Die letzten Atomkraftwerke in Deutschland wurden am 15. April 2023 abgeschaltet. Ein Jahr später verbucht Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) diesen Schritt als vollen Erfolg.

„Wir sehen heute, dass die Stromversorgung weiter sicher ist, die Strompreise auch nach dem Atomausstieg gefallen sind und die CO₂-Emissionen ebenfalls runtergehen“, sagte der Grünen-Politiker den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Zuvor hatte er die Energiekrise für beendet erklärt.

Der Strompreis im Großhandel ist mittlerweile im Vergleich zu Rekordwerten im Jahr 2022 deutlich gesunken – doch bedeutet das automatisch, dass der Atomausstieg richtig war? Die von den Grünen geführte Bundesnetzagentur stimmt Habeck mit einem eindeutigen Ja zu.

„Eine Änderung des Großhandelspreises rund um den Atomausstieg im April 2023 ist nicht erkennbar“, sagte Fiete Wulff, Pressesprecher der Bundesnetzagentur, auf Anfrage der Berliner Zeitung. Ebenso sei die Stromversorgung durch genügend gesicherte Kraftwerksleistung aus anderen Anlagen gewährleistet. Das betrifft die aktuelle Lage, doch auch in der Prognose zeigt sich die Behörde optimistisch. Der Strompreis werde in Zukunft mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien weiter sinken, heißt es.

Auch das Wirtschaftsministerium vermittelt nur positive Aussichten für den grünen Strom. Doch ist die Preisentwicklung beim Strom so einfach, wie von den Grünen dargestellt? Eine neue Studie der Wirtschaftsweisen Veronika Grimm, die als Mitglied des Sachverständigenrats die Politik in wirtschaftlichen Fragen berät, bietet eine komplexere Perspektive an.

In vielen Zeiträumen des Jahres reichen erneuerbare Energieträger wie Wind und Sonne nicht aus, um das Land mit Strom zu versorgen. In diesen Zeiträumen müsse man alternativ auf andere Energieträger wie Batteriespeicher oder Gaskraftwerke zurückgreifen und deren Investitionskosten mit in die Berechnung einfließen lassen. Dies deute „nicht darauf hin, dass die Stromkosten im kommenden Jahrzehnt deutlich sinken werden“, argumentierte Grimm in der Studie.

gestern

•heute

•gestern

Grimm ist nicht die Einzige, die im Gegensatz zur Regierung auch in der Zukunft mit keiner deutlichen Erholung der Strompreise rechnet. Der Umweltökonom Manuel Frondel vom RWI Essen, der eine noch kritischere Position vertritt, verwies kürzlich in einem Gastbeitrag in der Berliner Zeitung auf die Auswirkung der weiteren Faktoren wie der steigenden Nachfrage nach Strom oder des Baus der neuen Erdgaskraftwerke auf den Strompreis. Auch höhere Netzentgelte werden nicht zur Vergünstigung des Stroms beitragen, ist Frondel überzeugt.

Dass der Strompreis an der Börse seit 2022 gesunken ist, lässt sich laut dem Umweltökonomen mit vielen Gründen erklären.„ Ein wesentlicher Grund ist natürlich, dass wir aus einer Phase des Energiepreisschocks infolge des Angriffs Russlands auf die Ukraine kommen“, sagt Frondel der Berliner Zeitung. Wesentlich ist aus seiner Sicht jedoch die kontrafaktische Frage, wie viel tiefer die Strompreise sein könnten, wenn Deutschland seine AKW nicht abgeschaltet hätte. Dass faktisch die Strompreise trotz Abschaltung der AKW gesunken sind, ist in seinen Augen kein Beleg dafür, dass der Atomausstieg Deutschland keinen Wohlstand kostet.

Energieexperte betrachtet den billigen grünen Strom als Märchen

•vor 3 Std.

Siemens: Deutsche Wirtschaft noch Jahrzehnte von China abhängig

vor 6 Std.

Die Industrie hatte Habeck bereits vorher widersprochen – die Kosten für Energie und Rohstoffe in Deutschland seien nach wie vor viel höher als bei den Wettbewerbern im Ausland. So sieht es auch der Verband der Industriellen Energie- & Kraftwirtschaft (VIK). „Die Strompreise sind im internationalen Vergleich immer noch zu hoch“, sagt der Sprecher des Verbandes, Matthias Galda, der Berliner Zeitung. Der gesunkene Strommarktpreis sei fast vollständig durch kräftig gestiegene Netzentgelte egalisiert worden.

In der Industrie gebe es außerdem Bedenken, ob die Energieversorgung tatsächlich komplett gesichert und Abhängigkeiten reduziert worden seien, wie Habeck in seinen Äußerungen bekräftigte. Der Ausbau erneuerbarer Energien und des Stromnetzes verläuft laut dem VIK nicht synchron zur Abschaltung der Atom- und Kohlekraftwerke. „Es sind bereits heute erhebliche Anstrengungen erforderlich, um das Stromsystem stabil zu halten.“

Auch der von Habeck verkündeten Erholung der Strompreise widersprach der Verband. „Die Kostenvorteile erneuerbarer Energien werden durch Systemkosten für das Stromnetz und Back-up-Kraftwerke konterkariert“, sagte Galda. Die Energiekrise sei noch lange nicht vorbei, die deutsche Industrie habe weiterhin keine Planungssicherheit.

Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns gern! briefe@berliner-zeitung.de

QOSHE - Strompreis: Bundesnetzagentur stärkt Habeck den Rücken – Ökonomen kontern - Flynn Jacobs
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Strompreis: Bundesnetzagentur stärkt Habeck den Rücken – Ökonomen kontern

23 0
15.04.2024

Die letzten Atomkraftwerke in Deutschland wurden am 15. April 2023 abgeschaltet. Ein Jahr später verbucht Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) diesen Schritt als vollen Erfolg.

„Wir sehen heute, dass die Stromversorgung weiter sicher ist, die Strompreise auch nach dem Atomausstieg gefallen sind und die CO₂-Emissionen ebenfalls runtergehen“, sagte der Grünen-Politiker den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Zuvor hatte er die Energiekrise für beendet erklärt.

Der Strompreis im Großhandel ist mittlerweile im Vergleich zu Rekordwerten im Jahr 2022 deutlich gesunken – doch bedeutet das automatisch, dass der Atomausstieg richtig war? Die von den Grünen geführte Bundesnetzagentur stimmt Habeck mit einem eindeutigen Ja zu.

„Eine Änderung des Großhandelspreises rund um den Atomausstieg im April 2023 ist nicht erkennbar“, sagte Fiete Wulff, Pressesprecher der Bundesnetzagentur, auf Anfrage der Berliner Zeitung. Ebenso sei die Stromversorgung durch genügend gesicherte Kraftwerksleistung aus anderen Anlagen gewährleistet. Das betrifft die aktuelle Lage, doch auch in der Prognose zeigt sich die Behörde optimistisch. Der Strompreis werde in Zukunft mit dem Ausbau der........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play