Wie herzlos und kalt das Berliner Gesundheits- und Behördensystem sein kann, wird an folgendem Fall deutlich: Die 60-jährige Birgit P. meldete sich zwei Tage lang bei niemandem. Sie hatte im Homeoffice gearbeitet und Kundenanfragen und Reparaturwünsche für eine Computerfirma entgegengenommen. Als ihrem Arbeitgeber auffiel, dass sie nicht erreichbar war, informierte dieser den Bruder der Frau.

Der Bruder fuhr zur Wohnung seiner Schwester in Spandau, die Polizei öffnete die Tür. Betreten durfte der Bruder die Wohnung nicht. Die Beamten sagten ihm, dass seine Schwester, im Fernsehsessel sitzend, verstorben sei. Er solle nach Hause fahren. Man werde ihn informieren, wenn die Verstorbene vom Bestatter abgeholt werden könne. Ein Arzt führte inzwischen die Leichenschau durch. Dazu gehört das vollständige Entkleiden eines Leichnams, um festzustellen, ob der Mensch Opfer eines Verbrechens wurde.

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Am Abend durften der Bruder, eine weitere Schwester und deren Ehemann in die Wohnung der Frau. Sie fanden die Verstorbene vor dem Sessel, in gehockter Haltung und vollständig unbekleidet. Der Kopf war nach vorn gesunken.

Und so standen die schockierten Angehörigen vor der zusammengesackten nackten Toten. Der Anblick sei unerträglich gewesen, sagen sie. Er werde ihnen wohl für immer im Gedächtnis bleiben. „Man denkt sofort an Artikel 1 des Grundgesetzes, in dem es heißt: Die Würde des Menschen ist unantastbar“, sagt Reinhard P., der 81-jährige Onkel von Birgit P. Die Familie stellt sich die Frage, ob der Arzt, der die Leichenschau durchführte, die Tote nicht wenigstens mit einem Laken oder einer Decke hätte abdecken können.

Jeder Sanikasten enthält zum Beispiel eine goldfarbene Wärmedecke. Sie wird auch in den Autos der Rettungskräfte, der Feuerwehr und der Polizei mitgeführt.

•vor 7 Std.

•gestern

24.04.2024

Noch am Abend rief der Arzt, ein Orthopäde aus Schöneberg, der die Leichenschau durchgeführt hatte, den Bruder der Toten an. Er brauchte die Adresse, um die Rechnung von 191,33 Euro „an die Erben des Sterbefalles“ zu schicken – zu überweisen innerhalb von 14 Tagen. Als der Bruder ihn fragte, warum man seine tote Schwester so liegen ließ und nicht wenigstens abgedeckt habe, erwiderte er: Das sei nicht seine Aufgabe. So die Schilderung des Bruders.

Der Bruder war entrüstet. Am 16. Februar schickte er per E-Mail eine Beschwerde an die Ärztekammer Berlin. Eine Reaktion erhielt er nicht. Als er am 5. März noch immer keine Antwort hatte, schickte Reinhard P., der Onkel der Verstorbenen, eine weitere Mail an die Ärztekammer. „Auch darauf wurde nicht reagiert“, sagt er. Am 19. März rief er die Ärztekammer an und mahnte eine Reaktion an.

Am 27. März schließlich erhielt er eine Antwort von einer Sachbearbeiterin der Ärztekammer, Abteilung 4, Berufs- und Satzungsrecht. Nach einer Beileidsbekundung kamen Rechtsbelehrungen und Hinweise auf den Datenschutz. Jede Positionierung wurde vermieden. Immerhin: Das mit dem Gendern hat geklappt.

Unter anderem schreibt die Sachbearbeiterin: „Aus datenschutzrechtlichen Gründen sind wir daran gehindert, weitere Informationen zum Fortgang des Verfahrens zu erteilen. Wir weisen zudem darauf hin, dass die Ärztekammer Berlin Patient:innen, Angehörige oder Dritte nicht bei der Durchsetzung etwaiger Ansprüche unterstützen kann. (…)

Bitte beachten Sie, dass personenbezogene Daten auf Grundlage von Artikel 6 Absatz 1 Unterabsatz 1 Buchstaben c und e sowie Artikel 9 Absatz 1 und 2 Buchstaben a und j DSGVO in Verbindung mit §§ 5, 6, 7 Absatz 1 Nummer 2 und 57 ff. Berliner Heilberufekammergesetz (BlnHKG) verarbeitet werden. Weitere Information zur Datenverarbeitung finden Sie unter: https://www.aekb.de.

Wir danken Ihnen für das in uns gesetzte Vertrauen und verbleiben mit freundlichen Grüßen …“

Auf die Fragen der Berliner Zeitung antwortet ein Sprecher der Ärztekammer Berlin schriftlich: Man könne gut nachvollziehen, dass die Situation, in der der Leichnam aufgefunden wurde, die Hinterbliebenen erschreckt habe. „Aber Ärzt:innen, die eine Leiche nicht abdecken, begehen keine Berufspflichtverletzung. Sie würden sich vielmehr mit der Verwendung einer Abdeckung aus dem Haushalt der verstorbenen Person unter Umständen schadenersatzpflichtig machen.“

Die Angst, dass die gute Kaschmirdecke für so etwas benutzt und anschließend von Angehörigen in Rechnung gestellt wird, scheint groß zu sein.

Nach Angaben des Sprechers sei die Beschwerde-Mail vom 5. März an eine falsche Adresse geschickt worden. Das habe man daran erkennen können, dass sie der E-Mail vom 21. März angehängt war. Auch die Beschwerde vom 16. Februar habe die Ärztekammer nicht erreicht. Auf die Mail vom 21. März, die vom „Beschwerdeführer (BF)“ in der Abteilung Berufsrecht einging, sei „von den Kolleg:innen am 27.03.2024 geantwortet“ worden.

Mehr kann man offenbar nicht erwarten.

QOSHE - Pietätlos und kalt: Wie mit einer verstorbenen Frau in Berlin umgegangen wurde - Andreas Kopietz
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Pietätlos und kalt: Wie mit einer verstorbenen Frau in Berlin umgegangen wurde

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26.04.2024

Wie herzlos und kalt das Berliner Gesundheits- und Behördensystem sein kann, wird an folgendem Fall deutlich: Die 60-jährige Birgit P. meldete sich zwei Tage lang bei niemandem. Sie hatte im Homeoffice gearbeitet und Kundenanfragen und Reparaturwünsche für eine Computerfirma entgegengenommen. Als ihrem Arbeitgeber auffiel, dass sie nicht erreichbar war, informierte dieser den Bruder der Frau.

Der Bruder fuhr zur Wohnung seiner Schwester in Spandau, die Polizei öffnete die Tür. Betreten durfte der Bruder die Wohnung nicht. Die Beamten sagten ihm, dass seine Schwester, im Fernsehsessel sitzend, verstorben sei. Er solle nach Hause fahren. Man werde ihn informieren, wenn die Verstorbene vom Bestatter abgeholt werden könne. Ein Arzt führte inzwischen die Leichenschau durch. Dazu gehört das vollständige Entkleiden eines Leichnams, um festzustellen, ob der Mensch Opfer eines Verbrechens wurde.

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15.04.2024

Am Abend durften der Bruder, eine weitere Schwester und deren Ehemann in die Wohnung der Frau. Sie fanden die Verstorbene vor dem Sessel, in gehockter Haltung und vollständig unbekleidet.........

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