Einmal mit Krücken um die Welt – oder zumindest durch die deutsche Hauptstadt. Das kann nur grausam sein, dachte ich anfangs. Tatsächlich hat die erzwungene Entschleunigung meinen Blick auf die Berliner Straßen und Menschen verändert.

Einen Gang zurückschalten, bitte: Ob Entzündung oder Bruch, so ganz klar ist das noch nicht – dabei zieht sich die Geschichte meines linken Fußes nun schon seit Sommer vergangenen Jahres in die Länge. Doch darum soll es jetzt nicht gehen. Vielmehr muss ich die prekäre Situation akzeptieren und auf Krücken durch Berlin gehen. Obwohl ich den Weg zur Redaktion seit dem Umzug des Berliner Verlages in die Karl-Liebknecht-Straße täglich bestreite, nehme ich ihn jetzt anders wahr.

Normalerweise checke ich auf dem Weg zur Arbeit die Nachrichten, höre dabei gelegentlich Musik von Phil Collins – den Kopf nach unten gerichtet, ohne Kapazitäten für mein Umfeld. Mit Krücken aber, oder besser ausgedrückt: Unterarmgehstützen, muss das Handy in der Tasche bleiben, genauso wie die Kopfhörer, immerhin braucht es Konzentration bei den Bahnübergängen. Nicht, dass es plötzlich von der BVG heißt: „Zurückbleiben bitte“, während ich zu „I Can't Stop Loving You“ vor mich hin träume. Deshalb heißt es für mich: Bahn frei für die maximale Sinneswahrnehmung.

Das deutsche Gesundheitssystem – ein Desaster? Meine Erfahrung in Berlin ist die Ausnahme

11.09.2023

Berliner im Urlaub verunglückt: Plötzlich querschnittsgelähmt und 60.000 Euro Schulden

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Während ich am Bahnsteig auf U-Bahn warte, schaut mir eine schöne Frau in die Augen, lächelt mich an. Mit einer Hand hält sie ihren Hut aus roten und blauen Blumen fest. Und auch so ist sie umgeben von Pflanzen, sodass ihre Kette aus Diamanten kaum auffällt. Wovon ich rede? Na, von dem „Falling in Love“-Plakat – der neuen Berliner Grand Show im Friedrichstadtpalast.

Es erinnert mich an meinen Besuch der Show „Arise“, wo die Liebe mit der Zeit zu kämpfen hatte und das Licht den Schatten besiegen musste. Was kitschig klingt und mir von den meisten Freunden zuvor als „langweilig“ oder „überflüssig“ verkauft wurde, hat bei mir Emotionen geweckt. Am Ende der Aufführung weinte ich sogar. Der Wettlauf mit der Zeit ist in unserer Gesellschaft nichts Neues mehr, doch davonrennen kann ich dieses Mal nicht. Wie gut, denke ich in diesem Moment am Bahnsteig, denn etwas Entschleunigung tut jedem mal gut.

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Nicht nur die Plakate ziehen meinen Blick an. In der U-Bahn schaue ich mir die Menschen so ganz ohne Mobiltelefon nun genauer an. Neben mir sitzt, wie ich finde, ein sehr gut aussehender junger Mann. Von der Seite kann ich nur die Farbe seiner Kleidung erkennen: Schwarz. Entgegen der Mehrheit trägt er keine Kopfhörer, sondern liest in einem Buch mit ebenfalls schwarzem Cover. Für einen klassischen Kriminalroman ist es wohl zu groß geraten. Jetzt bin ich neugierig: Was liest der junge Mann morgens um halb acht so gefasst in der Bahn? Ich spähe hinüber und lese genau ein Wort: Schöpfung. Jetzt macht es Klick: Die schwarze Kleidung ist eine Soutane, hier handelt es sich offenbar um einen Priester.

Die Frau gegenüber von mir hört zwar Musik, hat aber ebenfalls die Augen auf ihr Buch gerichtet. Den Titel kann ich noch nicht vollständig erkennen, denn sie verdeckt ihn mit ihren dunkel lackierten Nägeln – Berlin liebt offensichtlich Schwarz. Erst lese ich nur „rdi“ auf dem hellgrünen Cover. Das muss wohl ein Buch über Bacardi-Cocktails sein, denke ich. Doch dann blättert sie um und ich lese: Verdi. Welch ein Fauxpas meinerseits! Denn wer wie ich schon jahrelang Klavier spielt, sollte einen der bekanntesten Opernkomponisten, also Giuseppe Verdi, wohl nicht mit einer Spirituose verwechseln.

Auch wenn so gern über die Berliner oder allgemein die Deutschen, ihre Pingeligkeit, Disziplin oder angebliche Humorlosigkeit hergezogen wird, kann ich, was die Höflichkeit angeht, nur Gutes berichten. Sie sind so hilfsbereit, wollen mir einen guten Platz frei machen, sodass es mir fast schon unangenehm ist. In der Bahn wird für mich aufgestanden, auf dem Gehweg fragt man freundlich, was denn nur passiert sei – vielleicht auch etwas nervig, aber durchaus nett!

Weiter geht’s in Richtung Alexanderplatz – Finale. Hier begegne ich nun auch täglich Karoline Herfurth – zumindest auf einem großen Werbeplakat für die neue Komödie „Eine Million Minuten“. Ganz ehrlich, so lang kommt mir mittlerweile auch der Weg zur Arbeit vor. Doch missen möchte ich ihn nicht, denn der entschleunigte Gang hat so einige Erinnerungen und Emotionen in mir geweckt. Bis zur Berlinale sind die Krücken hoffentlich Geschichte, doch den genaueren Blick auf die Umgebung und die Menschen der Metropole möchte ich beibehalten.

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QOSHE - Mit Krücken durch Berlin: Wie die erzwungene Entschleunigung den Blick auf die Stadt verändert - Chiara Maria Leister
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Mit Krücken durch Berlin: Wie die erzwungene Entschleunigung den Blick auf die Stadt verändert

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04.02.2024

Einmal mit Krücken um die Welt – oder zumindest durch die deutsche Hauptstadt. Das kann nur grausam sein, dachte ich anfangs. Tatsächlich hat die erzwungene Entschleunigung meinen Blick auf die Berliner Straßen und Menschen verändert.

Einen Gang zurückschalten, bitte: Ob Entzündung oder Bruch, so ganz klar ist das noch nicht – dabei zieht sich die Geschichte meines linken Fußes nun schon seit Sommer vergangenen Jahres in die Länge. Doch darum soll es jetzt nicht gehen. Vielmehr muss ich die prekäre Situation akzeptieren und auf Krücken durch Berlin gehen. Obwohl ich den Weg zur Redaktion seit dem Umzug des Berliner Verlages in die Karl-Liebknecht-Straße täglich bestreite, nehme ich ihn jetzt anders wahr.

Normalerweise checke ich auf dem Weg zur Arbeit die Nachrichten, höre dabei gelegentlich Musik von Phil Collins – den Kopf nach unten gerichtet, ohne Kapazitäten für mein Umfeld. Mit Krücken aber, oder besser ausgedrückt: Unterarmgehstützen, muss das Handy in der Tasche bleiben, genauso wie die Kopfhörer, immerhin braucht es Konzentration bei den Bahnübergängen. Nicht, dass es plötzlich von der BVG heißt: „Zurückbleiben bitte“, während ich zu „I Can't Stop Loving You“ vor........

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