Gibt es denn nun wirklich den Big Brother – „existiert er wie ich?“ Als Paul Herbig das auf den Knien winselnd, in jammervoller Zerschlagenheit von seinem Freund und Folterer O'Brien wissen will, möchte man ihm fast mitleidig den Kopf halten und fragen: hast du’s denn immer noch nicht begriffen?

Auch im Gefängnis für Gedankenkriminelle, in das dieser Winston, Protagonist in George Orwells ikonischem Dystopie-Klassiker „1984“, am Ende seiner kleinen Gedankenfluchten landet, hat er die fließenden Machtmechanismen der totalitären Gegenwart immer noch nicht durchschaut. Die Materie ist hier unwichtig. „Die Wirklichkeit befindet sich in deinem Schädel“, so O'Brian und den bestimmen „wir“.

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Und wie das geht, wie diese Macht vom Freund zum Feind überfließt und der eigene Kopf ungreifbar wird, verbildlicht Luk Perceval an diesem Abend besonders eindrücklich darin, dass Winston und O'Brian die gleichen Personen spielen: vier an der Zahl sind es, Paul Herwig, Gerrit Jansen, Oliver Kraushaar und Veit Schubert, die wie ein großes, vielköpfiges Beamtenwesen sich umschleichen und umspielen und ebenso die innere Zerrissenheit Winstons deutlich machen wie die gleichgeschaltete Gewalt O'Brians.

Tagtäglich hatte Winston dem Großen Bruder durch dutzende Bildschirme in die Augen geblickt und doch zweifelt er noch unter Qualen an dessen Sein. Genau besehen geht es ihm darin nicht viel anders als uns heute, die wir im Minutentakt auf Displays schauen, aber die manipulierende Macht dahinter konsequent ignorieren – weil sie immateriell bleibt. Mag sein, dass den belgischen Regisseur Luk Perceval dieser Gedanke bewegte, als er den in Vielem prophetischen Roman von 1949 zum aktuellen Bühnenstoff fürs BE wählte. Seiner asketischen, auf wenige Stilmittel, vor allem aber auf den Chor der Schauspieler konzentrierten Inszenierung merkt man einen dezidiert aktuellen Zugriff jedoch kaum an.

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Zeitenthoben dreht sich ein spitz nach hinten zulaufender Spiegelraum auf der Bühne von Philip Bußmann, dessen mal spiegelnde, mal halb transparente, mal Doppelschatten werfende Wände jegliches Gefühl für „reale“ Raum- und Körpergrenzen schnell zerstäuben. Big Brother-Bilder braucht es hier gar nicht mehr, ebenso wenig wie Zeichen realen Lebens, denn alles ist bereits nur noch eine Sphäre immaterieller Stimmen und Gedanken. Ein Rest von Außen- und Innendifferenz vermittelt sich zwar noch zu Beginn, wenn die Rückseite der sich drehenden Spiegelfront plötzlich Holzstützen sichtbar macht und damit die Illusion von Gegenwirklichkeit. Hier trifft Winston eine kurze Zeit lang auch seine Geliebte Julia (Pauline Knopf) in dem Glauben, Umsturzpläne mit ihr schmieden zu können. Doch erweist sich auch diese Rückseite bald als Teil des Systems.

Mit dem Kniff des kafkaesken Chor-Spiels ist Perceval eine raffinierte, vielstimmige Inszenierung gelungen, die von Winstons zarter Ahnung, ein Individuum zu sein, allerdings nichts weiß und auch sonst in gepflegter Schönheit über dem Boden schwebt

Beriner Ensemble, wieder 28., 29.11., 2., 3.12.

QOSHE - George Orwells „1984“ im Berliner Ensemble: Die Wirklichkeit im Schädel - Doris Meierhenrich
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George Orwells „1984“ im Berliner Ensemble: Die Wirklichkeit im Schädel

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19.11.2023

Gibt es denn nun wirklich den Big Brother – „existiert er wie ich?“ Als Paul Herbig das auf den Knien winselnd, in jammervoller Zerschlagenheit von seinem Freund und Folterer O'Brien wissen will, möchte man ihm fast mitleidig den Kopf halten und fragen: hast du’s denn immer noch nicht begriffen?

Auch im Gefängnis für Gedankenkriminelle, in das dieser Winston, Protagonist in George Orwells ikonischem Dystopie-Klassiker „1984“, am Ende seiner kleinen Gedankenfluchten landet, hat er die fließenden Machtmechanismen der totalitären Gegenwart immer noch nicht durchschaut. Die Materie ist hier unwichtig. „Die Wirklichkeit befindet sich in deinem Schädel“, so O'Brian und den bestimmen „wir“.

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© Berliner Zeitung


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