Der Regen tropft auf die Fensterscheiben von Raum 6.556 im Jakob-Kaiser-Haus in Berlin. Im Hintergrund sticht der Bundestag hervor. Am Mittwochvormittag eröffnet die Abgeordnete des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), Sevim Dağdelen, um 10 Uhr ein Pressegespräch über den Fall Julian Assange. Neben ihr sitzt Sören Schomburg, seit mehreren Jahren Anwalt im Verteidigungsteam des WikiLeaks-Gründers.

Vom 20. bis zum 21. Februar findet nun eine zweitägige Anhörung im High Court in London statt. Zu diesem Zeitpunkt könnte Assanges Auslieferung an die Vereinigten Staaten beschlossen werden, wo ihm eine Freiheitsstrafe von bis zu 175 Jahren droht. Zwei Richter werden entscheiden, ob Assange in Großbritannien weitere Rechtsmittel gegen eine Auslieferung an die USA einlegen darf. Was danach geschieht, bleibt offen.

„Es ist ein Tod auf Raten, der stattfindet“, sagt Dağdelen in Bezug auf den politisch motivierten Prozess. Sie wird kommende Woche als Prozessbeobachterin vor Ort sein. Der Politikerin zufolge sei das ganze Verfahren bereits eine Strafe für Assanges Enthüllungen. Seit längerer Zeit setzt sich Dağdelen mit dem Fall auseinander. „Erst waren wir im Bundestag noch eine kleine Gruppe“, sagt sie.

Doch inzwischen bestehe in der Politik ein geschärftes Bewusstsein für den Fall Julian Assange. Am 7. Juli 2022 verurteilte der Bundestag mit einem Beschluss die „politische Verfolgung“ des Journalisten als Angriff auf die Pressefreiheit und rief die Bundesregierung dazu auf, sich für seine Freilassung und die Nichtauslieferung an die USA einzusetzen. Doch die Regierung kommt der Bundestagsentschließung nicht nach. „Das ist eine inakzeptable Missachtung des Parlaments“, so Dağdelen.

Die Geschichte ist bekannt: Der australische Aktivist Julian Assange befindet sich seit mehr als vier Jahren im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London. Doch er wird bereits seit über einem Jahrzehnt seiner Freiheit beraubt. International bekannt wurden er und WikiLeaks im April 2010, als die Plattform ein etwa zwanzigminütiges Video veröffentlichte, das einen bis dahin geheimen Vorfall im Irak enthüllte.

„Collateral Murder“ lautete der Titel des schwarz-weißen Videoclips, der drei Jahre zuvor aufgenommen worden war und einen US-Militärhubschrauber zeigte, der das Feuer auf eine Gruppe irakischer Zivilisten eröffnet, darunter auch zwei Journalisten der britischen Nachrichtenagentur Reuters. Mehrere Menschen kamen bei dem Angriff ums Leben. Das Video zeigte auch den Beschuss eines Vans mit Kindern an Bord.

UPCOMING DATES:

20-21 Feb: Julian Assange final UK appeal, Royal Courts of Justice, London; protests globally https://t.co/Nli5mdS8yN
7 Mar: Anniversary 'Vault 7' Release
5 Apr: Anniversary 'Collateral Murder'
3 May: World Press Freedom Day #FreeAssange pic.twitter.com/cUvKfjQZMs

13.02.2024

13.02.2024

13.02.2024

12.02.2024

13.02.2024

„Offensichtlich ist Julian Assanges einziges Vergehen, dass er ein Dissident des Westens ist“, sagt Dağdelen. Er sei vom Enthüller zum Opfer der westlichen Doppelmoral geworden. Deshalb würden sich die westlichen Staaten nicht für Assange einsetzen, vermutet die Abgeordnete.

Mit der Zeit sammelten sich auf der Enthüllungsplattform WikiLeaks Veröffentlichungen, die unter anderem Kriegsverbrechen, Folter und Ermordungen belegten. Kurz danach fingen die Amerikaner an, WikiLeaks und deren Anhänger zu verfolgen. Assange fand vorübergehend Schutz in der ecuadorianischen Botschaft in London, bevor er im April 2019 von der britischen Polizei festgenommen und nach Belmarsh gebracht wurde. Seitdem ist er nicht mehr in der Öffentlichkeit erschienen.

Der Vorwurf gegen Assange lautet, dass der Australier unter anderem gegen den Espionage Act verstoßen habe, ein amerikanisches Gesetz, das während des Ersten Weltkriegs erlassen wurde. Dieses Gesetz verbietet die Weitergabe von Informationen an ausländische Regierungen oder deren Vertreter und bestraft Spionageaktivitäten.

Bei Assange handelt es sich um den ersten bekannten Fall, in dem ein Journalist von einem westlichen Staat der Spionage beschuldigt wird. „Die Auslieferung Assanges wäre ein gefährlicher Präzedenzfall“, sagt Dağdelen. Sie schaut dabei in die Journalistenrunde – es gehe um Assanges Zukunft, aber auch um die des Journalismus.

An diesem regnerischen Februartag sind nur wenige Medienvertreter ins Jakob-Kaiser-Haus gekommen. Man kann sie an einer Hand abzählen. Generell scheint das Interesse der Medien auf andere Themen fokussiert zu sein. Für die anstehende Anhörung nächste Woche droht laut Dağdelen erneut ein „weitgehender Ausschluss der Öffentlichkeit“. Sie selbst wisse noch immer nicht, wie und wo sie die Anhörung beobachten werde.

Es ist äußerst schwierig, kommende Woche den Gerichtstermin zu verfolgen: Das Akkreditierungsverfahren ist intransparent, und es gibt keine Angaben beispielsweise zur maximalen Anzahl von Plätzen im Gerichtssaal. Bislang wurde der Saal, in dem die Anhörung stattfinden soll, offenbar noch nicht einmal festgelegt.

Eine Möglichkeit besteht jedoch: Man kann sich per E-Mail an das britische Justizministerium wenden, um Zugang zu einem Internet-Link zu erhalten, über den die Ereignisse an beiden Prozesstagen in Echtzeit ausgestrahlt werden sollen. Allerdings könnte der Zugang für Personen, die sich zu diesem Zeitpunkt nicht in Großbritannien aufhalten oder britischer Jurisdiktion unterliegen, versperrt bleiben.

Für Assange und seine Zukunft sind nun zwei Szenarien möglich, erklärt Anwalt Schomburg. Entweder werden ein oder mehrere Punkte akzeptiert, die von der Verteidigung vorgebracht wurden. In diesem Fall würde Assange nicht in die Vereinigten Staaten ausgeliefert werden, und das Verfahren würde sich auf weitere Verhandlungen konzentrieren. Der Australier hätte dann das Recht, Berufung einzulegen.

Oder: Keiner der Punkte wird vom Gericht anerkannt – dann müsste Großbritannien Assange binnen 28 Tagen an die USA ausliefern. Unter diesen Umständen würde sich sein Anwaltsteam an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg wenden. Doch, wie schon zuvor, könnte das Gericht auch dieses Mal kein Urteil fällen.

Ende Januar hat Anwalt Schomburg seinen Mandanten zum letzten Mal besucht. Die Gesundheit des Gefangenen bezeichnet er als „schlecht“. Wie solle es einem Mann gehen, der seit Jahren in einem der berüchtigtsten Gefängnisse der Welt eingesperrt ist, sagt er. Auch im besten Fall gebe es nächste Woche für Assange wenig zu jubeln.

„Selbst ein Erfolg bei der Anhörung würde auch nach fast fünf Jahren in Haft nicht zur Freilassung führen“, sagt Schomburg. Assange würde weiterhin im „Guantánamo Englands“ bleiben müssen. Es gibt keine festgelegten Fristen, innerhalb derer der High Court eine endgültige Entscheidung treffen muss. Es könnten noch Wochen, Monate oder sogar ein Jahr vergehen.

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Letzter Aufruf für Assange – Sevim Dağdelen: „Es ist ein Tod auf Raten“

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15.02.2024

Der Regen tropft auf die Fensterscheiben von Raum 6.556 im Jakob-Kaiser-Haus in Berlin. Im Hintergrund sticht der Bundestag hervor. Am Mittwochvormittag eröffnet die Abgeordnete des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), Sevim Dağdelen, um 10 Uhr ein Pressegespräch über den Fall Julian Assange. Neben ihr sitzt Sören Schomburg, seit mehreren Jahren Anwalt im Verteidigungsteam des WikiLeaks-Gründers.

Vom 20. bis zum 21. Februar findet nun eine zweitägige Anhörung im High Court in London statt. Zu diesem Zeitpunkt könnte Assanges Auslieferung an die Vereinigten Staaten beschlossen werden, wo ihm eine Freiheitsstrafe von bis zu 175 Jahren droht. Zwei Richter werden entscheiden, ob Assange in Großbritannien weitere Rechtsmittel gegen eine Auslieferung an die USA einlegen darf. Was danach geschieht, bleibt offen.

„Es ist ein Tod auf Raten, der stattfindet“, sagt Dağdelen in Bezug auf den politisch motivierten Prozess. Sie wird kommende Woche als Prozessbeobachterin vor Ort sein. Der Politikerin zufolge sei das ganze Verfahren bereits eine Strafe für Assanges Enthüllungen. Seit längerer Zeit setzt sich Dağdelen mit dem Fall auseinander. „Erst waren wir im Bundestag noch eine kleine Gruppe“, sagt sie.

Doch inzwischen bestehe in der Politik ein geschärftes Bewusstsein für den Fall Julian Assange. Am 7. Juli 2022 verurteilte der Bundestag mit einem Beschluss die „politische Verfolgung“ des Journalisten als Angriff auf die Pressefreiheit und rief die Bundesregierung dazu auf, sich für seine Freilassung und die Nichtauslieferung an die USA einzusetzen. Doch die Regierung kommt der Bundestagsentschließung nicht nach. „Das ist eine inakzeptable Missachtung des Parlaments“, so Dağdelen.

Die Geschichte ist bekannt: Der........

© Berliner Zeitung


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