Viel Dampf scheint im Kessel zu sein. Erst marschieren die Bauern nach Berlin, dann legt die Lokführergewerkschaft GDL den Schienenverkehr lahm. Auch Spediteure streiken und Hausärzte drohen mit Praxisschließungen. Die Blockade einer Fähre in Schleswig-Holstein, auf der Wirtschaftsminister Robert Habeck stundenlang festsaß, weckt Sorgen vor Ausschreitungen wie in Frankreich während der Gelbwestenproteste 2018 und 2019.

Was ist los im Land der Sozialpartnerschaft und der Konsensdemokratie? Der Gewerkschaftsexperte Wolfgang Schroeder sieht zunehmend Schwierigkeiten, soziale Konflikte nach alter Manier zu moderieren. Die Regierung muss mehr tun, um den gesellschaftlichen Frieden zu wahren, fordert er.

Herr Schroeder, wir erleben eine Woche der Streiks in Deutschland. Bauern, Spediteure, Lokführer und Hausärzte protestieren, legen die Arbeit nieder oder drohen damit. Was erleben wir da gerade?

Für Deutschland ist das, was wir gerade sehen, historisch gesehen untypisch. Die Bundesrepublik gilt als Verbändestaat. In der alten Bonner Republik bildeten die großen vier – Gewerkschaftsbund, der Bundesverband der deutschen Industrie, der Bauernverband und die Katholische Kirche – das Rückgrat für Politik und Wirtschaft. Sie organisierten routiniert Kampagnen, die auch lautstark sein konnten. Aber es gelang ihnen in der Regel, ihre Anhänger einzufangen, wenn mit dem Staat ein Kompromiss in Sicht war. In der Berliner Republik gibt es eine solche Konstellation nicht mehr. Es gibt mehr Akteure, mehr Konkurrenz zwischen den Interessengruppen und weniger Verlässlichkeit. So hat der Bauernverband nur eingeschränkt die Entwicklung unter Kontrolle. Die Konfliktdynamik geht über die reine Interessenvertretung im engeren Sinne hinaus. Die Rufe nach einem Regierungswechsel zielen auf das große Ganze.

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Die Vehemenz der Proteste ist also eine Folge der Schwächung der Verbände?

Ja. Die Entwicklung ist nicht neu. Für den Bauernverband war es einschneidend, als 2008 die Milchbauern sich in einem eigenen Verband organisiert haben. 2019 ging die Konfliktdynamik von einer im Internet sich bildenden Gruppe mit dem Namen „Land schafft Verbindung“ aus. Wir sehen auch bei den Eisenbahnern, dass sich zwei konkurrierende Gewerkschaften gegenüberstehen. Die Hausärzte haben im Vergleich zu anderen Ärztegruppen eine schwächere Position. Die Macht der Verbände erodiert in Deutschland schon seit einigen Jahrzehnten. Gerade erleben wir eine neue Etappe in der Schwächung des Verbändestaates.

Wie ist es dazu gekommen? Der Verbändestaat ermöglichte der Bonner Republik doch über Jahrzehnte Stabilität und sozialen Frieden.

Die Bundesrepublik hat sich nicht bewusst von einem bewährten Modell abgewandt. Vielmehr gab es seit den 80er-Jahren neue Herausforderungen, aber auch Chancen, um das etablierte System zu verlassen. Zum einen war dies der Globalisierung geschuldet. Immer mehr Aktivitäten und Entscheidungen finden gar nicht mehr im nationalen Raum statt. Die Interessen haben sich ausdifferenziert. Weitere treibende Faktoren sind gesellschaftliche Prozesse der Enttraditionalisierung und dann sicherlich auch das Internet mit seiner neuen Kommunikationsstruktur. Dennoch ist der Verbändestaat nicht am Ende. Die Akteure haben immer noch Einfluss. Wir sehen aber bei den Bauernprotesten, dass die Dinge in eine Richtung treiben können, die den Einfluss der Verbände übersteigen.

Weil Identitätskonflikte inzwischen die gesellschaftliche Debatte bestimmen? Die Ampel wird ja von einem Teil der Protestierenden mit einem Gesellschaftsmodell verknüpft, das abgelehnt wird.

Es ist kein Zufall, dass wir den Protest von Berufsgruppen erleben, die sich selbst als Teil der kritischen Infrastruktur verstehen und in einer Zeit der Krisen noch an Bedeutung gewinnen. Bauern ermöglichen die autarke Versorgung der Deutschen mit Lebensmitteln, Eisenbahner halten uns mobil, Spediteure transportieren unsere Waren, Ärzte halten uns gesund. All diese Gruppen fühlen sich angesichts ihrer Bedeutung für das Gemeinwohl durch politisch gewollte Veränderungen zu ihren Lasten in ihren Ressourcen und Planungshorizonten herausgefordert. Sie fordern Anerkennung; einen Platz in der Gesellschaft, entsprechend der von ihnen selbst wahrgenommen Rolle. Es geht aber auch um das Tempo der Veränderungen und die Art, wie sie von der Regierung in den Augen vieler ohne Sensibilität und einen aktiven Dialog durchgeboxt wurden. Das führt zu einer Anti-Establishment-Haltung.

Was hat die Ampel-Regierung falsch gemacht?

Scholz, Lindner und Habeck haben bei der Einigung über Einsparungen im Haushalt im Dezember den Eindruck vermittelt, als sei jetzt alles entschieden. Nicht einmal Agrarminister Cem Özdemir schien in die Entscheidungen über die Rücknahme der Dieselsubventionen und der Kfz-Steuerbefreiung für Landwirte maßgeblich involviert. Er hat die Beschlüsse dann ja auch kritisiert, ohne damit bei den Bauern wirklich zu punkten. Özdemir wirkte machtlos. Es ist zwar richtig, dass es den Bauern in Deutschland im Vergleich ökonomisch gut geht. Das zeigen alle Statistiken. Sie erhalten zudem ein Füllhorn an Subventionen vom Bund und der EU. Aber im Hinblick auf die Dieselsubventionen gilt auch, dass Traktoren nun mal nur mit Diesel laufen. Es hätte Formate gebraucht, die deutlich machen, wir erkennen die Leistung der Landwirte an und binden sie in die Entscheidungen über die Einschnitte mit ein.

Hätte die Regierung der Wut wirklich vorbeugen können? Sie sagen ja, es gibt eine Anti-Establishment-Haltung. Das macht doch Kompromisse schwierig.

Wir sollten die wütende Blockade der Fähre, auf der Robert Habeck festsaß, jetzt auch nicht überbewerten. Es gibt insgesamt in der Bevölkerung eine deutliche Mehrheit von rund 70 Prozent, die Vertrauen in den Staat hat und auch offen für Reformen ist. Sie ist auffallend still, während 30 Prozent mit ihrer Protesthaltung auffallen. Wir sind aufgrund multipler Krisen in einem Zyklus der Verteilungskämpfe, die zum Teil durch Identitätskonflikte an Dynamik gewinnen. Die Strukturen stehen unter Druck, aber es gibt nach wie vor ein belastbares Fundament rationaler Reformpolitik. Der deutsche Staat zeichnet sich durch Flexibilität aus. Bisher ist es auch gelungen, neue Akteure wie neu entstehende soziale Bewegungen in notwendige Vereinbarungen einzubinden.

Die Gefahr einer Art Gelbwestenbewegung in Deutschland sehen Sie nicht?

Französische Verhältnisse sind ein Schreckgespenst in Deutschland. Der Vorfall mit Robert Habeck war eine Konfliktsituation, die wir aus anderen Ländern kennen, die bei uns aber eher selten vorkommt. Die Regierung ist den Landwirten dann auch entgegenkommen und hat die Abschaffung der Kfz-Steuerbefreiung zurückgenommen. Bisher hat dies aber keine befriedende Wirkung. Jetzt ist die Ampel in einem Dilemma, wie weit sie den Bauern entgegenkommen kann, ohne andere auf den Plan zu rufen, die sich dann ähnlich vehement mit ihren Forderungen aufstellen. Die alte deutsche Konsensgesellschaft gerät erheblich unter Druck. Protestformen wie in Frankreich deuten sich an den Rändern an. Wir dürfen diese Zeichen nicht ignorieren.

Das klingt jetzt nach Zuversicht mit Fragezeichen. Ist die Schmerzgrenze der Veränderungsbereitschaft bei vielen Gruppen nicht vielleicht doch erreicht?

Eine objektive Schmerzgrenze kann ich bei den Berufsgruppen, die jetzt protestieren, nicht erkennen. Das geben die Zahlen über ihre materielle Lage nicht her. Im Gegenteil. Es ist vielmehr eine Konfliktdynamik in Gang gesetzt worden, die über den Verteilungskonflikt hinausreicht und von einer populistischen Anti-Establishment-Haltung geprägt ist. Ohne sichtbaren Dialog und andere Formen der Einbindung wird es deshalb schwer, die verhärteten Fronten wieder aufzulockern.

QOSHE - Bauernproteste: „Französische Verhältnisse sind ein Schreckgespenst“ - Cedric Rehman
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Bauernproteste: „Französische Verhältnisse sind ein Schreckgespenst“

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11.01.2024

Viel Dampf scheint im Kessel zu sein. Erst marschieren die Bauern nach Berlin, dann legt die Lokführergewerkschaft GDL den Schienenverkehr lahm. Auch Spediteure streiken und Hausärzte drohen mit Praxisschließungen. Die Blockade einer Fähre in Schleswig-Holstein, auf der Wirtschaftsminister Robert Habeck stundenlang festsaß, weckt Sorgen vor Ausschreitungen wie in Frankreich während der Gelbwestenproteste 2018 und 2019.

Was ist los im Land der Sozialpartnerschaft und der Konsensdemokratie? Der Gewerkschaftsexperte Wolfgang Schroeder sieht zunehmend Schwierigkeiten, soziale Konflikte nach alter Manier zu moderieren. Die Regierung muss mehr tun, um den gesellschaftlichen Frieden zu wahren, fordert er.

Herr Schroeder, wir erleben eine Woche der Streiks in Deutschland. Bauern, Spediteure, Lokführer und Hausärzte protestieren, legen die Arbeit nieder oder drohen damit. Was erleben wir da gerade?

Für Deutschland ist das, was wir gerade sehen, historisch gesehen untypisch. Die Bundesrepublik gilt als Verbändestaat. In der alten Bonner Republik bildeten die großen vier – Gewerkschaftsbund, der Bundesverband der deutschen Industrie, der Bauernverband und die Katholische Kirche – das Rückgrat für Politik und Wirtschaft. Sie organisierten routiniert Kampagnen, die auch lautstark sein konnten. Aber es gelang ihnen in der Regel, ihre Anhänger einzufangen, wenn mit dem Staat ein Kompromiss in Sicht war. In der Berliner Republik gibt es eine solche Konstellation nicht mehr. Es gibt mehr Akteure, mehr Konkurrenz zwischen den Interessengruppen und weniger Verlässlichkeit. So hat der Bauernverband nur eingeschränkt die Entwicklung unter Kontrolle. Die Konfliktdynamik geht über die reine Interessenvertretung im engeren Sinne hinaus. Die Rufe nach einem Regierungswechsel zielen auf das große Ganze.

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