Die Welt, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Nur unter der Erde scheint sie, zweihundert Jahre nach der atomaren Katastrophe, noch recht in Ordnung. In gut organisierten Bunkern ist einer Schar an Überlebenden der Fortbestand der Zivilisation gelungen. In blaue Overalls gekleidet und mit einer Art überdimensionalen Smart Watch samt integriertem Geigerzähler am Arm leben sie in pittoresken Wohnparzellen zusammen; aus den Lautsprechern tönt lebhafter Swing. Der Look lässt sich als „retrofuturistisch“ beschreiben: Moderne Maschinen und Roboter treffen auf das bieder-brave Design der 1950er.

Erstaunlich guter Dinge sind die Bewohner des im Fokus stehenden „Vaults 33“. Vermutlich auch, weil sie sich als Auserwählte wähnen, die in wenigen Dekaden nach Draußen zurückkehren und den verwaisten Planeten wiederbesiedeln sollen.

Binnen weniger Minuten gelingt es den Serienschöpfern Lisa Joy und Jonathan Nolan (dem Bruder des „Oppenheimer“-Regisseurs Christopher) nicht nur, den besonderen Charme dieses unterirdischen Garten Eden zu etablieren, wie ihn Fans der als Vorlage dienenden Videospielreihe „Fallout“ bereits kennen. Über frühe Andeutungen, dass mit diesem seltsamen postnuklearen Paradies etwas so ganz und gar nicht stimmt, erzeugt der Auftakt allerdings auch für ein Publikum ohne Gaming-Erfahrung eine enorme Spannung.

Auf den Schwindel aufmerksam wird die gutgläubige Protagonistin Lucy (Ella Purnell) schließlich erstmals auf äußert schmerzhafte Weise: Ausgerechnet am Tag ihrer Hochzeit wird ihre Heimat ins Chaos gestürzt, als sich sowohl ihr Bräutigam als auch die vermeintlichen Festgäste eines benachbarten Bunkers als brutale Plünderer von der Erdoberfläche herausstellen. Sie massakrieren einen Großteil der Vault-Bewohner und entführen ihren Vater Hank (Kyle MacLachlan), den gewählten Vorsteher des Bunkers.

Die Erde wird also sehr wohl bevölkert. Auch scheint es, als wäre Lucys Vater bereits mit der Rädelsführerin der Räuberbande (Aixa Kendrick) vertraut. Um ihn aus ihren Fängen zu befreien, wagt sie sich schließlich selbst ins ominöse Draußen.

Mit einem frappierenden Feingefühl für die markante Mischung aus rauer Situationskomik, hintersinnigem Zynismus und derbem Witz der Spielreihe erzählt die achtteilige Serienadaption daraufhin von Lucys skurriler Odyssee durch das karge Ödland, das von Kalifornien nach der atomaren Katastrophe noch übrig ist. Eine Ordnung, gar Gesetze, gibt es dort nicht: Im Gerangel um rare Ressourcen gilt einzig das Recht des Stärkeren.

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08.04.2024

In den Begegnungen zwischen dem maroden Restbestand der Menschheit und der behütet aufgewachsenen Vault-Bewohnerin, der man nicht nur Etikette, sondern auch den kategorischen Imperativ von Kant und den Utilitarismus nach John Stuart Mill gelehrt hat, ergeben sich mitunter äußerst komische „Culture Clash“-Momente.

Durch diesen Humor verlieren der Gore, die immense Gewalt und blutrünstigen Kampfszenen, die „Fallout“ mindestens genauso sehr auszeichnen, vielleicht nicht ihr Schockpotenzial – ein Stück weit zumindest aber ihre Schwere.

Die erstaunliche Leichtigkeit ist allerdings auch der schieren Fülle an Groteskem, das diese verkommene Welt durchzieht, zu verdanken. Sie reicht von fiesen Fischmutanten, in deren Rachen statt spitzen Zähnen ein Bündel menschlicher Finger sprießt, über hochtechnisierte Ritter (Aaron Moten), die in Kampfroboterrüstung (angeblich) für das Gute streiten, bis hin zu Schauergestalten wie den „Ghouls“ (Walton Goggins), einer Art verstrahlter Zombies.

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Dass sich hinter dem abstrusen Anblick, den „Fallout“ als spaßiges Serienspektakel bietet, tatsächlich profunde Kritik an gefährlichen neoliberalen Trends findet wie der Privatisierung sicherheitsrelevanter staatlicher Strukturen, ist da eine wahre Überraschung. Über Rückblenden entwirren sich allmählich die Entwicklungen, die die Serien-Welt einst in den Abgrund stürzten. Ganz allmählich wird dabei auch von der Entstehung der „Vaults“ erzählt und der „Vault Tec“-Konzern in den Blickgenommen, der das Bunkersystem entwarf.

Am Ende ist „Fallout“ so nicht nur die gelungenste Videospieladaption seit „The Last of Us“. Unter der Führung von Lisa Joy und Jonathan Nolan, die bereits mit „Westworld“ ein großes Talent dafür bewiesen, über ein abseitiges Setting scharfe Gegenwartsbeobachtung zu betreiben, entlässt die Serie letztlich sogar mit einer sublim vorgebrachten, aber eindrucksvoll vermittelten Mahnung: Womöglich ist die Profitgier letztlich doch die größte aller Menschheitsbedrohungen. Denn Geld verdienen, das lässt sich selbst mit dem Ende der Welt.

Dass sich diese Mahnung nun ausgerechnet beim Streamingdienst eines der mächtigsten Unternehmen unserer Zeit findet, fühlt sich wie ein weiterer skurriler Witz an, wie er nur allzu gut zum „Fallout“-Universum passt.

Fallout Serie, 8 Episoden, Amazon Prime Video

QOSHE - „Fallout“ auf Amazon Prime Video: Gut gelaunt in den Weltuntergang - Arabella Wintermayr
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„Fallout“ auf Amazon Prime Video: Gut gelaunt in den Weltuntergang

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10.04.2024

Die Welt, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Nur unter der Erde scheint sie, zweihundert Jahre nach der atomaren Katastrophe, noch recht in Ordnung. In gut organisierten Bunkern ist einer Schar an Überlebenden der Fortbestand der Zivilisation gelungen. In blaue Overalls gekleidet und mit einer Art überdimensionalen Smart Watch samt integriertem Geigerzähler am Arm leben sie in pittoresken Wohnparzellen zusammen; aus den Lautsprechern tönt lebhafter Swing. Der Look lässt sich als „retrofuturistisch“ beschreiben: Moderne Maschinen und Roboter treffen auf das bieder-brave Design der 1950er.

Erstaunlich guter Dinge sind die Bewohner des im Fokus stehenden „Vaults 33“. Vermutlich auch, weil sie sich als Auserwählte wähnen, die in wenigen Dekaden nach Draußen zurückkehren und den verwaisten Planeten wiederbesiedeln sollen.

Binnen weniger Minuten gelingt es den Serienschöpfern Lisa Joy und Jonathan Nolan (dem Bruder des „Oppenheimer“-Regisseurs Christopher) nicht nur, den besonderen Charme dieses unterirdischen Garten Eden zu etablieren, wie ihn Fans der als Vorlage dienenden Videospielreihe „Fallout“ bereits kennen. Über frühe Andeutungen, dass mit diesem seltsamen postnuklearen Paradies etwas so ganz und gar nicht stimmt, erzeugt der Auftakt allerdings auch für........

© Berliner Zeitung


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