Ercan Yasaroglu muss in seinem Café Kotti am Kottbusser Tor in diesen Tagen Seelen aufrichten. Gäste, die nach 2015 nach Deutschland geflüchtet sind, schütten dem Café-Besitzer mit der Löwenmähne und den markanten Gesichtszügen ihr Herz aus.

Ist jetzt die richtige Zeit, in einen Laden zu investieren? Empfiehlt sich ein Studium, das erst nach der regulär im Herbst 2025 anstehenden nächsten Bundestagswahl enden wird? Ist es besser, Deutschland zu verlassen, bevor die AfD stärkste Partei wird? Das sind einige der bangen Fragen, die Yasaroglu laut eigener Schilderung derzeit am Tresen des Kotti-Cafés gestellt werden.

Investigativ-Journalisten des Recherchenetzwerks Correctiv veröffentlichten Mitte Januar einen Bericht über ein Treffen von AfD- und CDU-Mitgliedern sowie Unternehmern mit Rechtsextremisten. Sie diskutieren unter anderem mit Martin Sellner, von 2015 bis 2023 Sprecher der Identitären Bewegung Österreichs, wie Millionen Menschen dazu gebracht werden könnten, Deutschland zu verlassen. Auch über die sogenannte Remigration von Deutschen mit ausländischen Wurzeln wurde gesprochen.

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Die Veröffentlichung der Recherchen über das Potsdamer Treffen hat die Republik aufgewühlt. Nach Schätzungen der Polizei gingen am Wochenende mehr 900.000 Menschen in Deutschland gegen die AfD auf die Straße. Politiker wägen das Für und Wider eines Verbots der Demoskopen zufolge zweitstärksten Partei in Deutschland ab. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa weist nach den Correctiv-Enthüllungen ein Minus der Partei in der Wählergunst von 1,5 Prozent auf. Der zweite Platz hinter der Union ist ihr immer noch sicher.

Mehr als 1,5 von insgesamt knapp 3,9 Millionen Berlinern haben nach Angaben des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg einen sogenannten Migrationshintergrund (Stand Juni 2023). Dazu zählen Deutsche, die mit einer nicht-deutschen Staatsangehörigkeit geboren wurden oder zumindest einen Elternteil aus einem anderen Land haben.

Der Anteil von Deutschen mit ausländischen Wurzeln beträgt in Kreuzberg 30 Prozent. Viele Familien stammen aus der Türkei und leben in der dritten Generation in dem Bezirk. Sie prägen den bei Touristen beliebten Kiez SO 36 mit vielen Restaurants, Bars und Clubs.

Die alteingesessenen Kreuzberger mit türkischen Wurzeln reagierten insgesamt gelassener auf die Enthüllungen von Potsdam als junge Geflüchtete etwa aus Syrien, erklärt Yasaroglu. „Ich sage ihnen, dass wir in Deutschland schon vieles erlebt haben, etwa die Republikaner und die Brandanschläge in den 90ern. Wir werden auch die AfD überstehen“, sagt der Cafébesitzer.

Ältere Kreuzberger mit türkischen Wurzeln fühlten sich nach Potsdam an die Diskussion Anfang der 80er-Jahre erinnert. Die Regierung unter Helmut Kohl bot Gastarbeitern aus der Türkei Geld an, wenn sie Deutschland verließen. Nur wenige nahmen die sogenannte Rückkehrhilfe an. Das Programm versandete ohne nennenswerten Einfluss auf die Demografie der Bundesrepublik.

Er beobachte unter Türkeistämmigen in Kreuzberg eine Trotzreaktion, sagt Yasaroglu. Vielen erschienen die in Potsdam diskutierten Pläne, Millionen Menschen aus dem Land zu zwingen, aberwitzig. „Ihre Familien sind in der dritten Generation hier. Kreuzberg ist ihre Heimat. Sie sagen, dann soll die AfD mal kommen.“

Er stellt auf den ersten Blick Erstaunliches fest. Unzufriedenheit mit der Regierung gebe es unter den Gewerbetreibenden und Mittelständlern türkischer Herkunft in Kreuzberg aus ähnlichen Gründen wie in AfD-Hochburgen. „Im Grunde hört man dieselben Klagen wie irgendwo auf dem Land in Sachsen“, sagt Yasaroglu.

Die Inflation setze den Inhabern von Cafés, Kneipen oder kleinen Läden im Kiez zu. „Wenn dann eine Steuernachzahlung von 5000 Euro kommt, dann kann das die Existenz gefährden“, sagt er. Die Wut auf eine als elitär wahrgenommene Politik habe in Kreuzberg wie anderswo in Deutschland in der Corona-Zeit begonnen. Damals litten Laden- und Restaurantbesitzer unter den Schließungen. Manche Türkeistämmige unterstützen sogar die AfD. „Die sind naiv. Oder sie wollen sich einschleimen, weil sie glauben, sie könnten sich Vorteile sichern“, sagt Yasaroglu.

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Der Inhaber des Café Kotti nimmt an den Demonstrationen gegen die AfD teil. Er ist davon überzeugt, dass sich auf den Straßen zeige, wie die Mehrheit der Deutschen denke. „Das sage ich auch zu jenen, die mich fragen, ob sie das Land verlassen sollten“, sagt er.

Yasaroglu glaubt, dass die meisten AfD-Wähler wieder für die politische Mitte gewonnen werden können. Das seien überwiegend keine Nazis, sagt er. „Die Politik kann das schaffen – so wie damals bei den Republikanern“, sagt er. Er empfiehlt mehr Klarheit und Volksnähe. „Politiker sollten sich vielleicht mal öfter in die Kneipe setzen und einfach zuhören.“

Ein Verbot der AfD lehnt Yasaroglu ab. Die Bundesrepublik sei kein autoritärer Staat. Außerdem könnten Gruppen aus Wut über ein Parteiverbot zur Gewalt greifen, warnt er. Er habe mehr Angst vor Brandanschlägen und Attacken wie in den sogenannten Baseballschläger-Jahren in den 90ern als vor der AfD. „Sie wird niemals an die Regierung kommen. Wir sind nicht Weimar. Wir haben aus der Geschichte gelernt.“

Die Sonnenallee im Nachbarbezirk Neukölln ist mit ihren Falafel- und Baklava-Läden das oft fürs Fernsehen gefilmte Zentrum der arabischstämmigen Community in Berlin. Die Nachrichtensendungen richten ihr Interesse allerdings eher selten auf das kulinarische Angebot. Der Ruf des Bezirks hat unter den Silvesterkrawallen im vergangenen Jahr und den Ausschreitungen bei pro-palästinensischen Kundgebungen seit Beginn des Gaza-Krieges gelitten. „Neuköllner Zustände“ gelten jenen als Warnung, die eine Überforderung der Gesellschaft durch Migration beklagen.

Die Integrationsbeauftragte von Neukölln, Güner Balci, muss Medien immer wieder Rede und Antwort stehen, wenn die Republik rätselt, wie der Berliner Bezirk wirklich tickt. Seit den Enthüllungen von Potsdam nimmt sie eine umgekehrte Rolle ein. Nun wollen Neuköllner mit Migrationshintergrund von ihr wissen, wie sie die Stimmung der deutschen Mehrheitsgesellschaft einschätzt.

„Das Entsetzen ist groß, weil in Potsdam ganz explizit gesagt wurde, was sie vorhaben“, sagt Balci. Bei Treffen mit Migrantenvertreten zu diversen Themen sei immer auch die AfD Thema gewesen. „Ich verweise dann auf die Stabilität unserer Demokratie. Die Demos bestätigen das auch“, sagt sie.

Melike Cinar, Vorstandsvorsitzende des Türkischen Elternvereins in Berlin-Brandenburg mit Sitz an der Oranienstraße, sorgt sich um eine Zunahme der Zukunftsangst bei jungen Menschen mit Migrationshintergrund.

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Einige Jugendliche fragten sich, ob es sich lohne, sich um Teilhabe an einer Gesellschaft zu bemühen, die sie in Teilen nicht im Land haben wolle. „Allerdings ist das für viele keine neue Erkenntnis. Der Anschlag von Hanau hat sich tief bei den jungen Menschen eingeprägt“, sagt Cinar. Ein rechtsextremer Attentäter erschoss im Februar 2020 in einem Lokal in Hanau gezielt neun junge Menschen mit Migrationshintergrund.

Migrantenvertreter sind sich in Berlin noch uneinig bei der Bewertung der Kundgebungen gegen die AfD. Melike Cinar spricht von einem ermutigenden Signal. Es müsse sich allerdings zeigen, wie nachhaltig der Protest wirke.

Der Berliner Migrationsrat äußert sich verhaltener. Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund fühlten sich nicht erst seit den Correctiv-Enthüllungen durch Rechtsextremisten bedroht, erklärt Edwin Greve vom Migrationsrat. „Erst jetzt ist für die Gesellschaft offenbar ein Punkt erreicht, an dem die Menschen auf die Straßen gehen“, sagt Greve.

QOSHE - Migranten in Berlin: „Kreuzberg ist ihre Heimat. Sie sagen, dann soll die AfD mal kommen“ - Cedric Rehman
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Migranten in Berlin: „Kreuzberg ist ihre Heimat. Sie sagen, dann soll die AfD mal kommen“

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Ist jetzt die richtige Zeit, in einen Laden zu investieren? Empfiehlt sich ein Studium, das erst nach der regulär im Herbst 2025 anstehenden nächsten Bundestagswahl enden wird? Ist es besser, Deutschland zu verlassen, bevor die AfD stärkste Partei wird? Das sind einige der bangen Fragen, die Yasaroglu laut eigener Schilderung derzeit am Tresen des Kotti-Cafés gestellt werden.

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Mehr als 1,5 von insgesamt knapp 3,9 Millionen Berlinern haben nach Angaben des Amtes für Statistik........

© Berliner Zeitung


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