Vijo ist zwölf Jahre alt, er spricht kein Deutsch, dafür aber Englisch. Der rothaarige Junge rennt über den Linoleum-Boden durch die Halle mit den sterilen weißen Wandschränken, den Stellwänden und weißen Tischen und Stühlen. Bunt sind nur die Bilder an den Wänden. Kinder wie Vijo haben sie gemalt.

Vijo ist seit vier Monaten im Ankunftszentrum Tegel. Er flüchtete mit seinen Eltern vor dem Krieg in der Ukraine. Jetzt liegt seine neue Welt hinter hohem Stacheldraht. Das ehemalige Flughafengelände im Berliner Nordwesten ist eine Riesen-Zeltstadt.

Es gibt für Vijo und die anderen Bewohner feste Essenszeiten, morgens gibt es oft Brot mit Aufschnitt, mittags immer mal wieder Falafel. Nicht jeder mag das Essen, eine Frau beklagt sich, dass es ihr zu fad sei. Vijo hat andere Sorgen: Er möchte Tischtennis spielen, schaut ehrfurchtsvoll zu den großen Jungs, die die Platte belegen. Geht er hier zur Schule? Er schüttelt den Kopf: Er sei bislang nicht in der Schule angemeldet.

Zwei Schulen gibt es im Umkreis des Flughafens. Zusätzlich eine auf dem Tegel-Gelände, eine sogenannte Willkommensschule für Kinder und Jugendliche aus dem Ankunftszentrum für ukrainische Kriegsgeflüchtete, die Platz für 300 Schüler hat. Kritiker wie Menschenrechtsorganisationen reden von einer „Lagerschule“, für sie ist ganz Tegel ohnehin ein „Lagerkomplex“. Ganz von der Hand zu weisen ist das nicht, das weiß auch das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF). Doch derzeit gibt es in Berlin, wo der Senat händeringend nach Unterkünften sucht und demnächst weitere 16 Containerdörfer bauen möchte, kaum eine Alternative.

Es ist Mittwochnachmittag, als es auch genau um das Thema geht: Wie menschen- und vor allem kindgerecht ist das Ankunftszentrum Tegel. LAF-Sprecher Sascha Langenbach führt Mitarbeiter von Unicef über das Gelände. Die Ausschussvorsitzende der Vereinten Nationen, Ann Skelton, ist nach Berlin gereist, um sich ein persönliches Bild von den bereits erfolgten und noch ausstehenden Schritten zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention zu machen. Die südafrikanische Juristin wird unter anderem von Sebastian Sedlmayr, dem Leiter der Abteilung Advokat und Politik bei Unicef, begleitet.

•vor 7 Std.

•gestern

24.04.2024

Rund 40 Prozent der mehr als zwei Millionen Asylsuchenden seit 2015 und 32 Prozent der Schutzsuchenden aus der Ukraine seit 2022 sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Im vergangenen Jahr führte Unicef Deutschland daher mit dem Deutschen Institut für Menschenrechte eine Studie durch. Sie heißt „Das ist nicht das Leben“.

Darin berichten Kinder und Jugendliche selbst über erhebliche Schwierigkeiten beim Zugang zu Bildung und psychologischer Versorgung sowie über ihre Erfahrungen mit Gewalt und Diskriminierung.

Besonders beängstigend seien Situationen, in denen sich vor allem Männer an Gemeinschaftsorten aufhalten und dort Alkohol oder Drogen konsumieren. Dies führe dann häufig dazu, dass bestimmte Orte auf dem Gelände der Unterkunft oder Gemeinschaftsräume in den Gebäuden von den Kindern und Jugendlichen gemieden werden oder die Eltern es ihnen untersagen, dorthin zu gehen. Laut UN-Kinderrechtskonvention haben geflüchtete Kinder und Jugendliche daher auch Anspruch auf besonderen Schutz.

Streit nach Brand in Tegel: Muss Deutschlands größtes Ghetto geschlossen werden?

13.03.2024

„Job-Turbo“ für Flüchtlinge: Ampel wirbt aggressiv, aber der Teufel steckt im Detail

gestern

Susanne Hähner-Clausing leitet das Ankunftszentrum Tegel. Die LAF-Mitarbeiterin zuckt mit den Schultern. Für sie ist klar, dass es bessere Orte für Kinder gibt. „Wenn ich mehr Platz hier hätte, würde ich Lernräume für Kinder schaffen, damit sie Deutsch lernen oder Hausaufgaben machen können“, sagt sie.

Immerhin gibt es Spiel- und Bolzplätze, in fast jedem Zelt eine Kinderbetreuung. Sie können bis 18 Uhr dort spielen, basteln und toben. „Die Kinder kommen gerne zu uns“, sagt eine Mitarbeiterin. Sie beobachte, dass die Kleinen am besten mit der Flucht aus der Heimat umgehen würden, mehr als die Eltern. „Sie wirken nicht traumatisiert“, sagt sie. Doch in ihre Seelen könne sie auch nicht hineinschauen. Vijo, der Zwölfjährige, der vor vier Monaten mit seinen Eltern aus der Ukraine kam, sagt auch, er lebe gerne hier. „Weil ich gerne Tischtennis spiele“, sagt er und grinst.

Tegel ist, inmitten von Berlin, inzwischen zu einer Welt mit eigenen Regeln geworden. Das wird bei dem Ortsbesuch deutlich. Bis zu 14 Menschen teilen sich ein Schlafabteil, dünne Plastikwände und Vorhänge trennen die Abteile voneinander. Durch die sogenannten Wohnzimmer, in denen Plastikstühle und Tische stehen und sich Bewohner Kaffee und Tee holen können, schlurfen Frauen und Kinder im Bademantel. Sie kommen aus den Waschräumen, in denen die Duschen und Toiletten oft kaputt sind. Dort stehen auch die Waschmaschinen und Trockner. Es riecht nach Putzmitteln.

Tegel hat inzwischen alles: Versorgungszentren, eine Palliativ- und eine Geburtsstation. Menschen sterben hier, Babys werden geboren. Krankheiten wie Masern grassieren, derzeit sind es sieben Fälle in Tegel. Noch vor kurzem gab es beinahe eine Epidemie, sofort wurden die Bewohner gegen die ansteckende Krankheit geimpft. Doch es gibt auch heftige Streitereien unter den Bewohnern, mitunter Misshandlungen, Fälle von Prostitution, Alkoholmissbrauch, wie Mitarbeiter erzählen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Polizei-Einsätze.

Der Flüchtlingsrat forderte erst im vergangenen Jahr die Schließung von Deutschlands größtem Ghetto, wie es genannt wird. Doch wo sollen die Menschen denn hin, fragen andere. Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres kamen erneut 2389 Flüchtlinge aus der Türkei, Syrien, Vietnam, Afghanistan und Moldau nach Berlin, die in die Ankunftszentren oder Flüchtlingsunterkünfte verteilt wurden. Bis Februar dieses Jahres registrierte das LAF 2611 Menschen aus der Ukraine im Ankunftszentrum Tegel.

Und es werden noch mehr, so die Prognosen. Berlins Regierender Bürgermeister erwartet, dass in diesem Jahr weitere 15.000 bis 20.000 Flüchtlinge nach Berlin kommen.

Derzeit sind in Tegel 4436 Plätze belegt – 684 von Asylbewerbern aus Syrien oder anderen arabischen Staaten, und 3752 von Ukrainern. Beiden Gruppen sind voneinander getrennt. Insgesamt ist Platz für 7000 Menschen. 380 Plätze fehlen nach wie vor, seitdem im März eine rund 1000 Quadratmeter große Leichtbauhalle abgebrannt war. Es war einer der Momente, die Susanne Hähner-Clausing nicht vergessen kann. Menschen schrien, rannten durcheinander. Seitdem, sagt sie, seien viele vorsichtiger geworden. Wenn ein Bewohner in seiner Schlafwabe kochen wolle, meldeten das andere.

Eine andere Unterkunft zu finden, ist ebenfalls schwierig. Mittlerweile leben ukrainische Geflüchtete durchschnittlich zehn Monate und Asylsuchende aus anderen Ländern für mehrere Wochen an einem Ort, der eigentlich nur als Übergangslösung für ein bis drei Nächte gedacht war.

Wer der Zeltstadt mal entfliehen möchte, nimmt die Buslinie 410, die das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten inzwischen gechartert hat. Die Busse fahren im Zehn-Minuten-Takt zum U-Bahnhof Jungfernheide und zurück. Nicht alle nutzen das, sagt Leiterin Hähner-Clausing. Viele blieben in der Zeltstadt. Vijo ist mit seinen Eltern auch noch nicht in die Stadt gefahren. Viele Familien wie seine bleiben unter sich, meiden den Kontakt nach draußen. Dort ist es noch fremder, auch weil sie niemand versteht.

Es ist inzwischen Abend. Bald gibt es Essen. Auf dem Speiseplan stehen Eier in Senfsoße mit Kartoffelpüree. Und es gibt die Mahnung von Unicef. Für Sedlmayr ist Tegel kein guter Platz für Kinder. „Es ist extrem schwierig hier für Familien mit Kindern zu leben“, sagt er, und das sollte nicht zu einer Dauerlösung werden.

QOSHE - „Willkommen“ war gestern: Flüchtlingsghetto Tegel inzwischen Kleinstadt mit eigenen Regeln - Anne-Kattrin Palmer
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„Willkommen“ war gestern: Flüchtlingsghetto Tegel inzwischen Kleinstadt mit eigenen Regeln

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26.04.2024

Vijo ist zwölf Jahre alt, er spricht kein Deutsch, dafür aber Englisch. Der rothaarige Junge rennt über den Linoleum-Boden durch die Halle mit den sterilen weißen Wandschränken, den Stellwänden und weißen Tischen und Stühlen. Bunt sind nur die Bilder an den Wänden. Kinder wie Vijo haben sie gemalt.

Vijo ist seit vier Monaten im Ankunftszentrum Tegel. Er flüchtete mit seinen Eltern vor dem Krieg in der Ukraine. Jetzt liegt seine neue Welt hinter hohem Stacheldraht. Das ehemalige Flughafengelände im Berliner Nordwesten ist eine Riesen-Zeltstadt.

Es gibt für Vijo und die anderen Bewohner feste Essenszeiten, morgens gibt es oft Brot mit Aufschnitt, mittags immer mal wieder Falafel. Nicht jeder mag das Essen, eine Frau beklagt sich, dass es ihr zu fad sei. Vijo hat andere Sorgen: Er möchte Tischtennis spielen, schaut ehrfurchtsvoll zu den großen Jungs, die die Platte belegen. Geht er hier zur Schule? Er schüttelt den Kopf: Er sei bislang nicht in der Schule angemeldet.

Zwei Schulen gibt es im Umkreis des Flughafens. Zusätzlich eine auf dem Tegel-Gelände, eine sogenannte Willkommensschule für Kinder und Jugendliche aus dem Ankunftszentrum für ukrainische Kriegsgeflüchtete, die Platz für 300 Schüler hat. Kritiker wie Menschenrechtsorganisationen reden von einer „Lagerschule“, für sie ist ganz Tegel ohnehin ein „Lagerkomplex“. Ganz von der Hand zu weisen ist das nicht, das weiß auch das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF). Doch derzeit gibt es in Berlin, wo der Senat händeringend nach Unterkünften sucht und demnächst weitere 16 Containerdörfer bauen möchte, kaum eine Alternative.

Es ist Mittwochnachmittag, als es auch genau um das Thema geht: Wie menschen- und vor allem kindgerecht ist das Ankunftszentrum Tegel. LAF-Sprecher Sascha Langenbach führt Mitarbeiter von Unicef über das Gelände. Die Ausschussvorsitzende der Vereinten Nationen, Ann Skelton, ist nach Berlin........

© Berliner Zeitung


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