Die Verstörung wirkt noch nach, aber moralische Empörung erweist sich als hilflose Reaktion. Gleich zweimal haben am vergangenen Sonnabend sogenannte propalästinensische Aktivisten das Projekt der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera im Hamburger Bahnhof gestört, die dort eine 100-stündige Lesung eines Textes von Hannah Arendt anberaumt hatte – als Zeichen gegen totalitäre Gewalt, aber auch als Hinweis auf die Kraft der Argumente und Worte.

Der aktivistischen Internationalen, die derzeit mit allen Mitteln auf den Krieg in Gaza aufmerksam machen möchte, von dem doch täglich Nachrichten über unerträgliche Brutalität in die Wohnzimmer gelangen, scheint dabei gleichgültig gewesen zu sein, dass Tania Bruguera ihre Aktion ausdrücklich auf diesen Konflikt bezogen wissen wollte. Zumindest hatte sie sich zuvor kritisch dazu geäußert, dass insbesondere in Deutschland diverse Kulturveranstaltungen abgesagt oder aufgeschoben worden waren. Es ging zuletzt in nervöser Rechthaberei um fehlende oder einseitige Solidarität, Verdächtigungen und den Mangel an Empathie. Zu beklagen ist seither nicht nur die Aufspaltung in einander unversöhnlich gegenüberstehende Lager. Bei weitgehendem Verzicht auf Argument und Widerspruch scheint längst auch das Gespür für ein gesellschaftliches Ganzes verloren gegangen zu sein.

Zu Hunderttausenden gehen Menschen gegen eine sich ungeniert illiberal gerierende politische Rechte auf die Straße, während öffentliche Räume, die doch dazu dienen sollten, die gesellschaftlichen Ressourcen kenntlich zu machen, zu Orten der Störung, der Gewalt und der puren Selbstbestätigung werden. Der als pathetische Mahnung in Anspruch genommene Satz „Nie wieder ist jetzt“ vermag auf fatale Weise doch nur zum Ausdruck zu bringen, dass jüdischem Leben innerhalb deutscher Institutionen kein verlässliches Sicherheitsgefühl geboten werden kann. Kulturelles Unbehagen schlägt immer öfter um in spontane und mutwillige Gewaltausbrüche.

Palästina-Demonstranten stören Hannah-Arendt-Lesung in Berlin: Veranstaltung abgebrochen

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Berlinale-Streit um Politiker-Einladungen: Wie es die AfD sogar nach Hollywood schaffte

05.02.2024

In der deutschen Geschichte nach 1945 waren es gerade die Kunsträume, in denen einem staatlichen Autoritarismus, vor dem auch Demokratien nicht gefeit sind, der Spiegel vorgehalten und mit den Möglichkeiten zur Grenzüberschreitung experimentiert wurde. Es war keineswegs nur der Positionierung am Markt geschuldet, dass sich die Berlinale im Wettbewerb mit den großen europäischen Pendants aus Cannes und Venedig explizit als politisches Filmfestival definierte. Wie hätte eine Veranstaltung in der Frontstadt Berlin denn auch etwas anderes sein können als politisch?

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Irritationen und Kontroversen gab es in Hülle und Fülle. So machte 1986 die Jury-Vorsitzende Gina Lollobrigida unmissverständlich ihrem Ärger darüber Luft, dass Reinhard Hauffs gerade durch seine dokumentarische Kälte verstörender Film „Stammheim“ als bestes Werk der Berlinale ausgezeichnet worden war. Es ging um Terrorismus, Staat und Politik, nicht zuletzt aber auch um ästhetische Leidenschaft, die Lollobrigida in diesem Fall verletzt sah.

Angesichts des desaströsen Bildes, das die scheidende Berlinale-Leitung im Umgang mit den zunächst ein- und dann wieder ausgeladenen Vertretern der in den Deutschen Bundestag und das Berliner Abgeordnetenhaus gewählten AfD abgegeben hat, ist zu befürchten, dass durch die krampfhaften Versuche, Gesicht zu zeigen und Haltung zu bewahren, der Raum für künstlerische Auseinandersetzungen beschnitten wird. Mit schlechtem Beispiel für symbolpolitische Gesten der Ratlosigkeit ist dabei schon einmal Kulturstaatsministerin Claudia Roth vorangegangen, die zunächst das Einladungsprozedere der Berlinale samt AfD-Personal aus guten Gründen verteidigte, nach Unterschriftprotesten aus der Filmwelt aber befand, dass man den Anfängen, also der AfD, doch lieber zu wehren habe. Es ist kein Ausdruck von Souveränität, gleichzeitig dafür und dagegen zu sein.

Die Verantwortlichen der Berlinale werden sich darauf einstellen müssen, dass in den kommenden Tagen Kinovorführungen ebenso angegriffen und gestört werden wie das Kunstprojekt der Tania Bruguera. Berlin ist da übrigens kein Sonderziel, auch vor dem New Yorker Brooklyn Museum und dem Museum of Modern Art hatten sich am Sonnabend kleinere Menschenmengen versammelt und Mitglieder des Kuratoriums beschuldigt, „Völkermord, Apartheid und Kolonialismus von Siedlern“ finanziert zu haben.

Den Akteuren wütender Proteste ging es noch nie um Differenzierung und eine pflegliche Anerkennung ihrer Sicht auf die Dinge. Wer sich einer Bewegung mit dem Namen Strike Germany anschließt und damit zum Ausdruck bringt, dass er den deutschen Staat und seine Institutionen für ein gelenktes Überwachungsregime hält, der ist vermutlich nicht für etwas zu gewinnen, das der amerikanische Philosoph Nelson Godman „The Ways Of Worldmaking“ genannt hat. Dabei käme es gerade jetzt auf eine Art relativistischen Pluralismus an, in dem man an seinen eigenen Prägungen festhält und zugleich offen ist für neue. Früher einmal galt das Kino als Ort, an dem solche Welten erzeugt wurden.

QOSHE - Protestwelle: Welche politischen Stürme der Berlinale jetzt drohen - Harry Nutt
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Protestwelle: Welche politischen Stürme der Berlinale jetzt drohen

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12.02.2024

Die Verstörung wirkt noch nach, aber moralische Empörung erweist sich als hilflose Reaktion. Gleich zweimal haben am vergangenen Sonnabend sogenannte propalästinensische Aktivisten das Projekt der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera im Hamburger Bahnhof gestört, die dort eine 100-stündige Lesung eines Textes von Hannah Arendt anberaumt hatte – als Zeichen gegen totalitäre Gewalt, aber auch als Hinweis auf die Kraft der Argumente und Worte.

Der aktivistischen Internationalen, die derzeit mit allen Mitteln auf den Krieg in Gaza aufmerksam machen möchte, von dem doch täglich Nachrichten über unerträgliche Brutalität in die Wohnzimmer gelangen, scheint dabei gleichgültig gewesen zu sein, dass Tania Bruguera ihre Aktion ausdrücklich auf diesen Konflikt bezogen wissen wollte. Zumindest hatte sie sich zuvor kritisch dazu geäußert, dass insbesondere in Deutschland diverse Kulturveranstaltungen abgesagt oder aufgeschoben worden waren. Es ging zuletzt in nervöser Rechthaberei um fehlende oder einseitige Solidarität, Verdächtigungen und den Mangel an Empathie. Zu beklagen ist seither nicht nur die Aufspaltung in einander unversöhnlich gegenüberstehende Lager. Bei weitgehendem Verzicht auf Argument und Widerspruch scheint längst auch das Gespür für ein gesellschaftliches Ganzes verloren gegangen zu........

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