Wenn einem Wim Wenders ein Mix-Tape aufnimmt, kennt man wahrscheinlich jeden Song. Das soll aber nicht heißen, dass sich dieser musikaffine Regisseur dem Mainstream verschrieben hätte. Im Gegenteil, es gehört einiges dazu, wie in seinem neuesten Film tausendmal gehörte Titel wie „House of the Rising Sun“ der Animals, „Sunny Afternoon“ von den Kinks oder „Pale Blue Eyes“ und „Perfect Day“ von Lou Reed so frisch klingen zu lassen wie die neue Morgensonne. Dazu braucht man nur jemanden vor der Kamera, mit dessen Charisma, sich der Geist der Songs verbindet. Und zwar nicht wie in anderen Filmen, indem Leute in Autos ihre Lippen dazu bewegen.

Der mittelalte Hirayama, Held jeder Szene in „Perfect Days“, hat sie alle noch auf Compact Cassette. Jeden Tag nimmt er andere Bänder mit, wenn er sich aufmacht, um jene öffentlichen Toiletten im Tokioter Stadtteil Shibuya zu putzen, die zu den neuesten Sehenswürdigkeiten der Stadt gehören, entworfen von bedeutenden Architekten und Designern. Wann immer ein eiliger Benutzer seine Arbeit stört, zieht er sich diskret zurück und wartet neben dem Eingang wie ein Diener in einem Luxusressort. Wie gelingt es ihm nur, dieser nach allgemeiner Einschätzung eher niederen Tätigkeit eine solche Würde zu geben? Müsste dieser Überlebende aus einer analogen Kulturgeschichte nicht in diesen perfekten Design-Oasen untergehen?

Der Pinsel wird zum Flammenwerfer: Wim Wenders’ Künstlerfilm über Anselm Kiefer

11.10.2023

gestern

18.12.2023

•vor 5 Std.

18.12.2023

•vor 4 Std.

Der große japanische Filmstar Koji Yakusho spielt diese Rolle mit der fast schon erhabenen Gelassenheit seines Samurai in „13 Assassins“ – wobei ihm allerdings die japanische Liebe zu Ästhetik im Alltag zugutekommt. Wim Wenders, der diesen Film in nur 17 Tagen drehte, scheint hier eine Dokumentarfilmidee kurzerhand in einen Spielfilm verwandelt zu haben. Wer immer sich von ihm einen repräsentativen Film über das Tokioter Toilettenprojekt gewünscht haben mag, sollte nun nicht enttäuscht sein. Beschenkt ihn Wim Wenders stattdessen doch mit nicht weniger als einem seiner schönsten Spielfilme seit langem. Beim vergangenen Festival von Cannes lief er für Deutschland im Wettbewerb – obgleich außer Familie Wenders nichts Deutsches daran ist, nicht einmal die obligatorischen paar Hunderttausend Euro von einer Filmstiftung.

Das stille Glück, das dieser Held der Arbeit in seinem Leben findet, verlangt nach einer Vorgeschichte, mit der sich Wenders genüsslich zurückhält. Der Besuch einer reichen Schwester lässt auf den Bruch mit dem offenbar einst mächtigen, nun dementen Vater schließen. Doch eine Unterhaltung ist mit ihrem schweigsamen Bruder darüber nicht zu führen. Auch sein weit weniger gewissenhafter Kollege Takeshi (Tokio Emoto) kann ihm keine Geheimnisse entlocken. Dieser etwas schrill-komischen Nebenhandlung verdankt der Film einen schönen dokumentarischen Moment, einen Ausflug in ein Spezialgeschäft, in dem man teuer mit Musikkassetten handelt. Natürlich kann Takeshi seinen Kollegen nicht zum Verkaufen seiner überraschend wertvollen Sammlung überreden.

Was der belesene Mann mit einer Vorliebe für William Faulkner zuvor erlebt haben mag, passt in Wenders’ und Takuma Takasakis asketischer Geschichte in einen Haiku-Vers, aber auch den gibt es höchstens als Bildgedicht: Wenn Wenders dem Blick seines Helden auf das abstrakte Lichtspiel einer Hauswand folgt, liefert die renommierte Schwarz-Weiß-Fotografin Donata Wenders analoge Traumsequenzen dazu. Auch die Schnappschüsse aus der Kleinbildkamera des Protagonisten trug Wenders’ Ehefrau zu dem bruchlosen Gesamtwerk bei.

Für weitere Kunstmomente sorgen natürlich die Toiletten selbst. Am nächsten zu Hirayamas analoger Welt scheinen die vom Architekten Kengo Kuma errichteten Häuschen am Rande des Nabeshima-Shoto-Parks. Verkleidet mit Zedernholzstäben wie frisch gesammelte Bündel erinnern sie eher an einen Abenteuerspielplatz als an eine Bedürfnisanstalt. Wenders improvisiert hier die kleine Episode der Begegnung mit einem Jungen, der sich verlaufen hat. Nichts wird überreizt in diesem Film, der in seiner Entspanntheit manchmal an die Arbeiten von Jim Jarmusch erinnert.

Wonka: Die zarteste Versuchung seit dem Ausverkauf von Roald Dahl

07.12.2023

Cannes: „Anatomie eines Falls“ mit Sandra Hüller gewinnt Goldene Palme

27.05.2023

Wie in früheren urbanen Wenders-Reiseerzählungen seit „Alice in den Städten“ inspirieren Schauplätze kleine Geschichten innerhalb der größeren. Zugleich hat sich Wenders weit entfernt von der touristischen Neugier des filmverliebten Reisenden von „Tokyo -Ga“. Hatte er in seinem berühmten Essayfilm die eigene „Reise nach Tokio“ mit einer Würdigung des bewunderten Yasujiro Ozus und seines gleichnamigen Filmklassikers verbunden, kann er nun auf die höfliche Verbeugung verzichten.

In „Perfect Days“ verbeugt er sich dafür unbefangen vor dem eigenen Werk, er tritt sogar einmal selbst ins Bild, aber das wirkt nicht eitel, sondern liebenswert. Die Freude am Spielerischen, der Respekt vor dem Fremden, das Herbeizitieren filmischer Erwartung, nur um sie dann nicht zu bedienen – all diese typischen Wenders-Eigenschaften hat man seit seinen Filmen aus den Siebzigerjahren nicht schöner gesehen.

Perfect Days. Japan 2023. Regie: Wim Wenders. Mit: Koji Yakusho, Tokio Emoto, Arisa Nakano. 125 Min.

QOSHE - Auch ein Hippie muss mal Pippi: Wenders schönster Film seit den Siebzigern - Daniel Kothenschulte
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Auch ein Hippie muss mal Pippi: Wenders schönster Film seit den Siebzigern

11 0
20.12.2023

Wenn einem Wim Wenders ein Mix-Tape aufnimmt, kennt man wahrscheinlich jeden Song. Das soll aber nicht heißen, dass sich dieser musikaffine Regisseur dem Mainstream verschrieben hätte. Im Gegenteil, es gehört einiges dazu, wie in seinem neuesten Film tausendmal gehörte Titel wie „House of the Rising Sun“ der Animals, „Sunny Afternoon“ von den Kinks oder „Pale Blue Eyes“ und „Perfect Day“ von Lou Reed so frisch klingen zu lassen wie die neue Morgensonne. Dazu braucht man nur jemanden vor der Kamera, mit dessen Charisma, sich der Geist der Songs verbindet. Und zwar nicht wie in anderen Filmen, indem Leute in Autos ihre Lippen dazu bewegen.

Der mittelalte Hirayama, Held jeder Szene in „Perfect Days“, hat sie alle noch auf Compact Cassette. Jeden Tag nimmt er andere Bänder mit, wenn er sich aufmacht, um jene öffentlichen Toiletten im Tokioter Stadtteil Shibuya zu putzen, die zu den neuesten Sehenswürdigkeiten der Stadt gehören, entworfen von bedeutenden Architekten und Designern. Wann immer ein eiliger Benutzer seine Arbeit stört, zieht er sich diskret zurück und wartet neben dem Eingang wie ein Diener in einem Luxusressort. Wie gelingt es ihm nur, dieser nach allgemeiner Einschätzung eher niederen Tätigkeit eine solche Würde zu geben? Müsste dieser Überlebende aus einer analogen Kulturgeschichte nicht in diesen........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play