Wenn Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind, muss oft das Jugendamt einschreiten – mit Beratungen, Hausbesuchen und im Extremfall der Unterbringung von Kindern außerhalb der Familie. Das Problem ist riesig: Laut dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg brauchten im Jahr 2022 immerhin 36.238 Familien und junge Menschen solche Unterstützung.

Die Familienhilfe kostet das Land Berlin laut dem Staatssekretär für Jugend und Bildung, Falko Liecke, rund 750 Millionen Euro im Jahr. Allein im Bezirk Marzahn-Hellersdorf sind es etwa 100 Millionen Euro. Deshalb wird in dem Stadtrandbezirk nun das Modellprojekt „Familienrat“ erweitert, das bereits erste Erfolge gezeigt hat. Am Donnerstag zogen Liecke, der Marzahn-Hellersdorfer Bezirksstadtrat für Jugend, Familie und Gesundheit, Gordon Lemm, sowie der Jugendamtsleiter des Bezirks, Heiko Tille, eine erste Bilanz.

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Prinzipiell geht es bei dem Projekt darum: In dem Familienrat kommen alle Beteiligten zusammen und diskutieren gemeinsam über mögliche Lösungen ihrer Probleme. Freie soziale Träger unterstützen bei dem Prozess. Der Familienbegriff müsse dabei weitläufig verstanden werden, ergänzte am Donnerstag Jugendamtsleiter Heiko Tille. Dazu können beispielsweise auch Bekannte oder Freunde gehören.

In vielen Familien werden im Familienrat „neue Ressourcen“ entdeckt – etwa eine Nachbarin, die eine alleinerziehende Mutter bei der Betreuung eines Kindes unterstützen kann. „Im Grunde brauchen wir das gesamte soziale Umfeld“, sagte Tille. Durch die erarbeiteten Lösungsansätze soll vermieden werden, dass Kinder „stationär“, also außerhalb ihrer Familie untergebracht werden müssen.

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Die Projektleiter glauben an den Erfolg. Denn die Unterstützung von Fachkräften in Familien mit Hilfebedarf habe „in vielen Fällen keine strukturelle und nachhaltige Verbesserung bewirkt“, sagte Bezirksstadtrat Lemm. Wenn ein Mitarbeiter des Jugendamts eine Lösung vorgebe, sende das oft eine fatale Botschaft an die Familien: „Ihr schafft das nicht.“ Durch den Familienrat sollen Familien lernen, selbst Lösungsansätze zu entwickeln.

Familien mit komplexen Problemlagen benötigen besondere Hilfe! Hier setzt der Familienrat als neues Berliner Modellprojekt an, welches als erstes in Marzahn-Hellersdorf, dem Bezirk mit dem berlinweit höchsten Unterstützungsbedarf problembelasteter Familien, installiert wurde. 1/3 pic.twitter.com/ARObqgkTbE

Das Neue in Marzahn-Hellersdorf ist nun, dass das Angebot des Familienrats deutlich ausgeweitet werden soll. Perspektivisch soll in Zukunft „grundsätzlich immer“ ein Familienrat einberufen werden, bevor es zu einer stationären Unterbringung kommt, sagte Staatssekretär Liecke.

Das ist, so Liecke, in zweierlei Hinsicht wichtig: Zum einen ist es besser für die Kinder, in der eigenen Familie aufzuwachsen. Zum anderen können so auch Kosten eingespart werden. Erste Auswertungen sind vielversprechend, sagt der Staatssekretär. So fanden laut der Senatsverwaltung für Bildung zwischen September 2022 und Juni 2023 immerhin 49 Familienräte in Marzahn-Hellersdorf statt, durch die 23 stationäre Unterbringungen verhindert werden konnten.

Das ist eine Einsparung von circa 108.000 Euro pro Monat, heißt es in einer Pressemitteilung. Das potenzielle jährliche Einsparpotenzial wird auf bis zu 1,4 Millionen Euro geschätzt, wenn stationäre Unterbringungen langfristig vermieden werden können.

Für Bezirksstadtrat Lemm ist das Projekt in Marzahn-Hellersdorf genau richtig, denn der Bezirk habe „besondere Rahmenbedingungen“. Aktuell leben dort etwa 3000 Familien, die Hilfe vom Jugendamt benötigen, 36 Prozent der Eltern sind laut Lemm alleinerziehend, ein Viertel der Kinder von Armut bedroht. Bei den Einschulungsuntersuchungen wird, so der Bezirksstadtrat, regelmäßig bei rund 60 Prozent der Kinder ein schulischer Förderbedarf festgestellt, manchmal sogar bei bis zu 80 Prozent.

Das Projekt wird fortlaufend evaluiert. Sollte es sich weiterhin erfolgreich zeigen, könne es auch auf die anderen Berliner Bezirke ausgeweitet werden, sogar auf Bundesebene habe man bereits Interesse an der Auswertung des Projekts gezeigt, sagte Bezirksstadtrat Lemm. In fünf weiteren Bezirken gibt es bereits ähnliche Modelle, etwa in Friedrichshain-Kreuzberg und in Lichtenberg.

Finanziert wird das Vorhaben aus dem „Flexibudget“, das den Bezirken ermöglichen soll, niedrigschwellige Unterstützungsprojekte für Familien zu entwickeln. Dazu kommen noch Mittel aus dem Jugendgewaltgipfel, insgesamt stehen den Bezirken im Doppelhaushalt 2024/25 damit 9,6 Millionen Euro zur Verfügung.

Der Bezirk Marzahn-Hellersdorf erhält aus diesen Mitteln für die Umsetzung des Familienrat-Projekts eine Million Euro zusätzlich. Mit dem Geld sollen zwei neue Standorte geschaffen werden, an denen in Zusammenarbeit mit freien Trägern zukünftig Familienräte durchgeführt werden können. Laut Jugendamtsleiter Tille soll es auch schon bald losgehen, wenn alles klappt schon Anfang Mai. In der kommenden Woche sind die Unterschriften der Verträge mit den freien Trägern geplant.

QOSHE - Mehr Selbsthilfe statt Jugendamt: So sollen Familien besser unterstützt werden - Anika Schlünz
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Mehr Selbsthilfe statt Jugendamt: So sollen Familien besser unterstützt werden

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04.04.2024

Wenn Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind, muss oft das Jugendamt einschreiten – mit Beratungen, Hausbesuchen und im Extremfall der Unterbringung von Kindern außerhalb der Familie. Das Problem ist riesig: Laut dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg brauchten im Jahr 2022 immerhin 36.238 Familien und junge Menschen solche Unterstützung.

Die Familienhilfe kostet das Land Berlin laut dem Staatssekretär für Jugend und Bildung, Falko Liecke, rund 750 Millionen Euro im Jahr. Allein im Bezirk Marzahn-Hellersdorf sind es etwa 100 Millionen Euro. Deshalb wird in dem Stadtrandbezirk nun das Modellprojekt „Familienrat“ erweitert, das bereits erste Erfolge gezeigt hat. Am Donnerstag zogen Liecke, der Marzahn-Hellersdorfer Bezirksstadtrat für Jugend, Familie und Gesundheit, Gordon Lemm, sowie der Jugendamtsleiter des Bezirks, Heiko Tille, eine erste Bilanz.

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Prinzipiell geht es bei dem Projekt darum: In dem Familienrat kommen alle Beteiligten zusammen und diskutieren gemeinsam über mögliche Lösungen ihrer Probleme. Freie soziale Träger unterstützen bei dem Prozess. Der Familienbegriff müsse dabei weitläufig verstanden werden, ergänzte am Donnerstag Jugendamtsleiter Heiko........

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