Flucht aus der Heimat, Verlust von Familie und Freunden, eine ungewisse Zukunft: Das sind nur einige der Herausforderungen, die das Leben Millionen von Ukrainern in eine Krise stürzten, als Russland am 24. Februar 2022 seine groß angelegte Invasion ihres Landes begann. Das gemeinnützige Berliner Start-up Krisenchat wollte helfen: Die Plattform wurde 2020 im Zuge der Coronavirus-Pandemie gegründet, um Kindern und Jugendlichen über einen Online-Chat rund um die Uhr psychologische Unterstützung anzubieten. Inzwischen ist es auch das größte digitale Angebot in Deutschland zu diesem Thema.

Im März 2022 dehnte Krisenchat seine Dienste auf die Ukraine aus und rekrutierte Dutzende ukrainisch- und russischsprachige Berater und Freiwillige mit psychologischer Ausbildung. Mit Unterstützung durch Save the Children Deutschland, SOS-Kinderdörfer weltweit und Malteser Hilfswerken bietet Krisenchat Ukrainian auch zwei Jahre nach der Invasion psychologische Unterstützung an für Kinder und Jugendliche in der Ukraine und für diejenigen, die ins Ausland geflohen sind.

Die Psychotherapeutin Maryna Lutsenko, die als Beraterin in dem Projekt tätig ist, erzählt im Interview, mit welchen Problemen junge Ukrainer am häufigsten konfrontiert sind und wie sich die Wahrnehmung der psychischen Gesundheit in der Ukraine während des Krieges verändert hat.

Frau Lutsenko, was sind die häufigsten Probleme, die die Hilfesuchenden bei Krisenchat Ukrainian ansprechen?

Ich habe mit Kindern im Alter von neun Jahren bis hin zu 17- und 18-Jährigen gesprochen, und die Themen, die sie ansprechen, sind sehr vielfältig. Sie reichen von Problemen mit den Eltern bis hin zu depressiven Symptomen, Trauma-Reaktionen oder einem gebrochenen Herzen. Das sind ganz normale Themen für Kinder und Jugendliche, mit denen sie nur sehr schwer umgehen können. Außerdem sprechen wir auch oft über Kriegs- und Zukunftsängste, über Fluchterfahrungen und über die Angst, in einer der vielen Situationen, die wir in unserem Land während des Krieges erlitten haben, zu Schaden zu kommen. Eines der häufigsten Themen, über die Kinder sprechen, ist die Angst, dass ihre Angehörigen angegriffen werden. Auch Panikattacken oder Trauertraumata sind ein zentraler Punkt in unseren Beratungen.

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23.02.2024

Welche Erfahrungen aus Ihren Beratungen haben Sie besonders bewegt?

Die Themen, die mich am meisten berühren, betreffen immer die Beziehung zwischen Kind und Eltern, etwa wenn ein Kind keine Möglichkeit hat, sich aus einer negativen Situation zu befreien, und wir die einzige aktive Hilfe sind. In so einer Situation muss das Kind die Verantwortung für sein Leben übernehmen, auch wenn seine Eltern das nicht können, und wir helfen ihm dabei und geben ihm Kraft, mit allen Situationen umzugehen, die es zu Hause hat. Manchmal haben Kinder das Gefühl, dass es in der Welt nicht sicher ist, aber es ist noch schwieriger für sie zu verstehen, dass es in ihrem Zuhause und in ihren Beziehungen zu engen Verwandten auch nicht sicher ist. Wir versuchen, diesen Kindern Licht in die Dunkelheit zu bringen – solche Situationen sind für mich oft sehr schwer. Aber so vielen Hilfesuchenden wie möglich zu helfen, ist meine größte Inspiration.

Welche andere Formen der Unterstützung gibt es in der Ukraine für Kinder und Jugendliche, die psychische Hilfe benötigen? Ist der Staat in der Lage, mit der Nachfrage seit der russischen Invasion Schritt zu halten?

Wir haben ein Programm namens „How Are You?“, das von unserer First Lady gegründet wurde und in das Krisenchat Ukrainian auch aufgenommen wurde. Es ist ein großes und beliebtes Portal für psychische Gesundheit und bietet viele Programme für Menschen, die psychologische Unterstützung brauchen, darunter auch speziell für Kinder, Frauen und Veteranen, sowohl online und offline. Vor der Invasion war die psychische Gesundheit kein so bekanntes Thema – aber jetzt sehen wir viele populäre Inhalte und Informationen in den sozialen Medien darüber. Krisenchat Ukrainian ist auf Instagram, TikTok und anderen sozialen Medien sehr präsent, sodass wir vor allem Teenager erreichen können. Langsam werden die Dinge besser, und wir sind sehr froh darüber.

Welche Wünsche äußern die Hilfesuchenden in Bezug auf die Zukunft des Krieges?

Unser gesamtes Team und die jungen Menschen, die wir beraten, hoffen auf Frieden. Unsere Hilfesuchenden versuchen wirklich nur, ihr normales Leben trotz des Krieges zu leben. Wenn wir über Wünsche sprechen, stehen sie immer in direktem Zusammenhang mit dem Krieg oder der Flucht – sie wollen nach Hause zurückkehren, sie vermissen ihre Freunde oder ihre Haustiere, oder sie machen sich Sorgen, wie sie ihr Leben nach der Flucht wieder aufbauen können. Das sind alles sehr schwere Anliegen für sie, deshalb ist auch die Verbindung zu ihrem Zuhause durch diese Chat-Funktion sehr wichtig. Es ist wichtig, dass wir über die Zukunft und ihre Träume sowie über ihre Ängste sprechen. Selbst wenn sie sagen, dass sie eines Tages kämpfen und ihr Land verteidigen wollen, geht es immer noch um die Zukunft, was sehr wichtig ist, damit sie Hoffnung haben, diesen schwierigen Moment in ihrem Leben zu überstehen.

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Sprechen die Jugendlichen oft mit Ihnen über das, was sie in den Nachrichten über den Krieg sehen? Ein aktuelles Thema ist die Entführung ukrainischer Kinder nach Russland – beschäftigt das viele der Jugendlichen, mit denen Sie sprechen?

Zunächst einmal möchte ich sagen, dass Krisenchat Ukrainian sich entschieden gegen die Deportation und jede Art von Politisierung von Kindern im Zuge des russischen Angriffskrieges in der Ukraine und in anderen Kriegen ausspricht. Das Thema Krieg und Vertreibung ist eines der Top-Themen im Chat und spiegelt sich auch in allen anderen Themen wider. Das Thema Abschiebung kommt in unserer Beratung selten zur Sprache, was daran liegen mag, dass es für uns schwierig ist, die Betroffenen mit unserer Kommunikation zu erreichen. Für uns ist es oft schwierig, Menschen in den besetzten Gebieten der Ukraine zu erreichen, weil bei der Internetkontrolle nicht klar ist, ob wir die Sicherheit des Chats gewährleisten können. Aber meine Kollegen und ich sind gut darauf vorbereitet, mit den Ängsten und all den Themen umzugehen, die in diesem Bereich auftauchen könnten.

Krisenchat Ukrainian wurde ja vor fast zwei Jahren von einem Berliner Start-up ins Leben gerufen wurde. Was bedeutet es für Sie, diese Art von Unterstützung aus dem Ausland zu bekommen?

Das ist für mich sehr wichtig und hilft mir, weiterhin an die Menschlichkeit zu glauben. Alle Menschen, die für Krisenchat in der Ukraine und in Deutschland arbeiten, sind wunderbare Menschen mit großen Herzen. Sie sind die zweite Inspiration für meine Arbeit.

Welche Unterstützung werden junge Generationen von Ukrainern Ihrer Meinung nach in den kommenden Jahren benötigen, um die Folgen des Krieges zu überwinden?

Die Forschung zeigt, dass es sehr wichtig ist, mit Traumata im Moment zu arbeiten, um die Auswirkungen von PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) zu verhindern oder zu verringern. Ich denke, dass wir im Moment sehr gute Arbeit leisten, um die Entstehung von Traumata und Störungen zu verhindern. Psychologische Themen sind relativ neu in unserer Gesundheitsstruktur in der Ukraine, obwohl sie seit der Invasion an Bedeutung gewonnen haben. Wie sich der Krieg auf die Kinder und die jüngeren Generationen auswirkt, wird sich erst nach dem Ende des Krieges vollends zeigen – ich gehe aber davon aus, dass der Bedarf an professioneller Hilfe sehr hoch sein wird.

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21.02.2024

Kriegs- und Fluchterfahrungen gehören zu den traumatischsten Erlebnissen, die ein Mensch machen kann, und die Menschen werden Hilfe brauchen, um all das Geschehene zu verarbeiten und ihre eigene Widerstandskraft zu stärken. Wir erwarten auch, was wir in anderen Kriegen gesehen haben, dass eine stark traumatisierte junge Generation wichtige Meilensteine in der Entwicklung ihres Lebens verpasst hat.

Wir glauben, dass die psychische Gesundheit der Schlüssel sein wird, um all diese Situationen und die Traumata, die unser Land erlebt hat, zu überwinden – sie ist ebenso wichtig wie die körperliche und emotionale Gesundheit, damit wir die Kraft haben, unser Land und unser eigenes Leben wiederaufzubauen.

QOSHE - Ukraine-Krieg: Wie ein Berliner Start-up Kindern in psychischer Not hilft - Elizabeth Rushton
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Ukraine-Krieg: Wie ein Berliner Start-up Kindern in psychischer Not hilft

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25.02.2024

Flucht aus der Heimat, Verlust von Familie und Freunden, eine ungewisse Zukunft: Das sind nur einige der Herausforderungen, die das Leben Millionen von Ukrainern in eine Krise stürzten, als Russland am 24. Februar 2022 seine groß angelegte Invasion ihres Landes begann. Das gemeinnützige Berliner Start-up Krisenchat wollte helfen: Die Plattform wurde 2020 im Zuge der Coronavirus-Pandemie gegründet, um Kindern und Jugendlichen über einen Online-Chat rund um die Uhr psychologische Unterstützung anzubieten. Inzwischen ist es auch das größte digitale Angebot in Deutschland zu diesem Thema.

Im März 2022 dehnte Krisenchat seine Dienste auf die Ukraine aus und rekrutierte Dutzende ukrainisch- und russischsprachige Berater und Freiwillige mit psychologischer Ausbildung. Mit Unterstützung durch Save the Children Deutschland, SOS-Kinderdörfer weltweit und Malteser Hilfswerken bietet Krisenchat Ukrainian auch zwei Jahre nach der Invasion psychologische Unterstützung an für Kinder und Jugendliche in der Ukraine und für diejenigen, die ins Ausland geflohen sind.

Die Psychotherapeutin Maryna Lutsenko, die als Beraterin in dem Projekt tätig ist, erzählt im Interview, mit welchen Problemen junge Ukrainer am häufigsten konfrontiert sind und wie sich die Wahrnehmung der psychischen Gesundheit in der Ukraine während des Krieges verändert hat.

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Ich habe mit Kindern im Alter von neun Jahren bis hin zu 17- und 18-Jährigen gesprochen, und die Themen, die sie ansprechen, sind sehr vielfältig. Sie reichen von Problemen mit den Eltern bis hin zu depressiven Symptomen, Trauma-Reaktionen oder einem gebrochenen Herzen. Das sind ganz normale Themen für Kinder und Jugendliche, mit denen sie nur sehr schwer umgehen können. Außerdem sprechen wir auch oft über Kriegs- und Zukunftsängste, über Fluchterfahrungen und über die Angst, in einer der vielen Situationen, die wir in unserem Land während des Krieges erlitten haben, zu Schaden zu kommen. Eines der häufigsten Themen, über die Kinder sprechen, ist die Angst, dass ihre Angehörigen........

© Berliner Zeitung


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