Die letzten Jahrzehnte haben viele Gassen Kabuls verändert. Während ihre einstigen Bewohner vor Krieg und Terror geflüchtet sind, haben sich andere – meist deutlich ärmere Afghanen aus anderen Provinzen – in der afghanischen Hauptstadt angesiedelt. Eine Entwicklung, die unter anderem zu einem rasanten Anstieg der Einwohnerzahl geführt hat.

Ähnliches ist auch in Kharabat in der Kabuler Altstadt der Fall. Einst lebten hier viele Sikhs und Hindus. Mittlerweile haben die meisten Mitglieder dieser religiösen Minderheiten aufgrund von Verfolgung und Unterdrückung das Land verlassen. Der nahe liegende Sikh-Tempel steht leer und ist verriegelt. „Die sind schon längst in Indien oder in Kanada“, sagt ein Händler, der neben dem Tempel arbeitet. Wer durch die Gassen von Kharabat läuft, bemerkt viele Gesichter, die nicht nur Besuchern neu erscheinen. Einige von ihnen sprechen Paschto, andere Farsi-Dialekte aus den nördlichen Regionen des Landes. Das originale Kabuli, also der persische Dialekt der afghanischen Hauptstadt, ist zwar noch da, allerdings ist er etwas seltener zu hören.

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„Hier hat sich vieles verändert, doch solange wir hier sind, wird vieles auch gleich bleiben“, sagt Asadullah Cheshti lächelnd. Er trägt einen sauberen, weißen Peran Tumban, eine grün schimmernde Weste und hat seine langen, weißen Haaren elegant zurückgekämmt. Cheshtis etwas dunklere Hautfarbe lässt erahnen, dass seine Vorfahren, wie die meisten „echten“ Kharabatis, vor Jahrhunderten aus Indien nach Afghanistan kamen – und ihre traditionelle Musik hierherbrachten. Bis heute ist Kharabat bekannt als das einst ehrwürdige Musikerviertel Kabuls.

Praktisch alle Meister der klassischen afghanischen Musik, Männer wie Mohammad Hossain Sarahang, Abdul Mohammad Hamahang oder Rahim Bakhsch, stammten von hier. Der 60-jährige Cheshti kennt Kharabat wie seine Westentasche. Kein Wunder, denn auch er gehört zu den Meistern seiner Zunft. Seit fast einem halben Jahrhundert spielt er die Tabla. Cheshti ist mit den zwei Trommeln praktisch aufgewachsen und gehörte zu den Schülern einer weiteren Legende aus Kharabat, Mohammad Haschem Cheshti, dessen Beinamen er aus Respekt für seinen Meister angenommen hat.

Heute sollte es eigentlich Asadullah Cheshti sein, der die nächste Generation der Tabla-Spieler Kharabats ausbildet. Doch seitdem die militant-islamistischen Taliban im August 2021 abermals die Macht im Land übernommen haben, wird weder ein Instrument gespielt noch ein Lied gesungen. Bereits während des ersten Taliban-Regimes der 1990er-Jahre erließen die Extremisten ein Musikverbot. Fernsehgeräte oder Kassetten wurden beschlagnahmt und zerstört, Musiker und Musikerinnen verbannt. Fünf Jahre lang herrschte in Afghanistan Totenstille. Heute erscheint zumindest nicht alles so schlimm wie damals.

Die neuen Taliban sind in vielerlei Hinsicht weiterhin die alten. Ihre Ideologie sei mit Musik nicht vereinbar. In einigen Regionen des Landes wurden Instrumente zerstört und Musiker gefoltert. Wer im Auto mit Musik erwischt wird, hat nicht immer, aber häufig mit Problemen oder zumindest dummen Sprüchen seitens der Taliban-Fußsoldaten zu rechnen. Radiosender spielen nur noch Koranverse. Auf Hochzeiten darf keine Livemusik mehr gespielt werden, weshalb YouTube-Playlisten herhalten müssen. Hierfür muss man sich im Vorfeld meist mit den lokalen Taliban-Kämpfern arrangieren und sie gegebenenfalls mit warmer Mahlzeit oder Bargeld schmieren.

Alle Musiker, auch jene wie Asadullah Cheshti und seine Söhne in Kharabat, sind arbeitslos geworden und müssen sich anderweitig über Wasser halten. „Wir haben nichts anderes gelernt. Wir können nicht plötzlich einen Laden führen oder Essen verkaufen“, beschwert sich Cheshti und erklärt, dass er praktisch zum Scheitern verurteilt sei. Viele Angehörige seiner Zunft hätten das Land verlassen, doch er wollte diesmal bleiben. Wie viele Afghanen lebte einst auch Cheshti jahrelang als Geflüchteter im Nachbarland Pakistan. Er musizierte in den Flüchtlingslagern Peschawars oder in den Gasthäusern Waziristans. Sein Handwerk wurde geschätzt. Selbst die Taliban wissen, dass die Musiker Kharabats keine billigen Hochzeitssänger sind, die mittels Autotune und YouTube nach Berühmtheit und viel Geld lechzen, sondern echte Meister, deren Gesänge und Musik meist mit vielen Aspekten des spirituellen Islams und des Sufismus zusammenfließen.

„Sie kamen hierher, sahen unsere Instrumente und meinten etwas ehrfürchtig, dass von nun an nicht mehr gespielt werden dürfe“, sagt Asadullah Cheshti, während einer seiner Söhne in einem kleinen Kiosk sitzt und einem Kunden Energydrinks und Zigaretten verkauft. Den Kiosk kaufte Cheshti mit seinem letzten Ersparten, um die Existenz seiner Familie zu sichern. Früher war der Tabla-Meister ausgebucht und seine Söhne studierten die Musik, um irgendwann in die Fußstapfen des Vaters zu treten.

Während die Taliban der bekannten, afghanischen Musik den Krieg erklärt haben und Asadullah Cheshti und anderen Musikern das Leben erschweren, sind sie es ironischerweise selbst, die eine etwas andere Art von Musik hören. „Sie haben Musik verbannt. Doch ihre Kämpfer hören an ihren Checkpoints Musik.“

„Können Sie das erläutern? Was für Musikvorlieben haben Sie?“, fragte eine ausländische Journalistin den Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahed während eines Interviews, das vor rund einem Jahr in den sozialen Medien verbreitet wurde. Mujahed antwortete daraufhin, dass er gar keine Musik hören würde und dass dies auch für seine Kämpfer der Fall sei. Vielmehr würden sie sich religiösen Kampfgesängen, sogenannten Taranas, die meist über Taliban-Kanäle verbreitet werden, widmen. Diese würden allerdings gar keine Musik im eigentlichen Sinne darstellen.

Ein Mann, der dem widerspricht, ist der afghanische Musikologe Mirwais Siddiqi, der einst klassische Musik in Kabul unterrichtete und in den letzten 20 Jahren vor Ort für verschiedene Institutionen wie die Agha-Khan-Stiftung tätig gewesen ist.
Siddiqi wirkte und studierte unter anderem in Frankreich, Großbritannien und Deutschland. Er ist ein weltgewandter Kosmopolit, der neben Persisch und Paschto Deutsch, Französisch und Englisch spricht.

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„Die Taliban hören Musik, aber sie wollen es nicht zugeben. Ihre Taranas sind nichts anderes als Musik“, sagte Siddiqi während einer Veranstaltung im vergangenen Juni in Wien. Dann erklärte er, dass die Taliban sich an bekannten Tönen und Rhythmen orientieren würden, um ihre eigene Musik zu komponieren. „Sie wenden sich hierfür sogar an bekannte Sänger und verlangen von ihnen, Taranas zu produzieren“, so Siddiqi.

Während seines Vortrags an der Wiener Universität für Musik und Darstellende Kunst zeigt Siddiqi Videoausschnitte von privaten Konzerten und Hochzeiten aus dem Kabul der 1970er- und 80er-Jahre, dem Zeitalter der afghanischen Popmusik. Besonders prägnant ist eine Aufzeichnung der bekannten Sängerin Hangama, die damals offenes, kurzes Haar und westliche Kleidung trug. Ein Anblick, der nicht nur heute unter dem Taliban-Regime, sondern auch im Kabul der letzten zwanzig Jahre unvorstellbar gewesen wäre. Während Siddiqi die Szenen und die Musik beschreibt, wird er für wenige Momente emotional. Ähnlich geht es vielen Afghanen und Afghaninnen im Publikum, die aufgrund von Siddiqis Vortrag in ihrer eigenen Nostalgie schwelgen. Damals das vermeintlich friedvolle Kabul, in dem musiziert und getanzt wurde; heute das dunkle Regime der Männer mit den schwarzen Turbanen.

Die Vorstellung von Heimat innerhalb der afghanischen Diaspora unterscheidet sich meist in vielerlei Hinsicht von den Realitäten der Menschen vor Ort. Der Beruf des Musikers wird etwa nicht nur von den Taliban abgelehnt, sondern auch von weiten Teilen der traditionell-konservativen Gesellschaft. Singende Frauen werden nicht nur von Fundamentalisten und Fanatikern mit Prostituierten gleichgestellt. Bekannte afghanische Musiker wie Sediq Fitrat, hauptsächlich bekannt als „Nashenas“ („der Unbekannte“), sangen jahrelang, während sie gleichzeitig die Wut ihrer Väter fürchteten und deshalb anonym blieben. Auch die einstigen Events mit Popikonen wie Hangama oder ihrem bekannten musikalischen Partner Ahmad Wali waren nicht repräsentativ für ganz Afghanistan, sondern nur für eine kleine, bürgerliche Blase in Kabul.

Asadullah Cheshti kennt alle bekannten Musiker Afghanistans, doch sein Metier unterscheidet sich, ähnlich wie sein ganzes Leben, deutlich von jenem einer Hangama. Immerhin lebt diese seit Jahrzehnten in Kanada, während der Tabla-Meister in der Gasse von Kharabat geblieben ist. Dass die Taliban trotz vehementen Leugnens tatsächlich Musik hören würden, bestätigt allerdings auch Cheshti. „Natürlich ist auch das, was sie hören, eine Form von Musik. Vielleicht sehen sie das irgendwann ein und gestatten uns dann wieder, unserer Berufung nachzugehen“, sagt er lächelnd.

Emran Feroz ist ein österreichisch-afghanischer Journalist, Kriegsreporter und Buchautor.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.

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Vergessene Klänge: Wie die Taliban in Afghanistan der Musik den Krieg erklärten

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03.12.2023

Die letzten Jahrzehnte haben viele Gassen Kabuls verändert. Während ihre einstigen Bewohner vor Krieg und Terror geflüchtet sind, haben sich andere – meist deutlich ärmere Afghanen aus anderen Provinzen – in der afghanischen Hauptstadt angesiedelt. Eine Entwicklung, die unter anderem zu einem rasanten Anstieg der Einwohnerzahl geführt hat.

Ähnliches ist auch in Kharabat in der Kabuler Altstadt der Fall. Einst lebten hier viele Sikhs und Hindus. Mittlerweile haben die meisten Mitglieder dieser religiösen Minderheiten aufgrund von Verfolgung und Unterdrückung das Land verlassen. Der nahe liegende Sikh-Tempel steht leer und ist verriegelt. „Die sind schon längst in Indien oder in Kanada“, sagt ein Händler, der neben dem Tempel arbeitet. Wer durch die Gassen von Kharabat läuft, bemerkt viele Gesichter, die nicht nur Besuchern neu erscheinen. Einige von ihnen sprechen Paschto, andere Farsi-Dialekte aus den nördlichen Regionen des Landes. Das originale Kabuli, also der persische Dialekt der afghanischen Hauptstadt, ist zwar noch da, allerdings ist er etwas seltener zu hören.

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Praktisch alle Meister der klassischen afghanischen Musik, Männer wie Mohammad Hossain Sarahang, Abdul Mohammad Hamahang oder Rahim Bakhsch, stammten von hier. Der 60-jährige Cheshti kennt Kharabat wie seine Westentasche. Kein Wunder, denn auch er gehört zu den Meistern seiner Zunft. Seit fast einem halben Jahrhundert spielt er die Tabla. Cheshti ist mit den zwei Trommeln praktisch aufgewachsen und gehörte zu den Schülern einer weiteren Legende aus Kharabat, Mohammad Haschem Cheshti, dessen Beinamen er aus Respekt für seinen Meister angenommen hat.

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