„Jeder junge Mensch hat das Recht auf eine zukunftsfähige, diskriminierungsfreie Bildung.“ So steht es im Berliner Schulgesetz. Das gilt unabhängig von Faktoren wie Nationalität, sexueller Orientierung und sozialer Herkunft. Für einige Politiker aus Marzahn-Hellersdorf ist dieses Ziel mittlerweile gefährdet. Denn in dem Bezirk am Stadtrand ist der Lehrermangel besonders groß.

„In Marzahn-Hellersdorf fehlen so viele Lehrkräfte, dass nicht mal mehr an allen Schulen der Unterricht abgesichert werden kann“, sagte etwa die Bildungssprecherin der Linken-Fraktion, Regina Kittler, auf der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) am 21. März. An einigen Schulen würden seit Wochen Fächer wegfallen, Förderunterricht nur eingeschränkt stattfinden. „Hier wird also aus der Not heraus gegen das Schulgesetz verstoßen.“

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Die Linke hat deshalb einen Antrag gestellt: „Den Senat in die Pflicht nehmen: Mehr Lehrkräfte für Marzahn-Hellersdorf!“ Gefordert werden ein „zentrales Einstellungsverfahren“ und „Steuerungsmechanismen“, mit denen „ausgebildete Lehrkräfte vorrangig in den Schulen mit dem größten Personalmangel eingestellt werden“.

Denn die Besetzung von Lehrerstellen ist in Berlin zwischen den Bezirken ungleich verteilt. So waren im vergangenen Jahr nur 87,9 Prozent der Lehrerstellen an Sekundarschulen in Marzahn-Hellersdorf besetzt, im Nachbarbezirk Lichtenberg waren es 97,2 Prozent, in Steglitz-Zehlendorf 98,3 Prozent. Auch die Grundschulen in Marzahn-Hellersdorf kommen nur auf eine Versorgung von 91,8 Prozent – der berlinweit schlechteste Wert für diese Schulform.

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Die Situation der Schulen in Marzahn-Hellersdorf sei „sehr, sehr schlecht“, bestätigt Marion Hoffmann der Berliner Zeitung. Sie ist bildungspolitische Sprecherin der SPD in der BVV und hat jahrzehntelang als Schulleiterin gearbeitet. Es gebe sogar Schulen mit einer Unterrichtsversorgung von weniger als 70 Prozent, sagt sie.

In dem öffentlich zugänglichen Berliner Schulverzeichnis ist zu sehen: Eine Marzahner Sekundarschule kommt bei der Unterrichtsversorgung sogar nur auf 65,9 Prozent. Und da sind krankheitsbedingte Ausfälle noch gar nicht miteinberechnet.

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„Das ist wirklich keine Neiddiskussion“, sagt Marion Hoffmann. Aber die Kinder in Marzahn-Hellersdorf hätten genauso das Recht auf Bildung wie alle anderen auch. „Da werden wir unseren Kindern nicht gerecht.“ Ihre Partei ist dem Antrag der Linken zur Unterstützung beigetreten.

Dabei hatte Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) erst im Mai vergangenen Jahres einen umstrittenen Steuerungsmechanismus abgeschafft, der von ihrer Vorgängerin Astrid-Sabine Busse (SPD) eingeführt worden war. Die Regelung sah vor, dass Schulen nur noch 96,3 Prozent ihrer Stellen besetzen dürfen – und eventuelle Bewerber darüber hinaus dann ablehnen müssen.

Die Hoffnung: Diese Bewerber würden dann an die Schulen gehen, an denen die Unterrichtsversorgung besonders schlecht ist. Die jetzige Bildungssenatorin entschied sich jedoch dafür, diese Regelung nicht fortzuführen. Zu groß sei die Gefahr, Lehrkräfte komplett von Berlin abzuschrecken, hieß es damals. Auch der Wahlkreis von Katharina Günther-Wünsch liegt in Marzahn-Hellersdorf.

Doch seit Anfang des Jahres ist die Debatte wieder aufgeflammt. Spätestens, als die Senatsbildungsverwaltung auf eine Anfrage der SPD-Abgeordneten Maja Lasić und Marcel Hopp antwortete, dass nur für 14 von 94 neu besetzten Vollzeitstellen an Marzahn-Hellersdorfer Grundschulen vollständig ausgebildete Lehrer gewonnen werden konnten. Also gerade einmal rund 15 Prozent. An einer Schule sind sogar rund 70 Prozent der Lehrkräfte Quereinsteiger, wie ein Sprecher der Bildungsverwaltung bestätigt.

Auch Quereinsteiger müssen eigentlich von ausgebildeten Lehrkräften betreut werden. Doch das ist schwierig, wenn es davon kaum welche gibt. „Das kann man meines Erachtens überhaupt nicht absichern“, sagt die Kommunalpolitikerin Marion Hoffmann. „Das kann nicht gut gehen!“

In einigen Teilen von Marzahn-Hellersdorf – etwa in Hellersdorf-Nord – war laut Sozialbericht des Bezirks im Jahr 2020 rund ein Drittel der schulpflichtigen Kinder armutsgefährdet. Nach Angaben des Amts für Statistik Berlin-Brandenburg gab es im Jahr 2022 außerdem in mehr als jeder dritten Familie nur ein Elternteil.

Eine Studie des Ifo-Instituts aus dem vergangenen Jahr kam zu dem Schluss: In Deutschland ist eben doch häufig die soziale Herkunft entscheidend für den Bildungserfolg. Bildung und Einkommen der Eltern sind demnach unter den größten Faktoren dafür, ob ein Kind auf ein Gymnasium geht.

So besuchten mehr als 80 Prozent der Kinder ein Gymnasium, wenn die Eltern ein sehr hohes Einkommen und beide selbst Abitur hatten. Bei Eltern mit einem geringen Einkommen und ohne Abitur waren es nur etwas mehr als 21 Prozent. Die Empfehlung der Studie: Schulen mit vielen benachteiligten Kindern sollten mit besonders qualifizierten Lehrkräften ausgestattet werden.

In Berlin ist das noch nicht der Fall. Besonders in den Wintermonaten sei die Lage an den Schulen im Bezirk angespannt, beschreibt Marion Hoffmann. Im vergangenen Winter hätten sich Eltern einer einzigen Grundschule aus dem Bezirk bei ihr gemeldet, in der Klassen aus Lehrermangel zwei Wochen lang im Home-Schooling unterrichtet wurden. An einer anderen Schule habe nur der Klassenleiter unterrichtet – und dann auch nur bis zur Mittagszeit.

Die Bildungsverwaltung bestätigt die konkreten Fälle auf Anfrage nicht. Im Winter gebe es regelmäßig einen hohen Krankenstand, der zu Unterrichtsausfall führe, sagt ein Sprecher. Nicht nur in Marzahn-Hellersdorf, sondern auch in anderen Bezirken. Und weiter: „Generell gibt es bei einer sehr angespannten Personalsituation die Möglichkeit, den Unterricht anders zu organisieren.“

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In Marzahn-Hellersdorf stimmte im März eine Mehrheit für den Antrag der Linken und SPD, die CDU machte jedoch nicht mit. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Johannes Martin kritisierte während der Versammlung: „Wie motiviert ist denn eine Kollegin oder ein Kollege, der per Zwang an eine Schule gebracht wird, an die er gar nicht möchte?“ Das Risiko sei, dass Lehrkräfte in andere Bundesländer abwandern.

Auch der Schulstadtrat des Bezirks, Stefan Bley, ist von der CDU. Auf Anfrage der Berliner Zeitung äußert er sich zurückhaltend. „Auch mich bewegt der Lehrermangel an unseren Schulen sehr“, sagt er. Der Antrag ziele darauf ab, dass möglichst „viele Akteure diese Missstände bei der zuständigen Senatsverwaltung benennen und sich für den Bezirk starkmachen“. Und: „Dies werde ich gemäß der Drucksache selbstverständlich durchführen.“

Ob „Steuerungsmechanismen“ der richtige Weg seien, um den Lehrermangel zu bekämpfen, könne er aber „nicht bewerten“. Aus seiner Sicht müssen mehr Anreize für Lehrer geschaffen werden, in den Bezirk zu kommen. Das könne etwa eine Geldzulage sein oder besserer Zugang zu Wohnraum.

Das ist nicht genug für SPD und Linke. Besonders bei Neueinstellungen müsse darauf geachtet werden, dass zuerst die Schulen mit dem höchsten Bedarf profitieren, sagt Marion Hoffmann. Ihr Vorschlag: „Dass man diesen Leuten sagt: Bevor ihr irgendwo hingeht, geht ihr nach Marzahn-Hellersdorf – oder eben in Schulen, die einen hohen Bedarf haben.“

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Hoffmann plädiert dafür, auch mehr Referendare in den Bezirk zu schicken. Aus eigener Erfahrung sagt sie: „In der Regel ist es so, wenn es eine vernünftige Schulleitung und ein nettes Kollegium gibt, dass die Referendare dann auch bleiben.“ Und: „Die Schulen sind nicht so schlecht wie ihr Ruf.“

Gibt es also überhaupt eine Chance, dass der Antrag vom Senat umgesetzt wird? „Die Hoffnung habe ich leider nicht“, sagt Marion Hoffmann. Wie es nun weitergeht, muss erst noch im Bezirk diskutiert werden.

Ein Sprecher der Senatsbildungsverwaltung nennt auf Anfrage eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Lehrkräftegewinnung, auch und speziell für Marzahn-Hellersdorf. Auf Bildungsmessen werde gezielt für den Bezirk geworben. Man habe außerdem einen Werbefilm der regionalen Schulaufsicht unterstützt.

„Es gibt auch Kontakte zu landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften“, sagt der Sprecher. Zusätzlich habe man viele Angebote für andere Arbeitskräfte wie Studenten, Seiteneinsteiger, Logopäden und Lerntherapeuten geschaffen, an Schulen zu arbeiten. Das klingt vorerst nicht nach einer Erfolgsgeschichte. Ob diese Werbemaßnahmen künftig ausreichen werden, die Schulen im Bezirk besser auszustatten, wird sich erst zeigen müssen.

QOSHE - Marzahn-Hellersdorf: „Hier wird aus der Not heraus gegen das Schulgesetz verstoßen“ - Anika Schlünz
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Marzahn-Hellersdorf: „Hier wird aus der Not heraus gegen das Schulgesetz verstoßen“

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In dem öffentlich zugänglichen Berliner Schulverzeichnis ist zu sehen: Eine Marzahner Sekundarschule kommt bei der Unterrichtsversorgung sogar........

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