Sie wird da sein. Um halb zehn wird sie an der Kundgebung teilnehmen vor der Kulisse des Bettenhauses, das so etwas wie ein Wahrzeichen der Charité in Mitte ist. Sie arbeitet als Fachärztin für Pädiatrie am Campus Virchow, einem der drei Standorte des Universitätsklinikums, an denen Mediziner an diesem Donnerstag in einen Warnstreik treten. Sie sagt: „Wir brauchen eine bessere Vergütung von Bereitschaftsdiensten. Wir brauchen weniger Arbeitsbelastung. Wir brauchen mehr Personal.“ Das sind zusammengefasst die Forderungen des Marburger Bunds, der rund 2700 Ärzte der Charité zum eintägigen Arbeitskampf aufruft, weil die Tarifverhandlungen ins Stocken geraten sind.

Auch er wird da sein, der junge Arzt auf einer Intensivstation der Charité. Vielleicht wird er wieder von seinem letzten Wochenende erzählen, als er Dienst hatte und die Verantwortung für ein gutes Dutzend Patienten trug. Menschen nach einem schweren Verkehrsunfall oder einem Herzinfarkt, die jeden Moment wegen ihres kritischen Zustands sterben könnten. Vielleicht erzählt er wieder von Schichten, die schon mal bis zu 24 Stunden dauern könnten, von Adrenalinschüben in Grenzsituationen und der Anstrengung, jemanden in Bauchlage zu bringen, der 100 Kilogramm und mehr wiegt.

Gut möglich, dass sie es ebenfalls noch zur Kundgebung schafft, die Assistenzärztin, die in einer Notaufnahme Dienst tut und von Schlafstörungen in ihrem beruflichen Umfeld berichtet. Von Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Burnout und Krankmeldungen. Davon, dass dann die verbliebenen Kollegen die Ausfälle kompensieren müssten, weil die Personaldecke dünn sei. Und davon, dass sich Berufsanfänger teils desillusioniert zeigten, nach der Facharztprüfung in Teilzeit wechseln oder sich nach etwas anderem umschauen würden.

Die Kinderärztin erzählt: „Manche denken über Niederlassung nach“, über die Arbeit in einer Praxis. „Das finanzielle Risiko, sich als Arzt selbstständig zu machen, ist in Berlin eigentlich nicht so groß. Die wenigsten verdienen nicht genug.“ Sie weiß von Medizinern, die zwar weiter in einem Krankenhaus tätig sein möchten, allerdings als Leasingkräfte bei einer Zeitarbeitsfirma anheuern. „Die können dann ihre Dienste selbst bestimmen, bekommen für die gleiche Arbeit deutlich mehr Geld.“ Eine andere Option: „Man geht in die Pharmaindustrie.“

•vor 8 Std.

gestern

gestern

Deshalb streiken sie. Damit sich an der Situation etwas ändert. „Es macht allerdings nicht den Anschein, dass der Charité-Vorstand viel Bewegungsspielraum hat“, sagt die Kinderärztin. Die Charité gehört dem Land Berlin. Dadurch erhält der Tarifstreit eine zusätzliche politische Dimension. Ohnehin bestimmt die Politik den finanziellen Rahmen der Krankenhäuser und damit auch deren personelle Ausstattung. Denn anders als in den meisten Branchen gelten im Gesundheitswesen keine marktwirtschaftlichen Prinzipien, bestimmen Angebot und Nachfrage nicht die Höhe von Investitionen, sondern Steuergeld des Staates und Beiträge der Krankenversicherten.

Da macht die Charité keine Ausnahme, obwohl sie zu den größten Unikliniken Europas zählt, über mehr als 3000 Betten verfügt, aus mehr als 100 Einzelkliniken besteht. Sie hat knapp 18.300 Beschäftigte, darunter etwa 5200 Ärzte und Wissenschaftler insgesamt. Sie genießt großes Ansehen und zählt zu jenen medizinischen Zentren, die durch die Krankenhausreform von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ihre herausragende Bedeutung wahren, wenn nicht sogar ausbauen sollen. Und doch spiegeln sich in der Charité die Probleme der stationären medizinischen Versorgung in Deutschland. Etwa beim Blick auf die jungen Ärzte, die Zukunft des Berufs: zum Beispiel auf die Kinderärztin, den Intensivmediziner, die Assistenzärztin.

Ihre Namen möchten sie außen vor lassen. „Obwohl es mir inzwischen fast egal ist, wenn das Konsequenzen hätte“, sagt die Kinderärztin. Die seien nicht auszuschließen. „Wir haben an der Charité das Problem, dass die Verträge von sehr vielen Ärzten auf sechs Monate bis zwei Jahre befristet sind. Einige Oberärzte werden seit 15 Jahren von einem befristeten Arbeitsvertrag in den nächsten überführt“, sagt die Medizinerin. „Das macht es schwierig, etwas zu sagen, Dinge einzufordern, Kritik zu üben.“

Und dann kritisiert sie: „Eigentlich sollten wir während Bereitschaftsdienste nur in Ausnahmefällen zum Arbeiten herangezogen werden. Die sind deswegen auf 17 oder 18 Stunden angelegt und werden nicht als volle Arbeitszeit vergütet.“ Dennoch werde in dieser Zeit „regelhaft durchgearbeitet“. Sie sagt: „Man stößt schon an seine Grenzen.“ Vom Berufsethos spricht sie, das im Gesundheitswesen vorherrsche, und kommt auf Überstunden zu sprechen. „Nicht selten erscheint man vor dem eigentlichen Arbeitsbeginn zum Dienst, um gut vorbereitet zu sein. Dann bleibt man zum Beispiel von 7 bis 20, 21 Uhr in der Klinik, obwohl das Arbeitssystem mehr als zehn Stunden am Tag gar nicht zulässt. Man bräuchte eine Genehmigung, die man aber nicht bekommt.“

Michael Tsokos: „Jede Woche finden wir 12 bis 15 verfaulte Leichen in Berliner Wohnungen“

12.04.2024

Medizinstudium in Berlin: 40-Stunden-Wochen in der Charité, für Essensmarken?

12.03.2024

Auch Berufseinsteiger hätten hohe Ansprüche an sich selbst, sagt der Intensivmediziner. Manche meinten, sie seien nicht gut genug, müssten länger bleiben, weil sie nicht alle Aufgaben in ihrer Dienstzeit geschafft hätten. Die Mentalität, deutlich länger zu bleiben, werde von Vorgesetzten vorgelebt. „Niemand möchte als faul gelten.“

Eine angemessene Entlohnung in Zahlen zu fassen, fällt der Kinderärztin derweil schwer. „Natürlich verdienen wir Ärzte nicht schlecht“, sagt sie, „aber wir müssen uns daran orientieren, was in anderen Tarifgebieten in Deutschland und an anderen Unikliniken passiert. Da verlieren wir langsam den Anschluss.“

Damit kommt sie zu den Arbeitsbedingungen. „Die kann man in vielen Bereichen nur durch mehr Personal verbessern.“ Mehr Personal sei jedoch nicht in Sicht. „Wenn es nur um Geld ginge, würden wir sagen: ‚Wunderbar, wir bekommen etwas mehr Geld und die Arbeitszeit wird auf 40 Stunden in der Woche reduziert.‘ Doch ohne zusätzliche Ärzte wird das nicht funktionieren. Deshalb wollen wir wenigstens die besonders belastende Arbeit bezahlt bekommen. Also Rufbereitschaften und Bereitschaftsdienste.“

Die Tarifverhandlungen hätten allerdings weit mehr zum Ziel als höhere Gehälter und Zulagen, sagt die Ärztin: „Letztlich geht es um das Wohl der Patienten.“ In der Pädiatrie werde das deutlich. Früher sei die Auslastung während der saisonalen Infektionswellen hoch gewesen und danach abgeflaut. Seit der Corona-Pandemie gebe es solche Wellen nicht mehr, das Arbeitsaufkommen bleibe konstant. „Es ist immer noch sehr voll in den Kinderkliniken.“ Würden Pflegekräfte fehlen, müssten Betten gesperrt werden. „Beim Pflegepersonal haben wir inzwischen gute Schlüssel. Wenn aber zu wenig Ärzte da sind, passiert gar nichts.“

Ärztestreik an der Charité: Patienten müssen sich auf Einschränkungen einstellen

gestern

Ergeben sich daraus auch schon mal brenzlige Momente? „Für kritische Situationen steht an der Charité immer ein Oberarzt zur Verfügung“, sagt sie. „Auch dann, wenn man schneller allein auf einer Station ist, als man sich das wünschen würde.“ Doch wenn in einer Abteilung mit 22 Betten nur eine statt zwei oder drei Ärztinnen im Dienst sei, „reicht der gesunde Menschenverstand aus, um sich vorzustellen, dass die Qualität der Arbeit nicht die gleiche sein kann“, die Kinderärztin sagt: „Es ist nicht so, dass ich schon mal ein Patientenleben gefährdet hätte, aber vielleicht hätte ich Befunde, einen bestimmten Laborwert schneller gesehen und vielleicht früher reagiert.“

Wenn sich Arbeitsbedingungen langfristig nicht ändern, wird das Personal da hingehen, wo daran gearbeitet wird.

Sie haben nicht die Absicht, die Charité schlecht zu reden, es sich aus der Deckung der Anonymität heraus leicht zu machen, sagen die drei. Die Charité genieße ihren guten Ruf zurecht, habe aus gutem Grund bislang keine Probleme, ärztliches Personal zu rekrutieren, meint etwa der Intensivmediziner. „Vor allem auch diejenigen, die wissenschaftlich arbeiten möchten, sind hier gut aufgehoben.“

Seine Kollegin aus der Notaufnahme hat neulich in der Berliner Zeitung ein Interview mit dem Rechtsmediziner Michael Tsokos gelesen, der an dem Universitätsklinikum gearbeitet und dieses nun als Profit-Center bezeichnete. Es gehe an der Charité nicht darum, Geld zu verdienen, hält sie dem entgegen. Es gehe vielmehr darum, das knappe Geld optimal zu verteilen. „Sparité“, manchmal, wenn es eng wird, hört sie diese Wortschöpfung. „Dem Vorstand sind in gewisser Weise die Hände gebunden. Die Politik steht in der Pflicht.“ Im Land Berlin, im Bund.

Ein wenig Marktwirtschaft erkennt ihre Kollegin aus der Pädiatrie aber dann doch. Sie sagt: „Wenn sich Arbeitsbedingungen langfristig nicht ändern, wird das Personal da hingehen, wo daran gearbeitet wird. Oder wo zumindest der Wille erkennbar ist, die Bedingungen zu verbessern.“ Eine Warnung – genau das soll ja ein Warnstreik dann auch sein.

QOSHE - Ärzte rechnen mit der Charité ab: „Inzwischen ist es mir fast egal, wenn das Konsequenzen hätte“ - Christian Schwager
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Ärzte rechnen mit der Charité ab: „Inzwischen ist es mir fast egal, wenn das Konsequenzen hätte“

15 19
24.04.2024

Sie wird da sein. Um halb zehn wird sie an der Kundgebung teilnehmen vor der Kulisse des Bettenhauses, das so etwas wie ein Wahrzeichen der Charité in Mitte ist. Sie arbeitet als Fachärztin für Pädiatrie am Campus Virchow, einem der drei Standorte des Universitätsklinikums, an denen Mediziner an diesem Donnerstag in einen Warnstreik treten. Sie sagt: „Wir brauchen eine bessere Vergütung von Bereitschaftsdiensten. Wir brauchen weniger Arbeitsbelastung. Wir brauchen mehr Personal.“ Das sind zusammengefasst die Forderungen des Marburger Bunds, der rund 2700 Ärzte der Charité zum eintägigen Arbeitskampf aufruft, weil die Tarifverhandlungen ins Stocken geraten sind.

Auch er wird da sein, der junge Arzt auf einer Intensivstation der Charité. Vielleicht wird er wieder von seinem letzten Wochenende erzählen, als er Dienst hatte und die Verantwortung für ein gutes Dutzend Patienten trug. Menschen nach einem schweren Verkehrsunfall oder einem Herzinfarkt, die jeden Moment wegen ihres kritischen Zustands sterben könnten. Vielleicht erzählt er wieder von Schichten, die schon mal bis zu 24 Stunden dauern könnten, von Adrenalinschüben in Grenzsituationen und der Anstrengung, jemanden in Bauchlage zu bringen, der 100 Kilogramm und mehr wiegt.

Gut möglich, dass sie es ebenfalls noch zur Kundgebung schafft, die Assistenzärztin, die in einer Notaufnahme Dienst tut und von Schlafstörungen in ihrem beruflichen Umfeld berichtet. Von Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Burnout und Krankmeldungen. Davon, dass dann die verbliebenen Kollegen die Ausfälle kompensieren müssten, weil die Personaldecke dünn sei. Und davon, dass sich Berufsanfänger teils desillusioniert zeigten, nach der Facharztprüfung in Teilzeit wechseln oder sich nach etwas anderem umschauen würden.

Die Kinderärztin erzählt: „Manche denken über Niederlassung nach“, über die Arbeit in einer Praxis. „Das finanzielle Risiko, sich als Arzt selbstständig zu machen, ist in Berlin eigentlich nicht so groß. Die wenigsten verdienen nicht genug.“ Sie weiß von Medizinern, die zwar weiter in einem Krankenhaus tätig sein möchten, allerdings als Leasingkräfte bei einer Zeitarbeitsfirma anheuern. „Die können dann ihre Dienste selbst bestimmen, bekommen für die gleiche Arbeit deutlich mehr Geld.“ Eine andere........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play