Dass die Berlinale für die Kinos der Stadt ein Segen ist, gehört ins Reich der PR-Legenden. Lichtspielhäuser, die nicht zum „Berlinale Goes Kiez“-Programm gehören, sind während des Festivals schlecht besucht. Auch nach dem Rummel braucht es wieder seine Zeit, bis sich die Lage erholt. Potenzielle Besucher müssen dann erst einmal ihre Leinwand-Überdosis auskurieren, bevor sie zu den „normalen“ Leinwänden zurückkehren.

Zyklisch bedingt gehen den Kinobetreibern über mehrere Wochen hinweg viele Gäste verloren, mitten in der eigentlich besucherstärksten kalten Jahreszeit. Doch sie halten durch, spielen wacker weiter. Es bleibt ja keine Wahl. Wenn im April der Frühling nach draußen lockt, folgt ohnehin der nächste, diesmal witterungsbedingte Einbruch. Doch es lohnt, die Augen offenzuhalten. Im launenhaften Auf und Ab verstecken sich wertvolle, leicht übersehbare Filme. Einer davon ist die Doku „Berlin Bytch Love“ von Heiko Aufdermauer und Johannes Girke. Über mehr als zwei Jahre begleiteten sie zwei jugendliche Drifter auf den Straßen Berlins und des Umlands. Zu Beginn der Dreharbeiten waren Sophie und Dominik 15- und 17-jährige Teenager, zuletzt sind sie Eltern.

Mit zusammengezogenen Schultern, tief in den Hoodie eingehüllt, scheint Dominik hauptsächlich mit dem Drehen von Joints und dem Herumwischen auf Displays beschäftigt. Sophie wirkt geerdeter: Sie bereitet die Schlafstelle vor der Kreuzberger Emmaus-Kirche, organisiert Essen, hält Kontakte, versucht sich im Verkauf von Postkarten auf der Oberbaumbrücke. Bald wird sie schwanger.

22.02.2024

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Wir folgen dem fragilen Paar auf seinen Wegen, erleben Beschaffungsversuche von Lebensmitteln und Drogen. Nicht ganz durchschaubare kriminelle Aktivitäten legen eine Flucht nach Frankreich nahe. Doch sie bleiben in der Stadt, Dominik stellt sich den Behörden und kommt mit einer Bewährungsstrafe davon. Dank eines umtriebigen Sozialarbeiters wird sogar am Rand von Eberswalde eine Wohnung besorgt. Sophie bringt den gemeinsamen Sohn zur Welt.

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„Berlin Bytch Love“ ist gleichsam erhellend und ernüchternd. Ohne einen einzigen Kommentar oder andere Erklärungshilfen gelingt es dem Regie-Duo, Einblicke in ein Paralleluniversum zu gewähren, vor dem man im Zweifelsfall lieber die Augen schließt. Die Voraussetzung dafür liegt im Vertrauen, das ihnen die beiden Anti-Helden entgegenbringen. Die Regisseure und Kameraleute geben es mit diesem Film zurück – ohne zu beschönigen oder gar in wohlfeile Sozialromantik abzugleiten. Ihre Bilder und Töne sind präzise, die sich dadurch öffnenden Perspektiven setzen nicht unbedingt Optimismus frei. Wenn zuletzt die Kamera ihren subjektiven Blick vom Kinderwagen aus dem Himmel zuwendet, setzt dies eine fast biblische Dimension frei. Doch an der Wiege finden sich keine heiligen Könige ein. Eher wird wohl das Sozialamt oder gar die Polizei an die Tür klopfen.

Der Dokumentarfilm „Berlin Bytch Love“ läuft ab 29. Februar unter anderem im Kino Krokodil, dort zum Start in Anwesenheit der beiden Regisseure.

QOSHE - Post-Berlinale-Kino mit der Doku „Berlin Bytch Love“: Zwei Teenager im urbanen Dschungel - Claus Löser
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Post-Berlinale-Kino mit der Doku „Berlin Bytch Love“: Zwei Teenager im urbanen Dschungel

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25.02.2024

Dass die Berlinale für die Kinos der Stadt ein Segen ist, gehört ins Reich der PR-Legenden. Lichtspielhäuser, die nicht zum „Berlinale Goes Kiez“-Programm gehören, sind während des Festivals schlecht besucht. Auch nach dem Rummel braucht es wieder seine Zeit, bis sich die Lage erholt. Potenzielle Besucher müssen dann erst einmal ihre Leinwand-Überdosis auskurieren, bevor sie zu den „normalen“ Leinwänden zurückkehren.

Zyklisch bedingt gehen den Kinobetreibern über mehrere Wochen hinweg viele Gäste verloren, mitten in der eigentlich besucherstärksten kalten Jahreszeit. Doch sie halten durch, spielen wacker weiter. Es bleibt ja keine Wahl. Wenn im April der Frühling nach draußen lockt, folgt ohnehin der nächste, diesmal witterungsbedingte Einbruch. Doch es lohnt, die Augen offenzuhalten. Im........

© Berliner Zeitung


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