Vielleicht ist es ungerecht, in Ridley Scott den kleineren Stanley Kubrick zu sehen. Schließlich bewährte er sich in denselben Genres wie nur wenige andere: Sein Debüt „Die Duellisten“ wirkte 1977 wie eine Hommage an Kubricks „Barry Lyndon“. Seine hochstilisierten Science-Fiction-Filme „Alien“ und „Blade Runner“ müssen sich nicht verstecken hinter dessen Monument „2001 – Odyssee im Weltraum“. Und sein immens erfolgreicher „Gladiator“ erneuerte sogar mit dem Sandalenfilm ein Genre, das Kubricks Auftragsarbeit „Spartacus“ gemeinsam mit dem alten Hollywood zu Grabe getragen hatte.

Mit „Napoleon“ geht der posthume Wettstreit, wenn man ihn denn so sehen darf, in eine andere Dimension. In kein anderes Projekt investierte Kubrick mehr Energie als in sein Bonaparte-Biopic, seine umfangreichen Sammlungen zum Thema füllen einen Bildband im Taschen-Verlag und wurden in Ausstellungen gezeigt. Steven Spielberg erarbeitet gerade in enger Zusammenarbeit mit Kubricks Witwe Christiane und seinem Schwager Jan Harlan eine HBO-Miniserie nach dem bislang nicht verfilmten Drehbuch. Auch wenn Ridley Scotts vom Amerikaner David Scarpa geschriebene Annäherung an den General, Diktator und Kaiser der Franzosen eine eigene ist, wird man sie unweigerlich damit vergleichen. Einen Vorteil aber hat sie: Sie kommt schon heute in die Kinos, bei Spielberg ist noch nicht einmal die erste Klappe gefallen.

20.11.2023

20.11.2023

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Sollte dies der letzte Film des 86-jährigen Briten sein, schlösse sich ein Bogen: Die historische Spielzeit entspricht exakt der seines Debüts – den drei Jahrzehnten zwischen Napoleons Aufstieg und seinem Ende im Exil. Auch die fast konzeptuelle Episodenstruktur, ausgerichtet an sechs monumental inszenierten Schlachten, erinnert an „Die Duellisten“. Die Kriegsszenen selbst passen in ihrem Aufwand eher zu seinem späteren Werk.

Als Meister des martialischen Wimmelbilds ist Ridley Scott ein Pionier der digitalen Filmgeschichte: Bereits sein „Gladiator“, aus dem nun Joaquin Phoenix, der Darsteller des diabolischen Kaisers Commodus, in der Titelrolle zurückkehrt, rekonstruierte das voll besetzte Kolosseum mit Computertechnik. Jetzt lässt sich aus virtueller Vogelperspektive nachvollziehen, wie ganze Divisionen ohne Rücksicht auf Verluste wie in einem Brettspiel dirigiert werden. Manchmal umhüllt feiner Nebel diese Felder des Todes, manchmal ist der Kamerablick auch glasklar wie ein Brueghel-Gemälde. So bei einer eindrucksvollen Nachstellung der Schlacht von Austerlitz, die in die Geschichte des Kriegsfilms eingehen wird: Auf einem vereisten See schickt Napoleon die österreichischen und russischen Truppen in den Tod, als seine Kanonen ihnen den Boden unter den Füßen rauben – bis sie in bald blutrotem Wasser versinken. Insgesamt starben bei den Napoleonischen Kriegen rund 2,5 Millionen Soldaten und etwa eine Million Zivilisten.

Wer hätte gedacht, dass das Kriegsfilmgenre im Gefolge der politischen Wirklichkeit noch einmal ein solches Comeback erleben würde? Weniger freilich als bei „Im Westen nichts Neues“ steht hier der Schrecken im Vordergrund. Dafür wird die Liebe zu einem parallelen Schlachtfeld. Kurz nachdem der ehemalige Artillerie-Offizier mit mehr Glück als Verstand die Schlacht von Toulon gerettet hat, lernt er bei einem Ball Joséphine de Beauharnais kennen, gespielt von Vanessa Kirby, deren Anblick ihn buchstäblich entwaffnet. Souverän lässt sie den stammelnden Helden auflaufen, ein Paar aber werden sie doch. Ebenso lässig wird sie in der Ehe seine erotischen Bemühungen mit Reglosigkeit beantworten, aber warum eigentlich? Es scheint fast so, als fürchte Scott, diese Figur könnte weniger souverän wirken, wenn die Liebenden auf Augenhöhe agierten. Der Regisseur, der – vermutlich ähnlich wie sein Filmheld – mehr von Schlachten versteht als von Liebesszenen, legt Joséphine als emanzipierte, moderne Frauenfigur an. Genüsslich setzt sie ihrem Mann Hörner auf und bereitet ihm erotische Niederlagen, als er militärisch noch Erfolge feiert. Schließlich wird er die Ehe wegen Kinderlosigkeit annullieren lassen, bleibt ihr aber zeitlebens verfallen. Dafür, dass sich praktisch der gesamte private Napoleon in diesem Nebenstrang erklären soll, fehlt es ihm an Leben. Dabei hatte schon der wohl berühmteste aller Napoleon-Filme, Abel Gances sechseinhalbstündiger Stummfilm von 1927, gerade diese Liebesgeschichte besonders ernst genommen. Aber auch der Massenverführer wirkte in dieser frühen Fassung ungleich glaubwürdiger.

Phoenix, der ihn mit kleinen Ticks ausstattet, versucht es mit einer etwas altmodischen Idee von Method-Acting, so, wie man in einem Marvelfilm vielleicht den Schurken anlegen würde: Diesen Napoleon drängt es in die Rolle des Diktators, weil er sonst nicht gesellschaftsfähig ist. Das gibt ihm zwar etwas Faszinierend-Nervöses, kann aber nicht vermitteln, wie es ihm immer wieder gelingt, das Militär auf seine Seite zu bringen.

Genau an dieser Frage aber muss sich ein Napoleon-Film beweisen: Wie gelingt es einem einzelnen Menschen, über Jahrzehnte einen solchen Einfluss auszuüben, politische Ideen sehr erfolgreich weit über die eigene Nation hinaus zu propagieren und sie dann selbst zu korrumpieren. Auch der Kunsträuber, der das Musée Napoleon, den heutigen Louvre, füllte, wäre ein interessantes Thema gewesen. Alles aber, was Scott kulturhistorisch interessiert, sind die Schlachten – vielleicht, weil man sie mit heutiger Digitaltechnik so viel besser simulieren kann als im Jahr 2000, als sein „Gladiator“ noch sehr nach „Toy Story“ aussah. Doch auch auf Dariusz Wolskis Breitwandbildern liegt oft ein ähnlich trüber Firnis, wie er seinerzeit mangelnde Detailschärfe kaschierte.

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Die Filmgeschichte ist reich an Napoleons, gespielt von Leinwandlegenden wie Werner Krauß, Charles Boyer, Marlon Brando oder Rod Steiger, der 1970 im aufwändigen italienisch-russischen „Waterloo“ von Sergei Bondartschuk die Hauptrolle spielte. Dessen Misserfolg war auch der Grund, dass Stanley Kubrick sein Filmprojekt, das auf „2001 – Odyssee im Weltraum“ folgen sollte, beiseitelegen musste. Umso gespannter darf man sein, was Steven Spielberg damit nun anstellt.

Napoleon. USA 2023. Regie: Ridley Scott. Mit: Joaquin Phoenix, Vanessa Kirby, Tahar Rahim. 158 Minuten

QOSHE - Ridley Scotts „Napoleon“: Der Feldherr und seine erotischen Niederlagen - Daniel Kothenschulte
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Ridley Scotts „Napoleon“: Der Feldherr und seine erotischen Niederlagen

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22.11.2023

Vielleicht ist es ungerecht, in Ridley Scott den kleineren Stanley Kubrick zu sehen. Schließlich bewährte er sich in denselben Genres wie nur wenige andere: Sein Debüt „Die Duellisten“ wirkte 1977 wie eine Hommage an Kubricks „Barry Lyndon“. Seine hochstilisierten Science-Fiction-Filme „Alien“ und „Blade Runner“ müssen sich nicht verstecken hinter dessen Monument „2001 – Odyssee im Weltraum“. Und sein immens erfolgreicher „Gladiator“ erneuerte sogar mit dem Sandalenfilm ein Genre, das Kubricks Auftragsarbeit „Spartacus“ gemeinsam mit dem alten Hollywood zu Grabe getragen hatte.

Mit „Napoleon“ geht der posthume Wettstreit, wenn man ihn denn so sehen darf, in eine andere Dimension. In kein anderes Projekt investierte Kubrick mehr Energie als in sein Bonaparte-Biopic, seine umfangreichen Sammlungen zum Thema füllen einen Bildband im Taschen-Verlag und wurden in Ausstellungen gezeigt. Steven Spielberg erarbeitet gerade in enger Zusammenarbeit mit Kubricks Witwe Christiane und seinem Schwager Jan Harlan eine HBO-Miniserie nach dem bislang nicht verfilmten Drehbuch. Auch wenn Ridley Scotts vom Amerikaner David Scarpa geschriebene Annäherung an den General, Diktator und Kaiser der Franzosen eine eigene ist, wird man sie unweigerlich damit vergleichen. Einen Vorteil aber hat sie: Sie kommt schon heute in die Kinos, bei Spielberg ist noch nicht einmal die erste Klappe gefallen.

20.11.2023

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Sollte dies der letzte Film des 86-jährigen Briten sein, schlösse sich ein Bogen: Die historische Spielzeit entspricht exakt der seines Debüts –........

© Berliner Zeitung


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