Die Reisen sind lange geplant, Flüge und Hotels gebucht, die Karten für die Ballettgala Ende Mai in der Deutschen Oper Berlin gekauft. Die Gäste kommen nicht nur aus Europa, sondern bis aus Australien, viele aus Japan. Sie alle wollen künftige Ballerinen und Tänzer in einer Gala auf der großen Berliner Bühne sehen – es sind die eigenen Kinder. Die Staatliche Ballettschule erlitt vor vier Jahren einen radikalen Imageschaden, aber noch setzt sich die Schülerschaft international zusammen. Umso heftiger schlug Anfang März die Nachricht ein: Die Ballettgala fällt aus, beide Termine sind ersatzlos gestrichen, Karten werden zurückgenommen.

Es klingt harmlos, ist aber eine Bankrotterklärung dieser Schule. Keinen einzigen eigenen Auftritt bekommt sie zustande. Niemand wusste von der Absage des Jahreshöhepunktes, nicht die Lehrkräfte, nicht die Schüler. Alles soll den Anschein erwecken, als habe die seit 2021 amtierende Schulleiterin Martina Räther die Entscheidung ganz allein getroffen. Die Bildungsverwaltung schweigt beflissen. Dabei hat sie den Skandal vor vier Jahren angerichtet, als sie die Führungskräfte der Schule aufgrund von absurden Gerüchten feuerte und durch wenig qualifiziertes Personal ersetzte.

Die Ballettschülerinnen und -schüler sind erschüttert, denn sie proben seit sechs Monaten für diese Gala. Sie haben sonst fast keine Auftrittsmöglichkeiten mehr, das Landesjugendballett ist abgeschafft und damit die Aufführungen im In- und Ausland. Es gibt auch keine Abende mit dem Staatsballett mehr, von ein paar wenigen „Dornröschen“-Vorstellungen für die Jüngsten abgesehen. Allen Schülern fehlt nun das Ziel für ihre kolossale Anstrengung, die Bewährung vor Publikum, unerlässlich für den Tänzerberuf. Von Bühnenerfahrung hängen künftige Engagements ab. Es ist, als würden Schwimmer oder Läufer ohne jeden Wettkampf zu Olympia geschickt, kein Trainer bei Verstand würde das zulassen.

Was also ist passiert? Offiziell erfolgte die Gala-Absage „aus organisatorischen Gründen“. Die Begründung ist falsch, plump und peinlich. Was genau sollte sich zwölf Wochen vor dem Termin nicht organisieren lassen? Näher kommt man den Gründen in einem Brief der amtierenden Schulleiterin an Eltern und Lehrer. Er liegt der Redaktion vor, beschreibt das Ausmaß des Scheiterns dieser Leiterin.

•gestern

06.04.2024

07.04.2024

07.04.2024

gestern

Sie schiebt alle Schuld für die Absage auf die Tanzlehrerinnen und Tanzlehrer. Es gebe Misstrauen, Frontenbildung, Falschbehauptungen, anonyme Beschwerden. Sie unterstellt den Lehrern, eine „Abneigung“ gegen den Kinderschutz auszuleben, Fortbildungen abzulehnen, „zukunftsweisende Ideen“ zu unterlaufen. Schlimmer, schon bei den letzten beiden Galas seien künstlerische Qualität und Gesundheitsschutz „nicht gewährleistet“ gewesen.

Die Tanzlehrer kennen keinen Vorfall. Sie fragen: Bei wem soll was passiert sein? Warum erfahren wir nichts davon? Wieso hat die Schulleitung die Auswertung der Gala 2023 verweigert? In einem Wutbrief an die Bildungsverwaltung verwahren sich die Tanzlehrer gegen die Unterstellungen. Es sei vielmehr die Schulleitung, die Kommunikation, Auftrittsmöglichkeiten, Weiterbildungsangebote versage, nicht mal auf Vorschläge der Tanzlehrer reagiere. Die Absage sei verantwortungslos, die Verunsicherung der Schüler groß.

18 von 20 Lehrern unterschreiben den Brief. Auch alle zwölf Pianisten, als Korrepetitoren nah am Geschehen, senden bestürzt eine Protestnote an die Verwaltung. Nie war der Zusammenhalt an der Schule größer. Offenbar kursiert sogar der Gedanke an eine Demonstration. Bei dem einst zerstrittenen Kollegium, das jahrelang jede Zumutung geschluckt hat, klingt das revolutionär.

Staatliche Ballettschule: Wie Denunziantinnen eine Berliner Institution beschädigten

31.01.2024

Der Berliner Ballettschul-Skandal: Innenansichten eines Rufmords

19.05.2021

Wie konnte es so weit kommen? Welchen Plan verfolgt die CDU-Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch mit der Schule? Undenkbar, dass eine amtierende Schulleiterin wie Räther, die ohne jeden Bezug zum Tanz in diese Position kam, eine existenzielle Entscheidung im Alleingang trifft.

Es gibt Hinweise auf eine länger geplante Absage. Zum Beispiel hatte die Schule für die Aufführung eines „Schwanensee“-Akts zur Gala offenbar nicht mal die Rechte beim Choreografen Patrice Bart eingeholt. Ein heikles Procedere: Im vergangenen Jahr bestand Bart für Szenen aus „Giselle“ in der Schulgala darauf, dass diese nur eine bestimmte Ballettmeisterin des Staatsballetts einstudieren darf. Dieses Jahr dagegen probten die Schüler seine Choreografie vom Video, schwierige Parts sollten gar aus der Urfassung dazu kommen – ein fröhlicher Mix! Da hätte Patrice Bart wohl ein Bömbchen geschnürt.

Egal, es gibt ja keine Gala. Übrigens auch im nächsten Schuljahr nicht. Mit dieser Botschaft schickte Martina Räther ihre Tanzlehrer in die Osterferien. Natürlich schürt das Angst um die Existenz der Schule.

Bevor wir uns Szenarien der Zukunft widmen, ein kurzer Rückblick zum Beginn des Aufruhrs 2020. Bis dahin war die Schule eine international renommierte Elite-Einrichtung mit Landesjugendballett, in der man seinen – indessen abgeschafften – Bachelor machen konnte, in der Absolventen von den besten Companien weltweit engagiert wurden.

Bis im Januar 2020 die RBB-„Abendschau“ behauptete, in der Ballettschule herrsche ein „Klima der Angst“ mit Drill und Magersucht, Kinder seien „Arbeitstagen von über 13 Stunden“ ausgesetzt. Als Zeugin diente eine frühere alkoholkranke Ballettlehrerin der Schule. Sie hatte zusammen mit drei anderen Frauen ein Dossier voller Denunziationen erstellt, das ging an Verwaltung und Presse. Der private Rachefeldzug zielte auf den Rausschmiss des Schulleiters Ralf Stabel und des Künstlerischen Leiters Gregor Seyffert, beide im Rang von Professoren an der Schule.

Hat geklappt. Nach der RBB-Sendung gerät die Politik unter Druck: Einige Vorwürfe verweisen auf ein Versagen der Schulaufsicht. Die hatte es nicht geschafft, zwei verbal übergriffige Tanzlehrer zu disziplinieren, obwohl die Schule Vorfälle „gemeldet“ hatte. Schulleiter dürfen nicht mal Abmahnungen aussprechen. Anstatt die Konflikte sauber zu prüfen, nehmen sich die damalige SPD-Senatorin Sandra Scheeres und ihre Staatssekretärin Beate Stoffers selbst aus der Schusslinie und belasten öffentlich die zwei Leiter der Schule, kündigen ihnen, verlieren alle sieben Gerichtsprozesse.

Schule und Führungskräfte sind überdies einem beispiellosen medialen Rufmord ausgesetzt, angeführt von zwei RBB-Autoren. Die ignorieren konsequent, dass die Vorwürfe gegen Stabel und Seyffert keinen Bestand haben, dass an dieser Schule nie Missbrauch nachgewiesen wurde, wie oft behauptet, dass die teuren Untersuchungskommissionen kein Opfer ans Licht fördern, keinen Täter, nur Vermutungen. Nie thematisieren sie, dass die Bildungsverwaltung Straftaten verkünden ließ, ohne sie prüfen zu lassen. Dass Verdachtsberichte schlicht nicht stimmten. Dass sich Schüler und Eltern gegen die mediale Zerstörung ihrer Schule wehren.

Jetzt, wo der nächste Skandal ansteht, sind die beiden Kollegen zur Stelle, machen im Info-Radio Stimmung gegen die Schule: Zu teuer, zerstritten, unreformierbar, in Grabenkämpfen „erstarrt“, sie verkünden Schließungsgerüchte. Schuld seien reformunwillige Tanzlehrer. In Wahrheit hat der Absage-Schock das Kollegium zusammengeschweißt.

Mitten in der Diskussion um die Gala-Absage verkündet die Bildungsverwaltung die „Rehabilitation von Prof. Seyffert“. Sie bedauert, dass in der öffentlichen Debatte „der Eindruck entstanden ist, dem Künstlerischen Leiter seien fachliche und künstlerische Verfehlungen vorzuwerfen“. Die hätten sich als gegenstandslos erwiesen. Ausdrücklich würdigt die Verwaltung seine Verdienste um die Entwicklung der Staatlichen Ballettschule, die unter seiner künstlerischen Leitung zu internationaler Ausstrahlung gelangt sei. Ein erstklassiges Dienstzeugnis gehört zu der Vereinbarung.

Unbegreiflich, dass die Verwaltung die Rehabilitierung des Schulleiters Ralf Stabel, promovierter Tanzwissenschaftler mit demselben Anteil am einstigen Erfolg der Schule, nicht zeitgleich veröffentlicht hat. Stattdessen lässt sie ohne Erklärung Raum für neue Spekulationen. Und das, nachdem sie zwei Karrieren zerstört hat. Das erinnert daran, dass die Senatorinnen wechselten, die Verwaltung aber blieb. Deren Justizvertreter führten die Prozesse bis zuletzt mit diffamierenden Anschuldigungen, sehr unappetitlich.

Die Einigung mit Seyffert verweist auf eine vermutlich größere Umstrukturierung der Schule: Sein Posten ist nun frei. In Wartestellung dürfte sich die fachlich umstrittene amtierende Chefin für Bühnentanz Doreen Windolf befinden, allerdings verantwortet gerade sie zusammen mit Martina Räther das große Scheitern. Nach drei Jahren an der Spitze kommt nicht mal eine Gala zustande.

Vor allem schwand das Renommee der Schule, seit dem Skandal werden nur wenige Kinder neu angemeldet. Die Schülerzahl sank von rund 300 auf 230, darunter geschätzt 100 Artisten. Das ließ die Kosten pro Schüler und Jahr von 20.000 auf 36.000 Euro explodieren, denn die Zahl der Lehrkräfte blieb.

Natürlich waren die beiden kommissarischen Leiterinnen an die Reform-Vorgaben gebunden, erstellt 2020 von einer „Expertenkommission“ ohne Tanzexperten. Einige absurde Vorgaben wurden wieder gecancelt, dramatisch blieb das Fehlen von Auftritten. Vielleicht sank tatsächlich die Leistungsfähigkeit der Schüler. Darauf deutet Räthers Aussage über die Kluft zwischen Kinderschutz und künstlerischer Qualität.

Wie erbittert Nachbarn in Berlin eine Ballettschule bekämpfen

21.12.2022

Was nun? Die RBB-Kollegen empfahlen schon vor Jahren, aus der Ballettschule eine Einrichtung für Tanz und Bewegung zu machen. Klar, man sieht sie vor sich, Räume für Hüpfen, Drehen, Springen, bloß keine Anstrengung, braucht auch keine Ballettlehrer. Oder war das lang diskutierte Tanzhaus für Berlin gemeint?

Man stelle sich solche Vorschläge für die John-Cranko-Schule Stuttgart vor, die Neumeier-Ballettschule Hamburg oder die Dresdner Palucca-Schule – Bürger gingen auf die Barrikaden. Aber im wurstigen Berlin, wo es „nur“ um eine Berliner Institution mit 73-jähriger Ost-Tradition geht, da schleudert der Öffentlich-Rechtliche flockig Schließungsvorschläge heraus. Indessen ist die Verwaltung angesichts der hohen Kosten unter Handlungszwang.

Ein Neuanfang könnte auch so aussehen, dass die tatsächlich komplizierten Schulstrukturen aufgelöst, Schul- und Ballettausbildung getrennt werden. Dann unterläge nur noch der Schulunterricht den rigiden Schulgesetzen. Die Tanzausbildung dagegen würde mit optimaler Förderung in der freien Zeit stattfinden, ermöglichte Auftritte am Abend oder Wochenende. Auch andere Ballett- und Eliteschulen arbeiten so. Es könnte zumindest die Ballettausbildung retten.

Wohin die Staatliche Ballettschule und Schule für Artistik tatsächlich steuert, erfährt die Belegschaft vielleicht am 12. April auf einer Schulversammlung. Der Termin klärt hoffentlich auch für Eltern in Übersee, ob sie noch mal zu einer Gala nach Berlin reisen oder für ihr Kind eine andere Schule suchen müssen.

QOSHE - Staatliche Ballettschule: Gala-Termine ersatzlos gestrichen – eine Bankrotterklärung - Birgit Walter
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Staatliche Ballettschule: Gala-Termine ersatzlos gestrichen – eine Bankrotterklärung

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09.04.2024

Die Reisen sind lange geplant, Flüge und Hotels gebucht, die Karten für die Ballettgala Ende Mai in der Deutschen Oper Berlin gekauft. Die Gäste kommen nicht nur aus Europa, sondern bis aus Australien, viele aus Japan. Sie alle wollen künftige Ballerinen und Tänzer in einer Gala auf der großen Berliner Bühne sehen – es sind die eigenen Kinder. Die Staatliche Ballettschule erlitt vor vier Jahren einen radikalen Imageschaden, aber noch setzt sich die Schülerschaft international zusammen. Umso heftiger schlug Anfang März die Nachricht ein: Die Ballettgala fällt aus, beide Termine sind ersatzlos gestrichen, Karten werden zurückgenommen.

Es klingt harmlos, ist aber eine Bankrotterklärung dieser Schule. Keinen einzigen eigenen Auftritt bekommt sie zustande. Niemand wusste von der Absage des Jahreshöhepunktes, nicht die Lehrkräfte, nicht die Schüler. Alles soll den Anschein erwecken, als habe die seit 2021 amtierende Schulleiterin Martina Räther die Entscheidung ganz allein getroffen. Die Bildungsverwaltung schweigt beflissen. Dabei hat sie den Skandal vor vier Jahren angerichtet, als sie die Führungskräfte der Schule aufgrund von absurden Gerüchten feuerte und durch wenig qualifiziertes Personal ersetzte.

Die Ballettschülerinnen und -schüler sind erschüttert, denn sie proben seit sechs Monaten für diese Gala. Sie haben sonst fast keine Auftrittsmöglichkeiten mehr, das Landesjugendballett ist abgeschafft und damit die Aufführungen im In- und Ausland. Es gibt auch keine Abende mit dem Staatsballett mehr, von ein paar wenigen „Dornröschen“-Vorstellungen für die Jüngsten abgesehen. Allen Schülern fehlt nun das Ziel für ihre kolossale Anstrengung, die Bewährung vor Publikum, unerlässlich für den Tänzerberuf. Von Bühnenerfahrung hängen künftige Engagements ab. Es ist, als würden Schwimmer oder Läufer ohne jeden Wettkampf zu Olympia geschickt, kein Trainer bei Verstand würde das zulassen.

Was also ist passiert? Offiziell erfolgte die Gala-Absage „aus organisatorischen Gründen“. Die Begründung ist falsch, plump und peinlich. Was genau sollte sich zwölf Wochen vor dem Termin nicht organisieren lassen? Näher kommt man den Gründen in einem Brief der amtierenden Schulleiterin an Eltern und Lehrer. Er liegt der Redaktion vor, beschreibt das Ausmaß des Scheiterns dieser Leiterin.

•gestern

06.04.2024

07.04.2024

07.04.2024

gestern

Sie schiebt alle Schuld für die Absage auf die Tanzlehrerinnen und Tanzlehrer. Es gebe Misstrauen, Frontenbildung, Falschbehauptungen, anonyme Beschwerden. Sie unterstellt den Lehrern, eine „Abneigung“ gegen den Kinderschutz auszuleben, Fortbildungen abzulehnen, „zukunftsweisende Ideen“ zu unterlaufen. Schlimmer, schon bei den letzten beiden Galas seien künstlerische Qualität und Gesundheitsschutz „nicht........

© Berliner Zeitung


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