Mit den beiden Kindern lief an diesem Vormittag alles glatt. Überpünktlich konnte Daniel Siebert seinen Nachwuchs in der Kita abliefern, sitzt schon gut eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit im Café in Köpenick.

Einen Tee hat er schon trinken können, für das knapp einstündige Gespräch bestellt er noch eine Portion Rührei mit Lachs und einen Cappuccino. Dann ist der Berliner Bundesliga-Schiedsrichter bereit für die Fragen rund um die vielen derzeit heiß diskutierten Themen.

Herr Siebert, mögen Sie eigentlich Tennis?

Mag ich und spiele ich auch. Mit Kollegen und einem meiner Assistenten, eigentlich regelmäßig. Mittlerweile aber ein bisschen weniger – seit die Kinder da sind, bleibt weniger Zeit. Aber an sich spiele ich sehr gerne Tennis. Als Sportwissenschaftler und Sportlehrer probiere ich viele Sportarten aus. Als Schiedsrichter ist es wichtig, nicht nur monoton zu trainieren. Tennis zu spielen, fördert Eigenschaften, die ich auch als Schiedsrichter benötige.

Und haben Sie ein paar Bälle von den Protesten in den Stadien mitgenommen?

Ich glaube, die Aktienkurse des Herstellers müssen bestimmt nach oben geschossen sein. (lacht)

Aus Schokotalern wurden Tennisbälle und daraus bei Ihnen während eines Spiels in Köln sogar funkferngesteuerte Autos. Wie erlebt man das als Schiedsrichter?

Mich wundert es immer, wie die Leute die ganzen Dinge in dieser Masse ins Stadion reinbekommen. Das kann ja bei so einer Vielzahl von Tennisbällen nicht nur mit grünem Licht von ein paar Ordnern funktionieren. Über die ferngesteuerten Autos musste ich schon kurz schmunzeln. Und dann fahren die auch noch!

Was wäre eine Steigerung gewesen?

Der Kreativität sind da anscheinend keine Grenzen gesetzt. Keine Ahnung, was als Nächstes gekommen wäre.

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19.03.2024

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•gestern

Aber Sie waren schon froh, mal wieder ein Spiel ohne Unterbrechungen zu haben.

Natürlich, aber es wird sich jetzt gelegt haben. Die Ultras haben ihr Ziel ja auch erreicht.

Und wie war es auf dem Feld mit diesen Protesten?

Problematisch war es, wenn die Aktionen wiederholt und permanent stattgefunden haben, die Unterbrechung sich dadurch hingezogen hat und wir teilweise sogar in die Kabinen gehen mussten. Wir wussten im Vorfeld immer nur, dass etwas kommt, dass etwas geplant ist – darauf konnten wir uns also einstellen. Aber nicht auf den Zeitpunkt, die Art und Weise, den Umfang und die Länge.

Wie knapp stand die Bundesliga wegen der Proteste vor einem Spielabbruch?

Bei einigen Spielen hat nicht mehr viel gefehlt. Wir hatten aber einen mehrstufigen Plan für den Umgang mit den Unterbrechungen, der für alle transparent war. Ich glaube: Die allerletzte Stufe, den Spielabbruch, wollten die beteiligten Fans nie riskieren. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ein potenzieller Investoreneinstieg höhere Bedeutung hat als der Erfolg des eigenen Vereins. Niemand möchte einen Spielabbruch herbeiführen und die Punkte eventuell am „grünen Tisch“ verlieren.

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Was einmal klappt, geht vielleicht auch ein zweites Mal. Muss man weitere Proteste fürchten, wenn den Fans etwas missfällt?

Die Frage ist, ob es Themen geben wird, die den Fans missfallen. Wenn ja, könnten natürlich auch Proteste wieder vorkommen. Der Investorendeal ist zwar vom Tisch, die Fernsehgelder und die damit verbundenen Anstoßzeiten und Vermarktungen könnten jedoch ein weiterer Anstoß für eine solche Entwicklung sein. Wir hoffen aber, dass der Fußball jetzt wieder im Vordergrund steht.

Wünscht man sich bei all diesen Protesten und dem Druck von außen nicht vielleicht auch mal wieder Geisterspiele zurück?

Geisterspiele sind zwar viel einfacher zu pfeifen als Spiele mit Kulisse. Aber trotzdem fehlt einem die wichtigste Essenz: die Fans. Ich bin froh, dass sie wieder da sind.

Auch, wenn sie gegen bestimmte Entscheidungen sind und ihren Unmut äußern?

Das ist mittlerweile Routine, daran hat man sich gewöhnt. Ich beschwere mich nicht, wenn Fans meine Entscheidungen kritisieren – das würde ich als Fan vielleicht genauso machen, wenn ich das Gefühl habe, dass der Schiedsrichter gegen meinen Verein pfeift. Fans sind ja nicht neutral, sondern für ihren Klub eingenommen. Das gehört dazu, damit müssen wir umgehen und schaffen das auch. In den meisten Fällen sind die Proteste absolut moderat und nicht schädlich für die eigene Person. Trotzdem wünsche ich mir, wie jeder Schiedsrichter, natürlich mehr Verständnis und Fairness für unsere Tätigkeit. Wir sind genauso Sportler wie die Spieler. Und wenn wir Fehler machen – wie jeder Mensch –, dann geschieht das natürlich nicht mit Absicht.

Sie haben bei den Geisterspielen alles auf dem Platz gehört. Sind Sie da eigentlich sensibler mit den Spielern umgegangen?

Eher andersrum.

Warum?

Weil die Spieler mitbekommen haben, dass da Außenmikrofone sind, die alles aufgenommen haben, was auf dem Feld gesprochen wird. Corona hat gezeigt, dass es auch fair und ohne ständiges Protestieren oder Reklamieren geht. Die Entscheidungen wurden akzeptiert, weil man relativ schnell mitbekommen hat, dass ein Spieler, der permanent reklamiert, eine erhöhte Aufmerksamkeit auf sich zieht. Da wurden relativ schnell Gelbe Karten gezeigt, die wir auch zeigen mussten, weil es jeder mitbekommen hat und für uns sonst ein Autoritätsverlust die Folge gewesen wäre. Als sich alle an die Rahmenbedingungen gewöhnt hatten, wurde der Schiedsrichterjob auch leichter. Ich konnte mich voll und ganz auf meine Aufgaben konzentrieren, ohne dass mich Spieler ständig beeinflussen wollten. Das ist jetzt wieder anders.

Und wie?

Es hat sich wieder in die andere Richtung gedreht. Die Spieler reklamieren wieder mehr und fordern häufiger Karten für den Gegner. Sie versuchen, die Entscheidungen zu beeinflussen. Und das Meiste davon bekomme nur ich als Schiedsrichter mit.

Sie sagten, dass Sie mit dem Druck von außen gut umgehen können. Wie gelingt Ihnen das?

Wir sind beim DFB breit aufgestellt. Uns stehen sowohl ältere Kollegen als auch Experten aus anderen Bereichen grundsätzlich als Gesprächspartner zur Verfügung. Wir haben auch die Möglichkeit, sportpsychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das habe ich schon getan, als die mentale Belastung sehr groß und ich hoch frequentiert im Einsatz war. Wenn man einen Drei-Tage-Rhythmus aus Dienstag/Mittwoch Champions League, dann wieder DFB-Pokal, am Wochenende Bundesliga und danach auch noch ein wichtiges Länderspiel hat, muss man es schaffen, nach jedem Spiel wieder runterzukommen, die mentale Batterie wieder aufzuladen und im Kopf frisch zu sein – da spricht man dann auch mal mit einem Sportpsychologen.

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Und wie gehen Sie mit dem sportlichen Druck auf dem Feld um?

Wie man den Entscheidungsdruck auf dem Feld verarbeitet, entwickelt sich über die Jahre. Man fängt im Amateurbereich an – da gibt es in den höheren Spielklassen auch schon Leistungsdruck, aber man weiß, dass die mediale Aufmerksamkeit viel geringer ist, man in der Regel kein Live-Spiel hat und nur ganz selten um ein Interview gebeten wird. Aber man hat auch da schon gewisse Widerstände, mit denen man umgehen muss – die Anforderungen wachsen von Liga zu Liga, das Spiel wird schneller, die Spieler werden abgezockter, und man wächst immer stärker in die Rolle rein. Wenn man dann in der Bundesliga angekommen ist, hat man diese ganzen Qualitäten schon und muss sie nicht erst noch erlernen. Man hat sich ja vorher dafür qualifiziert, entwickelt seine persönliche Strategie und passt diese immer weiter den Gegebenheiten an.

Das kann aber nicht jeder.

Nein, deshalb muss man das lernen. Früher habe ich etwas länger gebraucht, heute ist ein Spiel schneller verarbeitet. Ich würde aber jetzt auch noch länger brauchen, wenn beispielsweise etwas passiert, das ich noch nie erlebt habe.

Wie wichtig ist die Familie – als Rückhalt und Rückzug?

Total wichtig. Die Familie ist mein großes Glück, bei ihr kann ich komplett vom Fußball abschalten. Wenn ich mit meinen kleinen Kindern spiele oder mit meiner Frau Zeit verbringe, denke ich nicht an Fußball und lasse mich voll auf ihre Welt ein. Ich bin da auch noch ein bisschen ein kleines Kind im großen Mann. (lächelt) Es ist schön, dass man da abschalten kann. Wenn ich zu Hause bin, dann bin ich auch professioneller Papa und kümmere mich um die Kinder und helfe meiner Frau, zumal sie ja sonst viel allein ist.

Ist Fußball privat kein Thema für Sie?

Doch, natürlich ist das ein Thema, das geht auch gar nicht anders. Ich schaue mir in meiner Freizeit schon sehr viele Spiele oder zumindest Zusammenfassungen an. Das erwarte ich von mir selbst auch, das ist mein Anspruch. Ein moderner Schiedsrichter muss auf dem aktuellen Stand sein.

Warum ist Ihnen das so wichtig?

Wenn ich am nächsten Wochenende Mannschaft A gegen Mannschaft B pfeife, muss ich wissen, was in ihren Spielen davor passiert ist. Weil die Vereine mich mit Entscheidungen in diesen Spielen möglicherweise konfrontieren. Außerdem geben Ereignisse aus vorangegangenen Spielen immer Impulse zur Kontaktaufnahme: Wenn jemand zum Beispiel im letzten Spiel ein tolles Tor geschossen hat, beglückwünsche ich ihn bei meinem Spiel. Dann ist das Eis schon vor dem Spiel gebrochen, und es herrscht eine ganz andere Beziehung zwischen Schiedsrichter und Spieler.

Sie wohnen hier in Köpenick. Wie ist Ihre Beziehung zum Stadion An der Alten Försterei?

Zu einem Stadionbesuch bin ich in diesem Jahr bislang genauso wenig gekommen wie zum Tennisspielen. Aber wenn es die Zeit zulässt, gehe ich schon mal mit meiner Frau zu Union oder auch zur Hertha. Das letzte Spiel in der Alten Försterei war ein Youth-League-Spiel gegen Neapel. Das hat zeitlich gepasst, und ich wollte drei meiner ehemaligen Schüler wiedersehen.

Lieber zum 1. FC Union Berlin oder zur Hertha BSC?

Lieber zu Union, weil der Weg jetzt kürzer ist. (lacht)

So diplomatisch können Sie beim Thema Videoschiedsrichter (VAR) nicht sein. In anderen Ländern und anderen Sportarten wird der von den Fans als Teil des Spiels angenommen. Warum funktioniert das im deutschen Fußball nicht?

In der NFL beim American Football gibt es den Videobeweis schon länger, dort ist er voll und ganz akzeptiert. Es ist auch eine andere Sportart mit weniger Graubereichen bei der Regelauslegung. Im Fußball entwickelt sich der VAR aber weiter, es ist ein stetiger Prozess, und die Gewöhnungsphase ist noch nicht abgeschlossen – das gilt übrigens längst nicht nur für Deutschland. Vor sechseinhalb Jahren war der VAR hier für alle neu. Anfangs gab es den Gang zum Monitor nach vermeintlichen Fehlentscheidungen noch nicht – wenn der VAR sagte, dass es Elfmeter geben muss, dann haben wir den Elfmeter auch gegeben, ohne On-Field-Review. Davon sind wir längst weg, der Gang an den Monitor ist in den meisten Fällen obligatorisch, danach trifft der Schiedsrichter die finale Entscheidung. Denn er ist der Boss und nicht der Videoassistent.

Aber vielen Fans in Deutschland fehlt die Transparenz.

Die Voraussetzungen sind auch nicht in jedem Stadion gleich. Gewisse Dinge mögen im Berliner Olympiastadion oder in der Münchner Allianz-Arena funktionieren, aber vielleicht nicht in kleineren Stadien, weil da eventuell die technischen Voraussetzungen fehlen. Man kann allerdings nur Neuerungen einführen, wenn sie auch wirklich in allen Stadien umsetzbar sind. Der jetzige Stand wird sicherlich nicht für immer so bleiben, der VAR, das System, wird sich dem Fußball anpassen. Und sicherlich kann es irgendwann dazu kommen, dass ein Schiedsrichter seine Entscheidung nach dem On-Field-Review per Durchsage über ein Stadionmikrofon begründet. Es könnte auch kommen, dass die Zuschauer auf der Videowall im Stadion die Entscheidung sehen, die überprüft wird. Man könnte irgendwann vielleicht auch die Kommunikation zwischen Schiedsrichter und VAR live hören – das sind alles Dinge, über die nachgedacht und an denen gearbeitet wird.

In der NFL ist man da schon weiter.

Wenn ich das richtig überblicke, sind es dort aber auch mehr faktische Entscheidungen, bei denen es keinen Ermessensspielraum gibt. Anlass für Kritik bieten im Fußball vor allem die subjektiven Entscheidungen: Ist es Rot oder Gelb, ist es ein Foulelfmeter oder ein regelkonformer Zweikampf, ist es ein strafbares Handspiel oder nicht? Die Graubereiche sind im American Football eben nicht so groß. Selbst bei Foulspielen gibt es dort klarere Regelungen, die faktisch statt subjektiv bewertet werden können.

So subjektiv wie das Foulspiel von Robin Knoche beim Nachholspiel des 1. FC Union Berlin in Mainz, für das es Elfmeter hätte geben müssen?

Genau, da hat der Schiedsrichter im Nachhinein auch gesagt, dass er auf dem Platz lieber anders entschieden hätte.

Wie kann man solche Szenen künftig vermeiden?

Fehler passieren leider. Aber: Jeder Fehler darf nur einmal passieren. Ich bin mir ziemlich sicher: Wenn, wie in diesem Fall, ein Spieler im Gesicht massiv blutet, dann ist das ein Indiz dafür, dass der Spieler im Gesicht getroffen worden sein muss. Das sollte ein Beweggrund sein, lieber einmal mehr an den Monitor zu gehen und zu schauen, was die Ursache ist. Wenn man diese Hürde überwunden hat, ist man von der richtigen Entscheidung nicht mehr weit weg. Und wenn man dann diese Bilder sieht, erkennt man, dass es in diesem Fall ein Strafstoß ist. Das ist also der Lerneffekt.

Diskussionen gibt es weiterhin nach jedem Spieltag. Macht der VAR die Arbeit eines Schiedsrichters aber wirklich einfacher?

Das war vielleicht die zu hohe Erwartung an den Videoassistenten. Jeder dachte: Jetzt haben wir den VAR, nun wird alles zu 100 Prozent gerecht. Das aber kann er nicht leisten. Wir werden im Fußball nie 100-prozentige Gerechtigkeit haben, weil die Vereine, Spieler und Fans die meisten Szenen, die im Graubereich liegen, zu ihren Gunsten auslegen werden. So haben wir immer zwei Parteien und ein Ungleichgewicht in der Beurteilung. Außerdem sind auch Videoassistenten nun mal Menschen und machen gelegentlich Fehler. Trotzdem hat der VAR den Fußball fairer gemacht, gerade die faktischen Situationen wie Abseits funktionieren wunderbar. Es gibt kein Tor mehr durch Abseits, und Tore, bei denen auf dem Platz fälschlicherweise auf Abseits entschieden wurde, zählen nach der Überprüfung. Diese Diskussionen gibt es gar nicht mehr. Es gibt auch weniger Tätlichkeiten und Schwalben im Strafraum.

Aber über subjektive Entscheidungen wird weiter diskutiert.

Auch da haben wir eine sehr gute Quote von weit über 90 Prozent, übrigens schon vor dem VAR, aber der VAR hat die Quote noch einmal gesteigert. Wir werden keine 100 Prozent erreichen, aber wir können schon zufrieden sein. Außerdem: Zeigen Sie mir den Stürmer, der aus 90 Prozent seiner Schüsse ein Tor erzielt. Welcher Verteidiger gewinnt regelmäßig 90 Prozent seiner Zweikämpfe? Welcher Spieler hat in mehreren Spielen am Stück eine Passquote von weit über 90 Prozent? Fehler werden immer menschlich sein und bleiben, das gilt für die Schiedsrichter genauso wie für die Spieler.

Das klingt nach einer umgekehrten Betrachtung der Leistungen.

Richtig. Wir müssen dahin kommen, dass die Öffentlichkeit über die 97, 98 Prozent richtigen Entscheidungen eines Schiedsrichters redet und nicht nur über die zwei, drei Prozent, die falsch sind, wie bei Mainz gegen Union und bei mir zuletzt bei Köln gegen Bremen. Wir sprechen immer nur über diese Szenen und nicht über die große Mehrheit der Entscheidungen, die wirklich gut sind. Bei einem Stürmer ist das anders – der trifft neunmal nicht, aber macht mit seinem zehnten Schuss in der Nachspielzeit das Siegtor und wird dafür von allen gefeiert. Dann redet kaum noch jemand über die neun Fehlschüsse zuvor.

Sie sind auch selbst als Videoassistent im Einsatz. Ist das anstrengender als der Job auf dem Platz?

Der Job des Videoassistenten ist anders anstrengend, es ist eine andere Rolle als auf dem Platz. Es gibt als VAR so viele Sachen zu prüfen – eine mögliche Abseitsposition vor dem Tor, Zweikämpfe, war der Ball im Aus, und am Ende gab es vermeintlich ein Handspiel durch den Torschützen. Wir mussten zuletzt klären, ob es bei einem Tor vorher die Hand vom Torschützen oder vom Verteidiger war, die den Ball berührt hat. Das war sehr schwierig herauszufinden, hat etwas länger als eine Minute gedauert, weil wir alle Perspektiven sichten mussten, um dann zu erkennen, dass es der Verteidiger war und das Tor somit zählen durfte.

Und das dauert dann manchem Fan und Spieler zu lange.

Ja, aber wenn jetzt ein Fernsehsender kommt und dir beweist, dass es doch der Stürmer war, dann bin ich dran. Dann habe ich ein Tor bestätigt, das irregulär war. Das ist keine Szene im Graubereich. Ich bin verantwortlich, deshalb muss ich das genau checken. Diese Szene war komplex. Aber am Ende stand die richtige Entscheidung, und da gilt: Sicherheit vor Schnelligkeit. Das sollte auch im Sinne der Fans sein – an einer solchen Entscheidung kann die Meisterschaft oder der Abstieg hängen.

Inwiefern können Schiedsrichter-Dokumentationen, die jetzt mit Body-Cams entstehen sollen, bei Fans für eine Sensibilisierung in der Bewertung von Schiedsrichtern sorgen?

Da bin ich der falsche Ansprechpartner, das müsste man die Fans fragen.

Aber glauben Sie, dass es helfen kann?

Ich hoffe es, aber ich bin auch skeptisch. Der Schiedsrichter wird für viele immer nur dann relevant, wenn er eine Entscheidung trifft, von der die Mannschaft eines Fans betroffen ist. Ansonsten bin ich als Schiedsrichter nach meinem Verständnis kein Teil der Show. Ich bin da, um Entscheidungen zu fällen und meinen Job zu machen. Aber ich würde mich nie inszenieren, um Teil der Show zu sein. Ich bin froh, dass wir jetzt hier im Café sitzen können und mich niemand erkennt. Ein Union-Spieler könnte hier nicht einfach so sitzen, ohne angesprochen zu werden.

Sehen Sie Fußball als Show?

Es ist ein Stück Entertainment. Klar ist es Sport, aber mittlerweile eben auch Entertainment, in das viel Geld investiert wird. Wenn man den Leuten etwas über den Sport hinaus anbietet, lässt sich das vermarkten und hat einen Mehrwert für Spieler und Verein. Das kann aber natürlich auch zum Bumerang werden – also neben dem Segen zugleich ein Fluch sein, wenn man beispielsweise den Fokus verliert.

Aber das wollen ja viele Fans eigentlich auch nicht.

Ja, das denke ich auch. Alles sollte im Rahmen bleiben. Das fängt aber schon im Kleinen an. Ein Spieler muss sich bewusst sein, dass er, wenn er ein Tor beispielsweise als Batman und Robin (Reus/Aubameyang beim BVB-Sieg im Revierderby gegen Schalke, Anm. d. Red.) oder mit einer Spiderman-Maske (der Ex-Unioner Sheraldo Becker beim 4:2-Sieg vergangene Saison gegen Freiburg, Anm. d. Red.) feiert, damit eine gewisse Aufmerksamkeit erzeugt. Da weiß doch ein Spieler, dass die Kameras drauf sind und das gezeigt wird. Das ist Show, das ist Entertainment. Wenn sie nicht so jubeln würden, dann würde man nur über das Tor und über den Sport reden.

Wie passt da eine Blaue Karte, eine Zeitstrafe, über die im Moment wieder nachgedacht wird, als zusätzliches Element in diesen Kontext? Was gibt die dem Fußball?

Als Schiedsrichter ist man auch ein Stück weit Manager und muss auf dem Feld 22 individuelle Charaktere betreuen. Mit der Zeitstrafe bekäme man als Schiedsrichter ein weiteres Tool in seinen Werkzeugkoffer. Man hätte dann nicht mehr nur die Wahl zwischen nichts, Gelb, Gelb-Rot und Rot, sondern auch noch eine weitere persönliche Strafe, die das Handlungsspektrum erweitert. Aber fürs Erste wird die Blaue Karte nicht kommen, die Fifa ist dagegen.

Aber es würde die subjektive Bewertung auch zusätzlich erschweren.

Als Fan kann man natürlich nicht erwarten, dass man mit der Zeitstrafe keine Diskussion mehr hätte. Mit einem neuen Tool gäbe es wieder neue Fragen zu bestimmten Entscheidungen: Warum gibt es in einer Situation Blau und nicht Gelb oder Rot? Wie bei der Einführung des VAR würde auch mit der Blauen Karte also nicht alles zu 100 Prozent gerecht und immer nachvollziehbar. Es bestünde die Gefahr, dass wir dann über den Einsatz der Blauen Karte diskutieren und ihre Abgrenzung zur Gelben und zur Roten Karte.

Und dass wieder Tennisbälle fliegen …

Das glaube ich nicht, da es den Fan nicht in seinem Urinteresse stört. Die Absicht bei Regeländerungen ist immer, den Fußball zu verbessern und eigentlich zu vereinfachen. Und da waren in der Vergangenheit wirklich tolle Regeländerungen dabei.

Haben Sie ein paar Beispiele?

Dass der Abstoß nicht mehr aus dem Strafraum gespielt werden muss, finde ich sehr gut. Ich habe nie verstanden, warum das vorher anders war. Jetzt kann der Torwart den Ball kurz spielen und der Mitspieler den Ball im Strafraum annehmen. Eine sinnvolle Regeländerung ist auch, dass bei Freistößen kein gegnerischer Spieler mehr in der Mauer stehen darf und damit kein unnötiges Gerangel entsteht. Oder der Schiedsrichterball, den jetzt die Mannschaft bekommt, die vor einer Unterbrechung zuletzt den Ball hatte. Einige Regeln und Änderungen scheinen aber noch gar nicht so richtig in der Öffentlichkeit angekommen zu sein.

Woran erkennen Sie das?

Selbst manche Journalisten und Experten wissen immer noch nicht, dass der VAR bei Gelb-Roten Karten nicht eingreifen kann. Oder bei Eckstößen, die es nicht hätte geben dürfen und die zu einem Tor führen. Da sind dem VAR laut dem Protokoll die Hände gebunden. Beim Thema Doppelbestrafung nach Notbremsen habe ich auch nicht das Gefühl, dass alle die Regeländerungen wirklich kennen.

Wie kann man so etwas ändern?

Erst mal muss eine Bereitschaft von allen vorhanden sein, sich stets auf den neuesten Stand zu bringen. Vielleicht können die Vereine, die Verbände oder auch die Medien ein Konzept entwickeln, das den Zuschauer anzieht und das Interesse weckt, sich damit auseinanderzusetzen. Mittlerweile sind aber auch wir Schiedsrichter viel präsenter in den Medien und versuchen, Entscheidungen und Regeländerungen zu erklären. Das sorgt sicherlich auch für mehr Verständnis bei den Fans.

Sind Sie manchmal noch als Fan im Stadion?

Die Zeiten sind vorbei. Da bin ich wie ein Bundestrainer, der neutral ist. Das geht nicht mehr anders. Ich schaue immer auf die Schiedsrichter und wie sie das machen, vergleiche, ob ich das genauso entschieden hätte, und halte Ausschau, ob ich mir was abgucken kann. Der Schiedsrichter hat für mich oberste Priorität, und dann kommt erst das Spiel. Es kann in einer Runde mit Freunden passieren, dass alle jubeln und ich den Stimmungskiller geben muss und sage, dass das Tor wahrscheinlich nicht zählt, weil ich vorher irgendetwas gesehen habe. Und meistens zählt das Tor dann wirklich nicht.

QOSHE - Schiedsrichter Daniel Siebert: „Gehe lieber zu Union Berlin als zur Hertha“ - Christian Kattner
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Schiedsrichter Daniel Siebert: „Gehe lieber zu Union Berlin als zur Hertha“

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21.03.2024

Mit den beiden Kindern lief an diesem Vormittag alles glatt. Überpünktlich konnte Daniel Siebert seinen Nachwuchs in der Kita abliefern, sitzt schon gut eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit im Café in Köpenick.

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Herr Siebert, mögen Sie eigentlich Tennis?

Mag ich und spiele ich auch. Mit Kollegen und einem meiner Assistenten, eigentlich regelmäßig. Mittlerweile aber ein bisschen weniger – seit die Kinder da sind, bleibt weniger Zeit. Aber an sich spiele ich sehr gerne Tennis. Als Sportwissenschaftler und Sportlehrer probiere ich viele Sportarten aus. Als Schiedsrichter ist es wichtig, nicht nur monoton zu trainieren. Tennis zu spielen, fördert Eigenschaften, die ich auch als Schiedsrichter benötige.

Und haben Sie ein paar Bälle von den Protesten in den Stadien mitgenommen?

Ich glaube, die Aktienkurse des Herstellers müssen bestimmt nach oben geschossen sein. (lacht)

Aus Schokotalern wurden Tennisbälle und daraus bei Ihnen während eines Spiels in Köln sogar funkferngesteuerte Autos. Wie erlebt man das als Schiedsrichter?

Mich wundert es immer, wie die Leute die ganzen Dinge in dieser Masse ins Stadion reinbekommen. Das kann ja bei so einer Vielzahl von Tennisbällen nicht nur mit grünem Licht von ein paar Ordnern funktionieren. Über die ferngesteuerten Autos musste ich schon kurz schmunzeln. Und dann fahren die auch noch!

Was wäre eine Steigerung gewesen?

Der Kreativität sind da anscheinend keine Grenzen gesetzt. Keine Ahnung, was als Nächstes gekommen wäre.

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19.03.2024

19.03.2024

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Aber Sie waren schon froh, mal wieder ein Spiel ohne Unterbrechungen zu haben.

Natürlich, aber es wird sich jetzt gelegt haben. Die Ultras haben ihr Ziel ja auch erreicht.

Und wie war es auf dem Feld mit diesen Protesten?

Problematisch war es, wenn die Aktionen wiederholt und permanent stattgefunden haben, die Unterbrechung sich dadurch hingezogen hat und wir teilweise sogar in die Kabinen gehen mussten. Wir wussten im Vorfeld immer nur, dass etwas kommt, dass etwas geplant ist – darauf konnten wir uns also einstellen. Aber nicht auf den Zeitpunkt, die Art und Weise, den Umfang und die Länge.

Wie knapp stand die Bundesliga wegen der Proteste vor einem Spielabbruch?

Bei einigen Spielen hat nicht mehr viel gefehlt. Wir hatten aber einen mehrstufigen Plan für den Umgang mit den Unterbrechungen, der für alle transparent war. Ich glaube: Die allerletzte Stufe, den Spielabbruch, wollten die beteiligten Fans nie riskieren. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ein potenzieller Investoreneinstieg höhere Bedeutung hat als der Erfolg des eigenen Vereins. Niemand möchte einen Spielabbruch herbeiführen und die Punkte eventuell am „grünen Tisch“ verlieren.

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23.11.2023

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20.11.2022

Was einmal klappt, geht vielleicht auch ein zweites Mal. Muss man weitere Proteste fürchten, wenn den Fans etwas missfällt?

Die Frage ist, ob es Themen geben wird, die den Fans missfallen. Wenn ja, könnten natürlich auch Proteste wieder vorkommen. Der Investorendeal ist zwar vom Tisch, die Fernsehgelder und die damit verbundenen Anstoßzeiten und Vermarktungen könnten jedoch ein weiterer Anstoß für eine solche Entwicklung sein. Wir hoffen aber, dass der Fußball jetzt wieder im Vordergrund steht.

Wünscht man sich bei all diesen Protesten und dem Druck von außen nicht vielleicht auch mal wieder Geisterspiele zurück?

Geisterspiele sind zwar viel einfacher zu pfeifen als Spiele mit Kulisse. Aber trotzdem fehlt einem die wichtigste Essenz: die Fans. Ich bin froh, dass sie wieder da sind.

Auch, wenn sie gegen bestimmte Entscheidungen sind und ihren Unmut äußern?

Das ist mittlerweile Routine, daran hat man sich gewöhnt. Ich beschwere mich nicht, wenn Fans meine Entscheidungen kritisieren – das würde ich als Fan vielleicht genauso machen, wenn ich das Gefühl habe, dass der Schiedsrichter gegen meinen Verein pfeift. Fans sind ja nicht neutral, sondern für ihren Klub eingenommen. Das gehört dazu, damit müssen wir umgehen und schaffen das auch. In den meisten Fällen sind die Proteste absolut moderat und nicht schädlich für die eigene Person. Trotzdem wünsche ich mir, wie jeder Schiedsrichter, natürlich mehr Verständnis und Fairness für unsere Tätigkeit. Wir sind genauso Sportler wie die Spieler. Und wenn wir Fehler machen – wie jeder Mensch –, dann geschieht das natürlich nicht mit Absicht.

Sie haben bei den Geisterspielen alles auf dem Platz gehört. Sind Sie da eigentlich sensibler mit den Spielern umgegangen?

Eher andersrum.

Warum?

Weil die Spieler mitbekommen haben, dass da Außenmikrofone sind, die alles aufgenommen haben, was auf dem Feld gesprochen wird. Corona hat gezeigt, dass es auch fair und ohne ständiges Protestieren oder Reklamieren geht. Die Entscheidungen wurden akzeptiert, weil man relativ schnell mitbekommen hat, dass ein Spieler, der permanent reklamiert, eine erhöhte Aufmerksamkeit auf sich zieht. Da wurden relativ schnell Gelbe Karten gezeigt, die wir auch zeigen mussten, weil es jeder mitbekommen hat und für uns sonst ein Autoritätsverlust die Folge gewesen wäre. Als sich alle an die Rahmenbedingungen gewöhnt hatten, wurde der Schiedsrichterjob auch leichter. Ich konnte mich voll und ganz auf meine Aufgaben........

© Berliner Zeitung


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