Der künstlerische DDR-Underground war auf Ost-Berlin zentriert. Zwar gab es neben den sächsischen Metropolen Dresden und Leipzig (bedingt auch in Karl-Marx-Stadt) weitere Brennpunkte. Doch wer etwas auf sich hielt, kam an die Spree. Oft diente der Ostteil der Stadt nur als Zwischenstation auf dem Weg Richtung Westen. Je länger sich die Agonie der DDR hinzog, umso mehr dünnte sich die Bewegung aus. Gänzlich abwegig erschien für die coole Szene ein Verbleib in den grauen Provinzen.

Als 1980 eine Punkband aus Thüringen namens Schleimkeim auftauchte und ihre gänzlich anti-intellektuellen Texte mit einem krachledernen Holterdiepolter-Sound unterlegte, wurden die Köpfe der Formation als „musizierende Fleischersöhne“ belächelt und schnell abgetan. Tatsächlich waren die Brüder Dieter und Klaus Ehrlich Kinder vom Lande, stammten aus einem Dorf nördlich von Erfurt.

1983 wurden sie zu buchstäblichen Bauernopfern. Nachdem in West-Berlin eine LP mit dem Titel „DDR von unten“ erschien, auf der die B-Seite von Schleimkeim bespielt worden war (unter dem Pseudonym Saukerle), gerieten die Ehrlich-Brüder in eine Spirale aus staatlicher Verfolgung und Ausgrenzung. Eingefädelt hatte den Deal mit der West-Platte Sascha Anderson, der für seine Spitzeldienste die Pseudonyme „David Menzer“, „Fritz Müller“ und „Peters“ gewählt hatte und deshalb von Wolf Biermann 1991 vor laufender Kamera als „Sascha Arschloch“ tituliert worden war.

Schleimkeim waren im Vergleich zu ihm wahrhaftige Dorf-Punks, die sich vom eloquenten Underground-Manager leicht um den Finger wickeln ließen. Einer der Songs von Schleimkeim hieß „Wehrt euch gegen die, die euch verraten!“ Doch diesem Verrat waren sie nicht gewachsen. Als rurale Anarchisten war es ihnen außerdem völlig egal, welche Konsequenzen die westliche Veröffentlichung einer LP mit ihrer Musik nach sich ziehen könnte.

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Die Biografie des Bandleaders nahm danach wahrhaft Shakespeare’sche Dimensionen an. Er lebte ein kurzes, dramatisch aufgeheiztes Leben, zerbrach letztlich 16 Jahre nach dem Fall der Mauer an den Folgen der staatlichen Repressionen. Für Dieter „Otze“ Ehrlich kam die Revolution von 1989 zu spät. Sie brachte ihm keine innere Befreiung. Die frisch gewonnene Freiheit reduzierte sich für ihn auf den Zugang zu immer härteren Drogen. Schon vorher waren seine Trinkgelage ausufernder geworden. Nun tauchte er tief in mythische Abgründe ein, kam der Wirklichkeit mehr und mehr abhanden. 1999 erschlug er seinen verhassten Vater mit der Axt, landete in der Psychiatrie. Dort verstarb er 2005 an einem Herzinfarkt.

Sein Schicksal und die zeitgeschichtlichen Kontexte werden jetzt in einem Dokumentarfilm eindrücklich nachvollziehbar. „Schleimkeim – Otze und die DDR von unten“ von Jan Heck ist gleichsam informativ wie berührend, kommt gänzlich ohne Sentimentalität, Heldenbeschwörung und Täterverklärung aus. Dass das Unterfangen gelungen ist, liegt vielleicht auch an der scheinbar biografischen Ferne des Stoffes. Jan Heck wurde 1991 in der Nähe von Tübingen geboren. Er nähert sich seinem tragischen Helden gänzlich unbefangen – und stellt dann doch erstaunliche Parallelen fest.

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Bei der intensiveren Beschäftigung mit dem Thema konstatierte er aber bald, dass es im Vergleich zwischen Ost und West entscheidende Differenzen gab. Während in der Bundesrepublik das selbstgewählte Außenseitertum oft kleinbürgerliche Rückzugsorte bereithielt, bedeutete es im „Arbeiter- und Bauernstaat“ eine wahrhaft existentielle Entscheidung, mit einem Irokesenschnitt vor die Haustür zu treten.

Heck: „Die DDR war ein politisches System, welches Menschen, die nicht in das systemtreue Weltbild gepasst haben, auf eine absolut grausame und inhumane Weise behandelt hat. Wenn man in der DDR Punk war, hat man sich automatisch in Gefahr begeben.“ Genau davon handelt der Film. Überraschenderweise wird in seinem Verlauf viel gelacht im Gespräch mit Otzes Wegbegleitern. Und am Ende beweist ein Konzertmitschnitt, dass die Texte und die ruppige Musik auch jetzt noch ihre authentischen Energien entfalten und heutigen jungen Menschen durchaus etwas zu sagen haben. Ost-Punks not dead.

„Schleimkeim - Otze und die DDR von unten“ Deutschland 2023, Dokumentarfilm, Regie: Jan Heck, 96 Minuten.

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Punk in der DDR: Mit Schleimkeim gegen den Staat und mit der Axt gegen den Vater

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13.03.2024

Der künstlerische DDR-Underground war auf Ost-Berlin zentriert. Zwar gab es neben den sächsischen Metropolen Dresden und Leipzig (bedingt auch in Karl-Marx-Stadt) weitere Brennpunkte. Doch wer etwas auf sich hielt, kam an die Spree. Oft diente der Ostteil der Stadt nur als Zwischenstation auf dem Weg Richtung Westen. Je länger sich die Agonie der DDR hinzog, umso mehr dünnte sich die Bewegung aus. Gänzlich abwegig erschien für die coole Szene ein Verbleib in den grauen Provinzen.

Als 1980 eine Punkband aus Thüringen namens Schleimkeim auftauchte und ihre gänzlich anti-intellektuellen Texte mit einem krachledernen Holterdiepolter-Sound unterlegte, wurden die Köpfe der Formation als „musizierende Fleischersöhne“ belächelt und schnell abgetan. Tatsächlich waren die Brüder Dieter und Klaus Ehrlich Kinder vom Lande, stammten aus einem Dorf nördlich von Erfurt.

1983 wurden sie zu buchstäblichen Bauernopfern. Nachdem in West-Berlin eine LP mit dem Titel „DDR von unten“ erschien, auf der die B-Seite von Schleimkeim bespielt worden war (unter dem Pseudonym Saukerle), gerieten die Ehrlich-Brüder in eine........

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