Ein ganz normaler Nachmittag gegen halb fünf. Der April schichtet dunkle Wolkengebilde am Himmel, die von der Sonne alle paar Minuten dramatisch durchbrochen werden. Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor hebt sich in scharfem Kontrast davon ab. Eine perfekte Bühne, geradezu wagnerianisch. Genau das Richtige für das Motto der heutigen Kundgebung: „Putin heißt Frieden, Frieden mit Russland.“

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Ein paar Dutzend Menschen vielleicht, flankiert von einer Leibgarde der „Nachtwölfe“. Doch nein, die Speerspitze der russischen Friedensinitiative besteht aus genau zwei Protagonisten: einem kleinen Herrn um die fünfzig mit Brille und Fahrradhelm, der den griffigen Slogan auf einem laminierten DIN-A4-Blatt um den Hals trägt. Sowie einem Hünen in Kapuzenpulli und kurzen Hosen. Letzterer hält die obligatorische Fahnenstange, daran befestigt die russischen Farben über der Friedenstaube.

Es hat schon was Heroisches, wie sie da stehen, so einsam bei Wind und Wetter, während Touristen und Schulklassen direkt neben ihnen Selfies vor dem berühmten Wahrzeichen machen. Dazu kommt die unvermeidliche Gegenkundgebung: ein einzelner Mann mit umgelegter ukrainischer Flagge, der fröhlich zu der Musik aus seiner mitgebrachten Aktivbox tanzt. Kleine Jungs springen um dieses Ensemble herum, ausgerüstet mit langen Ballons, die zu Schwertern geknotet sind. Der Krieg, so wirkt es, liegt dem Menschen im Blut.

Unsere Hauptstadt ist bekannt für die zahllosen Kundgebungen, die hier tagtäglich stattfinden. Ein All-you-can-eat-Buffet des Demonstrationsrechts sozusagen. Man kann jederzeit auf die Straße gehen und sich irgendeiner Bewegung anschließen. Der Dresscode ist locker, eine bestimmte Überzeugung nicht zwingend erforderlich. Für jeden noch so exotischen Topf findet sich hier garantiert ein Deckel.

•vor 10 Min.

•gestern

gestern

Der beste Ort für dieses politische Speed-Dating sind Brandenburger Tor und Umgebung. Besonders am Pariser Platz geht eigentlich immer was. Zwischen den Botschaften der vier ehemaligen Besatzungsmächte und dem protzigen Hotel Adlon darf man sich nach Herzenslust austoben. Solange es jemand anmeldet, scheint praktisch alles erlaubt zu sein.

Zum Beispiel am Freitagvormittag. Das Wetter ist biestig. Wind, Regen und nicht mehr als sechs Grad. Trotzdem steigen gleich mehrere Kundgebungen. So hat die Organisation „Urgewald“ zu einem World Bank Action Day aufgerufen. In ihrer Protestaktion fordern sie das Ende der Nutzung fossiler Brennstoffe sowie eine Offenlegung der angeblich dubiosen Machenschaften der Weltbank. Die Protestaktion: Fünf 20-Jährige entfalten um Punkt zwölf Uhr ein Transparent, kämpfen damit drei Minuten lang gegen die Sturmböen, machen von diesem Kampf etliche Fotos und packen dann wieder ein.

Auch die angemeldete Fridays-for-Future-Mahnwache vor dem Reichstagsgebäude ringt mit der Witterung. Im Grunde besteht sie nur aus einer telefonierenden Frau in Neon-Regenjacke sowie einer älteren Dame, die etwas Herzförmiges mit der Aufschrift „Omas for Future“ trägt. Man fragt sich unwillkürlich, wo der jugendliche Arm der Bewegung steckt. Und ob die Klimakrise nur bei schönem Wetter pressiert.

Drohung: Letzte Generation will Brandenburger Tor „immer wieder orange färben“

21.10.2023

Pro-Palästina-Protestcamp vor dem Bundestag verboten – Räumung beendet

•gestern

Man muss schon mit dem Herzen dabei sein. Das wird mir spätestens klar, als ich das Zeltlager auf der Wiese vor dem Bundeskanzleramt entdecke. Tag und Nacht wird dort gegen den Krieg in Gaza demonstriert, wenn auch etwas einseitig, wie mir scheint. Einen Aufruf zur Freilassung der israelischen Geiseln, die seit über einem halben Jahr von der Hamas gefangen gehalten werden, sucht man vergeblich. Stattdessen Slogans, die sich um die Begriffe „Occupation“ und „Genocide“ drehen, sowie ein klassisches „German Media Kills“.

Als ich mir zwischen den etwa dreißig bunten Zelten und für solche Camps typischen Müllhaufen die Beine vertreten will, lösen sich zwei Gestalten aus einem Pavillon. Um ihre Hälse sind die zu erwartenden Tücher gewickelt, sie würden bei keiner Intifada unangenehm auffallen. Da ich mir jedoch ungern erklären lasse, warum Israel sich nicht wehren dürfe, suche ich schnell das Weite. Inzwischen hat die Berliner Polizei das Camp der Pro-Palästina-Aktivisten vor dem Bundestag verboten.

Am Brandenburger Tor passieren inzwischen mehrere Dinge gleichzeitig. Gegenüber der amerikanischen Botschaft bestücken zwei 50-jährige Männer einen Stand mit Transparenten: „Free Press. Free Speech“ und „Freiheit für Assange“. Ihre Handgriffe beim Aufbau verraten eine gewisse Routine. Auf Nachfrage erfahre ich, dass sie jeden Freitag und Samstag hier stehen, um für die Freilassung des Presse-Aktivisten zu demonstrieren, und zwar seit sage und schreibe fünf Jahren. Das nennt man Durchhaltevermögen.

Derweil nähert sich eine andere Gruppe, die aufgrund ihrer Gewandung und mitgeführten Fahnen wie eine Prozession von Tempelrittern aussieht. Es stellt sich aber heraus: Es sind belarussische Demonstranten, die gegen die Inhaftierung von Gewerkschaftsaktivisten in ihrem Land auf die Straße gehen. Das ist gewiss ehrenhaft, doch so langsam wird es für mich als unbeteiligten Beobachter unübersichtlich.

Und nicht nur für mich, wie sich herausstellt. Auch die Beamten der Berliner Polizei, die am Platz ständig präsent sind und die jeweiligen Genehmigungen kontrollieren, scheinen bisweilen den Überblick zu verlieren. Zwei von ihnen bitten die Belarussen, sich ein wenig von den Assange-Streitern zu entfernen, damit alle genug Raum zur Entfaltung haben. Währenddessen errichten andere eine Barrikade aus Absperrgittern zwischen dem Pariser Platz und Unter den Linden.

Die Bauern demonstrieren wieder am Brandenburger Tor – aber keiner geht mehr hin

22.03.2024

„Wofür machen Sie das?“, frage ich, erhalte als Antwort jedoch nur ein Schulterzucken.

„Irgend'ne Demo, die hier nachher noch ankommt.“

Verständlich, dass man bei einem derartigen Festival der Meinungsvielfalt durcheinanderkommen kann. Eine kurze Recherche im Netz ergibt, dass es der Global Climate Strike ist, der demnächst am Invalidenpark starten und hier enden wird. Vielleicht sammeln sich dort die Menschen, die bei den anderen Klima-Aktionen gefehlt haben.

Jedenfalls schön zu sehen, dass dieser Platz so eifrig genutzt wird. Wo die Berliner sich doch meistens schwer tun, öffentliche Angebote auch anzunehmen. Nach nur zwei Tagen kann ich sagen: Allein durch die Anwesenheit vor Ort fühlt man sich gesellschaftlich engagiert. Egal, ob man inmitten eines Flashmobs anlässlich des 50. Jahrestages der Nelkenrevolution in Portugal steht oder an einem Aufmarsch mit dem Motto „Falun Gong ist gut“ teilnimmt, diese Demokultur kann süchtig machen. Natürlich nur, wenn das Wetter mitspielt.

QOSHE - Demo-Hotspot Brandenburger Tor: Im Streichelzoo des guten Willens - Clint Lukas
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Demo-Hotspot Brandenburger Tor: Im Streichelzoo des guten Willens

13 10
27.04.2024

Ein ganz normaler Nachmittag gegen halb fünf. Der April schichtet dunkle Wolkengebilde am Himmel, die von der Sonne alle paar Minuten dramatisch durchbrochen werden. Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor hebt sich in scharfem Kontrast davon ab. Eine perfekte Bühne, geradezu wagnerianisch. Genau das Richtige für das Motto der heutigen Kundgebung: „Putin heißt Frieden, Frieden mit Russland.“

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Ein paar Dutzend Menschen vielleicht, flankiert von einer Leibgarde der „Nachtwölfe“. Doch nein, die Speerspitze der russischen Friedensinitiative besteht aus genau zwei Protagonisten: einem kleinen Herrn um die fünfzig mit Brille und Fahrradhelm, der den griffigen Slogan auf einem laminierten DIN-A4-Blatt um den Hals trägt. Sowie einem Hünen in Kapuzenpulli und kurzen Hosen. Letzterer hält die obligatorische Fahnenstange, daran befestigt die russischen Farben über der Friedenstaube.

Es hat schon was Heroisches, wie sie da stehen, so einsam bei Wind und Wetter, während Touristen und Schulklassen direkt neben ihnen Selfies vor dem berühmten Wahrzeichen machen. Dazu kommt die unvermeidliche Gegenkundgebung: ein einzelner Mann mit umgelegter ukrainischer Flagge, der fröhlich zu der Musik aus seiner mitgebrachten Aktivbox tanzt. Kleine Jungs springen um dieses Ensemble herum, ausgerüstet mit langen Ballons, die zu Schwertern geknotet sind. Der Krieg, so wirkt es, liegt dem Menschen im Blut.

Unsere Hauptstadt ist bekannt für die zahllosen Kundgebungen, die hier tagtäglich stattfinden. Ein All-you-can-eat-Buffet des Demonstrationsrechts sozusagen. Man kann jederzeit auf die Straße gehen und sich irgendeiner Bewegung anschließen. Der Dresscode ist locker, eine bestimmte Überzeugung........

© Berliner Zeitung


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