Deutlicher kann der Unterschied zwischen Stadt und Land kaum gezeigt werden als in „The Outrun“. Es ist der dritte Spielfilm von Nora Fingscheidt, die 2019 im Berlinale-Wettbewerb mit „Systemsprenger“ für Begeisterung sorgte. In „The Outrun“ (zu Deutsch etwa „Das Entkommen“) versucht die Hauptfigur Rona einmal, sich die 60 Hektar Land, auf denen die Schafe ihres Vaters weiden, in London vorzustellen. Das wäre ein kleines, dicht besiedeltes Viertel. Wie viele Kneipen wohl hineinpassen würden?

Für Rona vielleicht nicht genug, denn das Leben in der Stadt ist für sie eng mit dem Trinken verbunden. Zu Beginn des Films schon wird sie besoffen aus einem Lokal buchstäblich auf die Straße geworfen. Was geschah, seit ein Mann sie in sein Auto geholt hatte, weiß sie nicht mehr, als sie mit schweren Verletzungen im Krankenhaus erwacht. Die Orkney-Inseln ganz im Norden Großbritanniens, wo sie einst herkam und lange nicht mehr war, werden die Landschaft ihrer Ausnüchterung.

Für Rona kommt zur Erniedrigung vor der Ärztin, kommt zur Erkenntnis der Abhängigkeit vom Alkohol auch noch der schwere Weg zurück zu den Eltern: wieder Kind sein zu müssen. „Ich habe schon ein Leben“, blafft sie die Mutter an, die ihr Vorschläge macht. Rona forschte bis dahin in einem Londoner Labor für ihre Doktorarbeit zu einem biologischen Thema. Die Mutter hat sich in Gottergebenheit eingerichtet, der Vater haust in einem Wohnwagen auf der Schaffarm. Warum, das zeigen verschwommene Rückblenden in die ganz frühe Zeit; die Familie ist beschädigt. Die erwachsene Rona hilft dem Vater, als die Lämmer geboren werden, seine psychische Labilität wird für sie noch zur schweren Probe.

Saoirse Ronan, die für ihre Rollen in „Brooklyn“, „Lady Bird“ und „Little Women“ für einen Oscar nominiert war, spielt die junge Frau angreifbar, zerrissen, in sich gekehrt, verzweifelt und sehnsüchtig. Sie ist auch Produzentin des Films. Ronan suchte für den autobiografischen Roman von Amy Liptrot „The Outrun“ (deutscher Titel: „Nachtlichter“) eine Drehbuchautorin und Regisseurin und fand mit Nora Fingscheidt die ideale Partnerin. Fingscheidt kann verletzte Seelen inszenieren, ohne dass viel darüber geredet werden muss. Eine weitere tragende Rolle kommt in „The Outrun“ der Natur mit ihren Landschaften und dem Meer zu, mit ihren Tieren, Pflanzen und vor allem mit der Macht des Wetters.

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„Ich werde nüchtern nie glücklich sein“, sagt Rona in der Therapiesitzung im Krankenhaus. Das schmerzt. Das erreicht den Zuschauer, der selbst bei Wein oder Cocktails gesellig wird. Das Glück des Trinkens steht hier jedoch im Zusammenhang mit den Bildern, die Rona in London immer wieder außer Kontrolle zeigen. Auf der Orkney-Erzählebene des Films wird mehrmals eine Zeitrechnung eingeblendet: 30 Tage, 90 Tage, 117 Tage. Dass Rona später einem Mann, der sie fragt, wie lange sie trocken ist, „63 Tage“ antwortet, beweist, wie hart das Ganze ist. Und der Mann sagt: „Zwölf Jahre, vier Monate, 29 Tage. Es wird nie einfach, nur weniger schwer.“

In der Stadt war Rona unter Menschen, mit ihrem Freund, mit Kollegen, mit Feierwütigen. Auf den Inseln ist sie fast immer allein. Sie sucht für eine Naturschutzorganisation den Wachtelkönig, eine seltene Vogelart. Sie bemüht sich, den Landwirten ein anderes Mähschema nahezulegen – vom Zentrum aus in Kreisen –, um den Vögeln die Möglichkeit zur Flucht zu geben. Sie erlebt Stürme, laut und mächtig, sie sammelt Strandgut, sie studiert die Resistenz von Wasserpflanzen gegenüber Klimaerwärmung und Umweltverschmutzung. So verankert Nora Fingscheidt die Geschichte nicht nur in der Menschenseele, sondern auch in der globalen Bedrohung unserer Zeit.

„The Outrun“ ist ein Film mit spektakulären Ansichten und kräftigem Originalton. Und doch setzt sich Rona Kopfhörer mit harten Clubbeats auf die Ohren, während sie an der Steilküste entlanggeht, wo unten das Meer tost. Manchmal lässt die Regisseurin den Blick aufs Wasser in der Erinnerung mit Partylichtern verschmelzen. Einmal übersetzt sie die Naturerscheinungen in gezeichnete Animation, Monster steigen auf. Wo das Sicht- und Sagbare nicht reicht, hilft die Kunst. Nora Fingscheidt gelingen bisher ungesehene, bleibende Bilder.

Ein alter Mythos zieht sich außerdem durch den Film. Die Seelen Ertrunkener würden sich in Seehunde verwandeln, heißt es auf den Orkney-Inseln. Eine Stimme aus dem Off kommentiert tauchende Wasserwesen. „Wir nennen sie Selkies. An Land werden sie immer unglücklich sein.“ Als Rona sich auf ihrer Insel in Kälte und Einsamkeit eingefunden hat, scheinen die Seehunde im Meer auf sie zu warten. Deren DNA stimme zu 79 Prozent mit der des Menschen überein, liest Rona bei ihren Studien. Sie wird mit ihnen schwimmen, eines Tages. Aber das ist keine Kapitulation, sondern ein Sieg. Oder wie der Wachtelkönig sagen würde: „Krrk, krrk.“

Berlinale Panorama: The Outrun. 21. und 23. Februar. Kinos und Zeiten unter www.berlinale.de

QOSHE - „The Outrun“ von Nora Fingscheidt auf der Berlinale: dem Alkohol entkommen - Cornelia Geißler
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„The Outrun“ von Nora Fingscheidt auf der Berlinale: dem Alkohol entkommen

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20.02.2024

Deutlicher kann der Unterschied zwischen Stadt und Land kaum gezeigt werden als in „The Outrun“. Es ist der dritte Spielfilm von Nora Fingscheidt, die 2019 im Berlinale-Wettbewerb mit „Systemsprenger“ für Begeisterung sorgte. In „The Outrun“ (zu Deutsch etwa „Das Entkommen“) versucht die Hauptfigur Rona einmal, sich die 60 Hektar Land, auf denen die Schafe ihres Vaters weiden, in London vorzustellen. Das wäre ein kleines, dicht besiedeltes Viertel. Wie viele Kneipen wohl hineinpassen würden?

Für Rona vielleicht nicht genug, denn das Leben in der Stadt ist für sie eng mit dem Trinken verbunden. Zu Beginn des Films schon wird sie besoffen aus einem Lokal buchstäblich auf die Straße geworfen. Was geschah, seit ein Mann sie in sein Auto geholt hatte, weiß sie nicht mehr, als sie mit schweren Verletzungen im Krankenhaus erwacht. Die Orkney-Inseln ganz im Norden Großbritanniens, wo sie einst herkam und lange nicht mehr war, werden die Landschaft ihrer Ausnüchterung.

Für Rona kommt zur Erniedrigung vor der Ärztin, kommt zur Erkenntnis der Abhängigkeit vom Alkohol auch noch der schwere Weg zurück zu den Eltern: wieder Kind sein zu müssen. „Ich habe schon ein Leben“, blafft sie die Mutter an, die ihr Vorschläge macht. Rona forschte bis dahin in einem Londoner........

© Berliner Zeitung


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