Wasserschaden im Berliner Ensemble? Die Schwerkraft vollgesaugter Holzpaneele und bewegungsunfähige Technik? An diesem Premierenabend am Donnerstag im Haus am Schiffbauerdamm keine Spur mehr von der materiellen Malaise der letzten Wochen. Stattdessen durch Raum und Zeit fliegende Videobilder, die das geschlossene Bühnenportal fast verschwinden lassen. Zudem ist eine Raumkapsel in dessen Mitte gebaut, die dort hängt wie eine schwerelose Wabe im Orbit digitaler Fantasie.

Die Raum- und Videokünstler Daniel Roskamp und Andrea Schumacher haben zusammen mit einer sage und schreibe elfköpfigen Truppe sogenannter Digital Artists spektakuläre, in sich bewegliche, multistilistische Bilder einer virtuellen Weltversion ins BE projiziert, die digitale Innen- und analoge Außenperspektiven, vor allem aber menschliche Angst- und Wunschvorstellungen fantastisch vereint.

Dabei hat Sibylle Bergs dystopischer Roman „RCE“, den der Regisseur Kay Voges mithilfe dieser komplexen Bildtechnik hier auf die Bühne gebracht hat, mit Fantasie gar nicht übermäßig viel am Hut. Denn auch wenn vieles in dem 700-Seiten-Wälzer von 2022 auf den ersten Blick so scheint, besteht die Autorin darauf, dass der feudale Digitalkapitalismus, den sie darin beschreibt, ein (wenn auch zugespitztes) Bild ausgiebiger Recherchen im Hier und Jetzt ist, nicht bloße Fantasie. Dass es ihr ernst ist, sieht man auch daran, dass Berg sich als Kandidatin der PARTEI zur Europawahl aufstellen lässt, Listenplatz zwei hinter Martin Sonneborn.

Die schöne neue Welt jedenfalls, die „RCE“ vorstellt, ist keine sehr ferne Fiktion, zu klar sind die Potentaten und Oligarchen des Plattform-Feudalismus wiederzuerkennen, die auch heute schon den Großteil der World-Wide-Wunderwelt beherrschen. In „RCE“ nur ist die reale Welt komplett von ihren Digitalfirmen übernommen, und die durchgechipten Menschen darin hängen nur noch am Tropf chillender Unterhaltungs- und ehrgeiziger Optimierungs-Apps.

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Menschen, die, beginnend bei ihrem Biorhythmus bis hin zu jeder Kontobewegung, überwacht werden, vordergründig von sich selbst, tatsächlich aber von diesen Firmen, die aus jeder Datenbewegung Kapital schlagen. Dennoch haben die meisten Menschen nichts dagegen, weil alles viel zu viel geworden ist in dieser Welt aus guten und weniger guten Fakenews – unentscheidbar, was was ist. Und weil das Fun-Haben mit den persönlichen Endgeräten schon genug Zeit kostet.

Und trotzdem gibt es eine Handvoll junger Nerds, die nicht zufrieden sind mit diesem System, das astronomische Summen in die digitalen Fänge weniger spült, während die Mehrheit in multiplen Abhängigkeiten gefesselt ist. Ein Neustart ist nötig! Eine digitale Revolution, die durch ein paar gezielte Hacks die Fernsteuerung entscheidender Systeme unter die eigene Kontrolle bringt: ein paar „Remote Code Executions“ also, kurz RCEs.

Und mit einer furiosen Schnipseltechnik, die wie kurze Spots in die Leben dieser Revoluzzer, Mitläufer und Oligarchen zoomt, webt Berg im Countdown auf dieses revolutionäre Hack-Ereignis hin ein Textnetz, das im Nu die ganze Welt umspannt. Der harte Kern der „guten“ Hacker, fünf „Freunde“ genannt, hockt derweil irgendwo im Tessin und programmiert.

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Das Wichtigste: die fünf wollen das System mit seinen eigenen Mitteln sprengen, mit massiver Manipulation, durch Fake-Filme und Chat-Apps also, und mit fiktiven Finanzgeschäften. Dass Kay Voges, der bereits seit Jahren an der Verbindung von Theater und Digitalkunst experimentiert, genau dieses Prinzip auch zur Grundlage seiner Inszenierung gemacht hat, ist verständlich. Leider auch fatal.

Denn so schön das nur 75-minütige Cyberspektakel im BE auch aussieht, so undifferenziert schmelzen alle menschlich nerdigen Aspekte, die im Roman noch Lust auf Untergründiges machen, in der großen, anonymen KI-Bildmaschine in nichts zusammen. Da helfen auch die fünf wie aus dem 3D-Drucker gespuckten Schauspieler kaum, die als robotersteife PC-Menschen durch die Raumkapsel staksen und im monotonen 0-1-Rhythmus die Revolutionsgeschichte der fünf Freunde erzählen. Ein Bot-Spektakel, nicht mehr.

RCE. 26., 27. April, 3. bis 5. Mai, 19.30 Uhr. Karten unter Tel.: 28408115 oder www.berliner-ensemble.de

QOSHE - Alarm im Weltraum: Kay Voges inszeniert Sibylle Berg im Berliner Ensemble - Doris Meierhenrich
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Alarm im Weltraum: Kay Voges inszeniert Sibylle Berg im Berliner Ensemble

9 10
26.04.2024

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Dabei hat Sibylle Bergs dystopischer Roman „RCE“, den der Regisseur Kay Voges mithilfe dieser komplexen Bildtechnik hier auf die Bühne gebracht hat, mit Fantasie gar nicht übermäßig viel am Hut. Denn auch wenn vieles in dem 700-Seiten-Wälzer von........

© Berliner Zeitung


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