Das Attribut „politisch“ verwendet die Berlinale gern auch im Komparativ. Während des Festivals waren Filme mit politischen Themen zusehends in den Vordergrund gerückt, und die Preisverleihung glich dann einer Kundgebung in Abendgarderobe. Immer wieder nutzten Preisträgerinnen und Preisträger ihre Reden für Friedensappelle.

Und den Goldenen Bären gewann mit Mati Diops „Dahomey“ ein Filmessay über die Rückgabe von Frankreich geraubter Kunstwerke an Eigentümer im heutigen Benin. Es ist ein Film, der in seiner klaren, offenen und ästhetisch beziehungsreichen Ansprache bislang gefehlt hat. Der einzige Fehler liegt in seiner Kürze von nur 67 Minuten, aber vielleicht wird sie dabei helfen, ihn weit über den Kunstkontext hinaus bekannt zu machen.

Besonders die zweite Hälfte, die eine Debatte unter Studierenden am Zielort der Bronzen dokumentiert, besitzt auch filmisch eine geradezu beglückende Transparenz und eröffnet der Diskussion über das kolonialistische Erbe viele Türen. Neben Isaac Juliens zuletzt in Düsseldorf gefeierter Filminstallation „Once Again… (Statues Never Die)“ ist es der beste Film zum Thema. Diop ergänzte ihre Dankesrede um ein knappes „I stand with Palestine“.

Zuvor hatte die Preisverleihung mit der Verleihung des Dokumentarfilmpreises für „No Other Land“ ihren dramatischsten Augenblick erlebt. Dieser Film eines vierköpfigen palästinensisch-israelischen Kollektiv dokumentiert die Arbeit von Masafer Yatta, der als Aktivist im Westjordanland gegen Landraub und die Vertreibung seiner Gemeinschaft kämpft. Dabei unterstützt ihn der israelische Journalist Yuval Abraham, der auch zum Regie-Team des Films zählt.

22.02.2024

•heute

gestern

21.02.2024

gestern

In seiner Dankesrede benannte er die israelische Besatzungspolitik als Apartheid, ein Begriff, den Jimmy Carter bereits 2006 in seinem Buch „Israel – Peace Not Apartheid“ verwendet hatte. Starker Applaus im Berlinale-Palast.

Der Film, der bereits den Panorama-Publikumspreis für den besten Dokumentarfilm gewonnen hatte, wurde bereits im Oktober 2023 beendet und erwähnt das Massaker der Hamas gegen Israel am Rande.

Deutscher Wettbewerbsfilm „Sterben“ mit Corinna Harfouch und Lars Eidinger

18.02.2024

„In Liebe, Eure Hilde“: Eine Geschichte vom Widerstand – ein Film für heute

17.02.2024

Die senegalesisch-stämmige Französin Mati Diop ist die erste Schwarze Preisträgerin des Goldenen Bären, wie schon Jurypräsidentin Lupita Nyong'o bei ihrer Vorstellung zur Eröffnung Wert auf die Feststellung gelegt hatte, als erste Schwarze dieses Amt zu bekleiden.

Mit Kennergriff erkannte die Jury in einem unterdurchschnittlichen Wettbewerb große Einzelleistungen, wozu auch Michael Glasners Drehbuch zum dreistündigen Ensemblefilm „Sterben“ zählte, das durch seine stark persönliche Färbung überzeugte. Es ist immer erfreulich, wenn ein hoher Filmpreis das wohl beste Werk eines Autors trifft. Im Falle des Jurypreises für Bruno Dumont traf er auf das Verwegenste: Die Science-Fiction-Farce über erotisierte Außerirdische in einem nordfranzösischen Küstenort war ein Exot im Wettbewerb; nicht übermäßig anspruchsvoll aber zweifellos vergnüglich, ebenso wie Hong Sangsoos Nebenwerk „A Traveller’s Needs“, das den Großen Preis der Jury erhielt.

Dass dagegen der haushohe Favorit bei der internationalen Filmkritik leer ausging, der iranische Beitrag „My Favourite Cake“ bestätigte immerhin ein altes Festivalgesetz: Nie setze man auf den Favoriten. Völlig verdient unter den Bärengewinnern ist der Regiepreis für den formal originellsten Film des Wettbewerbs. Nelson Carlos De Los Santos Arias erzählt in zwei unorthodox montierten Stunden die traurige Geschichte eines nach Südamerika entführten Nilpferds – und transportiert dabei leichthändig und poetisch eine Kulturgeschichte der Entfremdung.

Unstrittig die Darstellerpreise: Sebastian Stan überzeugte für seine Hauptrolle als entstellter Schauspieler, der in „A Different Man“ durch eine Gesichtsoperation seine anspruchsvollste Rolle verliert. Und die große Emily Watson kann nach zwei Oscar-Nominierungen in ihrer Karriere nun auch einen Berlinale-Bären ihr eigenen nennen. Als scheinheilige Nonne von perfider Eisigkeit gehörte sie zu den wenigen Höhepunkten im Eröffnungsfilm „Small Things Like These“.

Berlin bleibt Berlin, aber sein Abstand zu Cannes und Venedig ist nach der Amtszeit von Carlo Chatrian noch einmal deutlich größer geworden. Budgetkürzungen, für die der Künstlerische Leiter nicht verantwortlich ist, und der Verlust wichtiger Spielstätten haben den Wettbewerb noch mehr exponiert: Wer eigens zur Berlinale anreist, kann kaum noch etwas anderes sehen als die überwiegend enttäuschende Konkurrenz – und dafür ist Chatrian sehr wohl verantwortlich.

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20.02.2024

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15.02.2024

Was nützen qualitätvolle Nebenreihen, wenn die Wege zu weit sind und die Zeit nicht reicht? So wird man zum Gefangenen eines Wettbewerbs, der weniger denn je gefangen nimmt. Wenn seine Nachfolgerin Tricia Tuttle hier ein Neuanfang gelingen soll, muss man ihr auch eine drastische Option erlauben: das Verlegen des Festivals. Warum nicht in den November? Schlagartig brächte das Berlin wieder auf Hollywoods Agenda, das in die heiße Phase des Oscar-Rennens geht. Seien wir gespannt.

QOSHE - Berlinale-Jury beweist beim Sieger Kennergriff in einem schwachen Wettbewerb - Daniel Kothenschulte
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Berlinale-Jury beweist beim Sieger Kennergriff in einem schwachen Wettbewerb

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25.02.2024

Das Attribut „politisch“ verwendet die Berlinale gern auch im Komparativ. Während des Festivals waren Filme mit politischen Themen zusehends in den Vordergrund gerückt, und die Preisverleihung glich dann einer Kundgebung in Abendgarderobe. Immer wieder nutzten Preisträgerinnen und Preisträger ihre Reden für Friedensappelle.

Und den Goldenen Bären gewann mit Mati Diops „Dahomey“ ein Filmessay über die Rückgabe von Frankreich geraubter Kunstwerke an Eigentümer im heutigen Benin. Es ist ein Film, der in seiner klaren, offenen und ästhetisch beziehungsreichen Ansprache bislang gefehlt hat. Der einzige Fehler liegt in seiner Kürze von nur 67 Minuten, aber vielleicht wird sie dabei helfen, ihn weit über den Kunstkontext hinaus bekannt zu machen.

Besonders die zweite Hälfte, die eine Debatte unter Studierenden am Zielort der Bronzen dokumentiert, besitzt auch filmisch eine geradezu beglückende Transparenz und eröffnet der Diskussion über das kolonialistische Erbe viele Türen. Neben Isaac Juliens zuletzt in Düsseldorf gefeierter Filminstallation „Once Again… (Statues Never Die)“ ist es der beste Film zum Thema. Diop ergänzte ihre Dankesrede um ein knappes „I stand with Palestine“.

Zuvor hatte die Preisverleihung mit der Verleihung des Dokumentarfilmpreises für „No Other Land“ ihren dramatischsten Augenblick erlebt. Dieser Film........

© Berliner Zeitung


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