Da reißt sich eine Malerin den Bast von der Seele. Lässt uns hineingucken in ihre innere Welt, ehe sie wieder zumacht, sich zurückzieht ins Atelier in Prenzlauer Berg und in die Werkstatt im Ruppiner Land, zu den Wiesen und Vögeln, da, wo Fontane herkam. Weit weg vom Berliner Lärm.

„Gegenrealitäten“, nennt Cornelia Schleime ihr ländliches Refugium oder auch: „Überleben durch Schönheit, um nicht an der hässlichen Wahrheit durchzudrehen.“ Sonderbare Vögel fliegen durch ihre Bilder, krallen sich in Rapunzelzöpfe und das Haar junger Frauen, auch in den schlangenartigen Leib eines Aals – geangelt aus dem Ruppiner See – den ein Mädchen mit grünem Nixenhaar herauswürgt.

Das Flügelrauschen vermeint man zu vernehmen in etlichen der 21 meist neuen Gemälde, den surrealen weiblichen Porträts in extremer Nahsicht, anmutig, verträumt, wild, dann wieder sanft poetisch. Wie die Eule, das Symbol der Weisheit, auf der Hand einer jungen Frau am Fenster, vor dem draußen ein Raubvogel kreist. Oder eine Schlange, die sich um den Kopf einer Rothaarigen windet.

Die Malerin versichert, es seien keine Selbstporträts, diese impasto auf die Leinwand gesetzten Frauen in rätselhaft beklemmenden Szenen. Und doch ist sie das – irgendwie – auch immer selbst, zerbrechlich und doch zäh, ihre Stimmung, ihre Ängste, ihre Freuden, ihre Abneigung oder Sehnsucht. In der Berliner Galerie Judin an der Potsdamer Straße sind diese Bilder gereiht. Weiter hinten prallen sie uns in Petersburger Hängung entgegen. Das ist nicht bloß eine Ausstellung, das ist, räumt Schleime ein, „ein malerischer Lebensbericht, nur ohne Handlungsstrang“.

•vor 1 Std.

•vor 1 Std.

•gestern

Die 70-jährige, mit dem Gabriele-Münter-Preis und von ihrer Heimatstadt Berlin mit dem Hannah-Höch-Preis geehrt, ist unübersehbar eine Fabuliererin mit Lust am Absurden. Zöpfe, Schleifen, anachronistische Hauben und Körperschnürungen könnten Schmuck sein oder auch Züchtigungsmittel. In etlichen Bildern rechnet sie mit der als Kind in der Familie erlebten katholischen Bigotterie ab. Ein androgyner Mädchenkopf wird von einem steifen Kragen eingeengt, ein nächster von einer Taucherbrille dominiert. Eine Reiterin springt tollkühn eine Steilküste hinab. Und im Bild „Wenn der Ostwind weht“ bläst dieser Ostwind die langen Halme einer ausgerissenen Graswurzel in die Waagerechte, sodass dieses an Dürers „Großes Rasenstück“ erinnernde Symbol für Natur gleichsam zum wehenden Haar der Frau wird.

Radikale Fantasie tobt sich aus, in Schleimes surrealen, melancholischen Menschenbildern, die in kein Kunstschema passen, weil sie Zwischenwesen sind: Mensch-Tier-Pflanze. Junge Frauen werden zu Argonautinnen, wie auf der Suche nach dem Goldenen Vlies. Diese feministische Mythologie, dieses surreale, nicht erklärbare „Um-Malen“ des Realen entsteht bei ihr, deren Lieblingsmalerin der Kunstgeschichte Paula Modersohn-Becker ist, „auf der Suche nach noch was Anderem“. Dieses „Andere“ sind die Absurditäten unserer Zeit, die Bedrängnisse, Gefahren, Gewaltakte, Krisen, Kriege, dieses Schiller’sche „... doch der Schrecklichste der Schrecken ist der Mensch in seinem Wahn ...“. Schleime nennt ihre Bilder Camouflagen, gemalt „zwischen Poesie, Aggression. Und wieder Poesie“. Das erklärt, warum diese Malerin auch schreibt: Gedichte. Und ihr erster Roman heißt „Weit fort“, von 2008.

Endlos scheint ihre Lust am Surrealen. Sie taucht ein in ihre Bildwelten aus einem ungewöhnlichen, von ihr zusammenexperimentierten Amalgam aus Acrylfarben, Asphaltlack, mit einem rätselhaften Schimmer von Schellack-Überzug, fast wie Haut. Sie male, sagt sie, indem sie sich „aus allem rauszieht“, nur im Dialog mit der Fläche, dem Vokabular der Anschauung, den Erinnerungsfetzen, Szenen, die zu Bildern werden müssen. Natürlich weiß sie, wie enigmatisch ihre Bilder wirken. Und wie doppeldeutig, etwa diese junge, ernst blickende Frau im Bild „Veronese Blau“, die einen unverwandt anblickt, und hinter ihr diese magische Leuchtfarbe des Renaissancemalers.

Die Berlinerin studierte nach der Ausbildung als Maskenbildnerin in den Siebzigern an der Dresdner Kunsthochschule. Die Bildersäle in der Semper-Galerie und im Albertinum nennt sie ihre „erste große Liebe“. Alles hat da begonnen – und sie bestärkt in ihrer rebellischen Mal-Lust und Mal-Wut gegen die Enge, die staatliche ideologische Bevormundung, und sie bestärkt beim Gesang in der Punkband „Zwitschermaschine“. Doch die engsten Künstlerfreunde verließen die DDR: A.R. Penck, Ralf Kerbach, Helge Leiberg. 1981 bekam sie Ausstellungsverbot, drei Jahre später ging auch sie in den Westen, ausgebürgert mit dem kleinen Sohn. Ihre Bilder musste sie zurücklassen, die wurden von der Staatssicherheit „entsorgt“. Aber die auf Super-8 gefilmten subversiven Aktionen – Schnürungen vor allem – retteten Freunde vor der Stasi und fanden Wege, ihr die Rollen nach Westberlin zu schmuggeln. Das „neue“ Leben in der Freiheit, erzählt sie, war dürftig. „Ich war ja ein Nobody.“

Als die Mauer fiel, erzählt sie, war die Vergangenheit wieder da. Sie las ihre Stasi-Akte, war geschockt: Einer der engsten Freunde aus der Künstler-Community Prenzlauer Berg hatte sie bespitzelt. „Aber ich war nicht bereit für die Opferrolle“, sagt sie. Und zog, als eine Art Gegengift – zurück in den Prenzlauer Berg, wurde mit Trotz und Mut zur Beobachterin und Geschichtenerzählerin, die Realität und Fantasie zu bildgewaltigen Kompositionen verschmilzt.

Unübersehbar blieb sie dabei die mal heitere, mal melancholische Romantikerin. So schreibt sie in ihrem Buch: „Man kann sich immer wieder neu definieren, auch mit leeren Taschen. Träume, Energien, Erfahrungen können nicht geraubt werden.“ Sie sieht Künstler, auch sich selbst, als „Jäger“. Auf der Jagd nach Motiven, nach Ausdruck. Ihr „Jagdrevier“ erstreckt sich weit zwischen Stadt und Land. Mit Leidenschaft schreibt (und zeichnet) sie Reisetagebücher.

Diese Ausstellungen sollte man beim 20. Gallery Weekend Berlin nicht verpassen!

•gestern

Gallery Weekend Berlin: Frühlingskunstmarkt feiert 20. Geburtstag, alle sind eingeladen

vor 1 Std.

Die Einzelgängerin Cornelia Schleime, die in keine Stilschublade passt, ist angekommen im bundesdeutschen Kunstbetrieb. Museen, Sammler begehren ihre Bilder. Und nach dieser großen Schau in ihrer Berliner Galerie Judin kommt die Arbeit am Werkverzeichnis. „Erstmals ein vollständiger Überblick auf all meine ‚Jagdgründe‘“, meint sie. Das klingt nach Vorfreude.

Cornelia Schleime: Ohne Lippen sind die Zähne kalt. Galerie Judin, Potsdamer Str. 83, vom Gallery Weekend an bis 1. Juni, Di–Sa 11–18 Uhr

QOSHE - „Wenn der Ostwind weht“: Die fantastischen Bildwelten der Berliner Malerin Cornelia Schleime - Ingeborg Ruthe
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

„Wenn der Ostwind weht“: Die fantastischen Bildwelten der Berliner Malerin Cornelia Schleime

14 19
27.04.2024

Da reißt sich eine Malerin den Bast von der Seele. Lässt uns hineingucken in ihre innere Welt, ehe sie wieder zumacht, sich zurückzieht ins Atelier in Prenzlauer Berg und in die Werkstatt im Ruppiner Land, zu den Wiesen und Vögeln, da, wo Fontane herkam. Weit weg vom Berliner Lärm.

„Gegenrealitäten“, nennt Cornelia Schleime ihr ländliches Refugium oder auch: „Überleben durch Schönheit, um nicht an der hässlichen Wahrheit durchzudrehen.“ Sonderbare Vögel fliegen durch ihre Bilder, krallen sich in Rapunzelzöpfe und das Haar junger Frauen, auch in den schlangenartigen Leib eines Aals – geangelt aus dem Ruppiner See – den ein Mädchen mit grünem Nixenhaar herauswürgt.

Das Flügelrauschen vermeint man zu vernehmen in etlichen der 21 meist neuen Gemälde, den surrealen weiblichen Porträts in extremer Nahsicht, anmutig, verträumt, wild, dann wieder sanft poetisch. Wie die Eule, das Symbol der Weisheit, auf der Hand einer jungen Frau am Fenster, vor dem draußen ein Raubvogel kreist. Oder eine Schlange, die sich um den Kopf einer Rothaarigen windet.

Die Malerin versichert, es seien keine Selbstporträts, diese impasto auf die Leinwand gesetzten Frauen in rätselhaft beklemmenden Szenen. Und doch ist sie das – irgendwie – auch immer selbst, zerbrechlich und doch zäh, ihre Stimmung, ihre Ängste, ihre Freuden, ihre Abneigung oder Sehnsucht. In der Berliner Galerie Judin an der Potsdamer Straße sind diese Bilder gereiht. Weiter hinten prallen sie uns in Petersburger Hängung entgegen. Das ist nicht bloß eine Ausstellung, das ist, räumt Schleime ein, „ein malerischer Lebensbericht, nur ohne Handlungsstrang“.

•vor 1........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play