach aber nicht.

Der „Patientenabfluss“ mache hingegen Schwierigkeiten. Die Zahl der Krankenhausbetten sei wegen des Personalmangels überall zurückgegangen. Auch außerhalb der Krankenhäuser fehlten stationäre Pflegeangebote und Versorgungsangebote für zu Hause. Patienten könnten aus den bettenführenden Abteilungen nicht rechtzeitig „abverlegt“ werden. „Die Tageserlöse für Notfallpatienten sind bei vergleichbarem Aufwand deutlich geringer als die für geplante Patienten. In Krankenhäusern, die ums wirtschaftliche Überleben kämpfen müssen, bestehen Anreize gegen die Notfallversorgung“, sagt Umgelter.

Bereits jetzt gibt es in elf Notaufnahmen sogenannte Notdienstpraxen, die leichtere Fälle behandeln, um die Notaufnahmen zu entlasten. Forderungen nach weiteren solcher Praxen und einer Erweiterung der Öffnungszeiten erteilt Christiane Wessel von der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (KV) in der Anhörung eine Absage: „Wenn wir weiter ausbauen und die Öffnungszeiten ausweiten wollen, müssen wir das Personal irgendwo herholen. Es würde noch weniger Termine in der ambulanten Regelversorgung geben.“ Denn die betreffenden Ärzte müssten ihre Praxen früher schließen, um dann in den Notdienstpraxen zu arbeiten. „Sollen die Praxen länger aufmachen, muss das auch stärker finanziert werden.“

Das spielte sich in der Neujahrsnacht in der Rettungsstelle des Sana-Klinikums in Berlin-Lichtenberg ab: Ein 25-Jähriger und seine Brüder wollten nicht so lange warten. Sie schlugen einen Arzt nieder und verletzten einen Pfleger. pic.twitter.com/CDPfbwNc1R

Die Gesundheitssenatorin Ina Czyborra (SPD) hofft auf die von Gesundheitsminister Karl Lauterbach angeschobene Krankenhausreform. Danach könnten alle anderen Vorhaben realisiert werden. Sie hofft auch, dass die Beratungshotline 116117 der KV noch bekannter wird. Dort könnten schon 66 Prozent abschließend beraten werden, die dann nicht in die Notaufnahme gehen, „sondern andere Wege finden“, um ihre Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Doch erst vor einiger Zeit musste die KV dort einsparen, weil die Kassen das nicht bezahlen.

Und so wird es wohl auch künftig weitergehen. Wenn sich wieder einmal eine Notaufnahme wegen Überlastung abmeldet, wie es jeden Tag vorkommt, müssen die Rettungswagen die Patienten in die nächstgelegene Klinik bringen. „Wenn der Maximalversorger in der Nähe zumacht, haben wir ein erhöhtes Patientenaufkommen“, sagt Petra Haar. „Das führt zu maximaler Überlastung des Personals, Krankmeldungen und Kündigungen – und natürlich auch zu Unverständnis bei den Patienten und zu Aggressivität.“ Die Tür zur Rettungsstelle in Hedwigshöhe ist inzwischen aus Sicherheitsgründen abgeschlossen. Man muss jetzt klingeln.

QOSHE - Berliner Rettungsstellen: So dramatisch ist die Lage wirklich - Andreas Kopietz
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Berliner Rettungsstellen: So dramatisch ist die Lage wirklich

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26.02.2024

Am 9. Februar passierte es wieder – diesmal in der Notaufnahme des Krankenhauses Hedwigshöhe in Treptow-Köpenick. Eine hysterische Patientin schlug einer Pflegerin mit der Faust ins Gesicht. Die Mitarbeiterin ist noch immer krankgeschrieben. Solche Angriffe und Pöbeleien gegen das Personal gehören zum Alltag in den 37 Berliner Rettungsstationen.

Mit drastischen Beschreibungen meldeten sich am Montag Ärzte und Pfleger zu Wort. Ihre Schilderungen bei der Anhörung des Gesundheitsausschusses im Abgeordnetenhaus sind bedrückend. Der Angriff auf die Kollegin sei brutal und unvermittelt erfolgt, sagt die ärztliche Leiterin der Rettungsstelle Hedwigshöhe, Petra Haar. Und es sei nicht klar, ob sie nach ihrer vierwöchigen Krankschreibung wieder dienstfähig ist. „Unsere Mitarbeitenden haben Angst, in den Dienst zu kommen, weil das keine Ausnahme, sondern ein tägliches Ereignis ist.“ In Hedwigshöhe seien im Durchschnitt 450 Übergriffe pro Jahr auf Mitarbeiter dokumentiert worden.

2023 gab es die meisten Polizeieinsätze in den fünf großen Rettungsstellen der Vivantes-Häuser in Friedrichshain, Kreuzberg und Schöneberg sowie des Evangelischen Krankenhauses Herzberge in Lichtenberg und des St.-Hedwig-Krankenhauses in Mitte. Dorthin wurde die Polizei zwischen 600- und 735-mal gerufen. Noch in Erinnerung haben viele auch die brutale Attacke zu Silvester in der Rettungsstelle des Lichtenberger Sana-Klinikums, als zwei Männer einen Pfleger und einen Arzt niederschlugen.

Die St.-Hedwig-Kliniken, zu denen Hedwigshöhe gehört, geben pro Jahr 30.000 Euro für Deeskalationsschulungen aus. Würde der bisherige Sicherheitsdienst aufgestockt für eine Bewachung rund um die Uhr, müssten die Kliniken 500.000 Euro pro Jahr investieren. Deshalb fordert die Klinik einen 24/7-Objektschutz aller Berliner Notaufnahmen durch die Polizei.

24.02.2024

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In der Region Südost mit 620.000 Einwohnern, zu der auch der BER und Gebiete von Brandenburg zählen, ist Hedwigshöhe eines von........

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