Das Tageslicht vom Kuppeldach der nach Reparaturarbeiten wiedereröffneten Kleihues-Halle im Museum Hamburger Bahnhof streichelt die ikonischen Hinterlassenschaften des charismatischsten, auch umstrittensten Künstlers der Nachkriegsmoderne in Deutschland: Joseph Beuys (1921–1986). Um es auf einen Nenner zu bringen für im 21. Jahrhundert Geborene, die auf Graffiti und Banksy stehen, aber von Beuys keinen Begriff haben: Beuys’ utopisches Werk, aus simpelsten irdischen Materialien gemacht, war und ist politisch!

Beuys, das war der hagere, hohlwangige Typ mit Stetson-Filzhut, Fotoweste, in Jeans, Stiefeln, auch manchmal im Pelz als biologischem Wärmeaggregat, auf den alten Fotos auszumachen als Wolfsfell und Rotfuchs. Er, einst Hitlerjungen und Wehrmachtssoldat, wurde zum Erfinder der „Sozialen Plastik“, ein schamanischer Prediger der „direkten Demokratie“ und des „erweiterten Kunstbegriffs“, wonach jeder Mensch ein Künstler ist, was seither freilich zu veritablen Missverständnissen und auch zu einer fatalen Überstrapazierung der beuys'schen Utopie führte.

Beuys, das sind 7000 1982 in der Documenta-Stadt Kassel gepflanzte Eichen, das sind 1980 mit weißer Kreide geschriebene Gewinner- und Verlierer-Gleichungen à la Karl Marx’ „Kapital Raum“ auf riesigen Schiefertafeln. Beuys, das sind Filzrollen und Filzanzüge, Fettecken, Honigpumpen, kupferne Energiestäbe, angebohrte Basaltsteine, die das „Ende des 20. Jahrhunderts“ und einer Epoche von Glanz und Elend, Nazismus, zweier verheerender Weltkriege und atomarer Hochrüstung im Kalten Krieg besiegeln. Beuys, das ist das verrostete Eisen einer anachronistischen Straßenbahn-Haltestelle, das sind auf Monitoren laufende grobkörnige Aktionsfilme in Schwarz-Weiß, die erzählen, wie er tagelang mit einem Kojoten im Galerieraum lebte und einem toten Hasen Bilder erklärte.

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09.04.2024

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vor 7 Std.

Ein großer Beuys-Mäzen namens Erich Marx (1921–2020) hatte die Schlüsselwerke des „Schamanen vom Niederrhein“, wie Beuys oft genannt und auch belächelt wurde, schon 1996 dem als Berliner Museum der Gegenwart eröffneten Hamburger Bahnhof als Dauerleihgabe überlassen. Zwei Jahre nach dem Tod des Sammlers erfüllte die Familie Marx seinen letzten Willen. Der Beuys-Bestand wurde der Nationalgalerie und damit Berlin geschenkt, als unschätzbares Konvolut einer Kunst des späten 20. Jahrhunderts, die den gesellschaftlichen Mittelpunkt gesucht hat, mit der Joseph Beuys Materialität, Sprache, Grenzen und Aufgaben der Kunst nachhaltig, bisweilen insistierend befragte, in die er seine privaten Mythen und ebenso das Publikum – bis zur Verstörung desselben – einbezog.

Das alles ist nun als „multimediale Studien-Insel“, wie die Kuratorin Catherine Nichols das Aufgebot nennt, zu erleben, als Kunst, die einst durch ihren spirituell beseelten, missionarischen, doch trotz aller Jünger immer einzelkämpferischen Protagonisten den konventionellen Kunstraum verließ – und nun museal gefasst begriffen werden will. Es ist eben immer wieder eine Herausforderung für Ausstellungsmacher, sich dieser ambivalenten Beuys-Rezeption, die irgendwie einer Märchenerzählung gleicht, ohne den legendären leibhaftigen Aktionisten zu stellen. Was würde er für eine Kunst zur krisengeschüttelten Welt von heute machen?

Und so war es eine schöne und ausgesprochen originelle Idee, die rechte Hälfte der lichten Kleihues-Halle der jungen Israelin Naama Tsabar zu überlassen. Die in New York lebende Klangkünstlerin und Performerin stellt das erste Mal in Deutschland aus. Was zu sehen, zu hören ist, nennt sie „Estuaries“ – „Flussmündungen“. Das klingt poetisch und ist es auch, selbst wenn die Töne aus rätselhaften, wie Saiteninstrumente gekennzeichneten Wandöffnungen (das Publikum ist aufgefordert hineinzugreifen und selber Klänge zu erzeugen) mal harmonisch, mal disharmonisch sind.

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Man hört tiefe, dunkle Bässe, hohe, schrille Töne, klagende Gesangsmodulationen wie in einer Morricone-Filmmusik, das Scheppern und die Schläge einer musikalischen Trümmerlandschaft wie bei einem Heavy-Metal-Konzert. Naama Tsabar verwandelt ihre fragmentarische Kunst aus disparaten Klängen und auf einer weißen Bodenplatte zerstückelten, aber auf heilen Saiten noch immer spielbaren Gitarren und Klaviertastaturen der Filz-Affinität des Joseph Beuys an. Und sie verweist auf dessen schwarzen Flügel links in der Halle vor den großen Schiefertafeln des „Kapital Raums“.

An den Hallenwänden hat Tsabar ausladende, in den Raum gebogene, klangschluckende, teils mit Kohlefasern behandelte Filzmatten befestigt, eine Art monumentales Tonstudio – oder ein Konzertsaal. Sie und ihre Kuratorin Ingrid Buschmann bringen uns die Rauminstallation als „Soziale Skulptur“ im Sinne von Beuys nahe. Als Einbeziehung des Publikums in den Resonanzraum und als musische Performance.

Hamburger Bahnhof, Nationalgalerie für Gegenwart, Kleihues-Halle, Invalidenstraße 50/51, Dauerschau ab 12. April, „Estuaries“ bis 22. September, Di/Mi/Fr 10–18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Sa+So 11–18 Uhr. Klangperformances mit Musikerinnen und Musikern aus Berlin am 12. und 13. April, 19 und 20 Uhr.

QOSHE - Museum Hamburger Bahnhof: Mit Beuys’ Basaltbrocken an einer Flussmündung aus Filz und Klang - Ingeborg Ruthe
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Museum Hamburger Bahnhof: Mit Beuys’ Basaltbrocken an einer Flussmündung aus Filz und Klang

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11.04.2024

Das Tageslicht vom Kuppeldach der nach Reparaturarbeiten wiedereröffneten Kleihues-Halle im Museum Hamburger Bahnhof streichelt die ikonischen Hinterlassenschaften des charismatischsten, auch umstrittensten Künstlers der Nachkriegsmoderne in Deutschland: Joseph Beuys (1921–1986). Um es auf einen Nenner zu bringen für im 21. Jahrhundert Geborene, die auf Graffiti und Banksy stehen, aber von Beuys keinen Begriff haben: Beuys’ utopisches Werk, aus simpelsten irdischen Materialien gemacht, war und ist politisch!

Beuys, das war der hagere, hohlwangige Typ mit Stetson-Filzhut, Fotoweste, in Jeans, Stiefeln, auch manchmal im Pelz als biologischem Wärmeaggregat, auf den alten Fotos auszumachen als Wolfsfell und Rotfuchs. Er, einst Hitlerjungen und Wehrmachtssoldat, wurde zum Erfinder der „Sozialen Plastik“, ein schamanischer Prediger der „direkten Demokratie“ und des „erweiterten Kunstbegriffs“, wonach jeder Mensch ein Künstler ist, was seither freilich zu veritablen Missverständnissen und auch zu einer fatalen Überstrapazierung der beuys'schen Utopie führte.

Beuys, das sind 7000 1982 in der Documenta-Stadt Kassel gepflanzte Eichen, das sind 1980 mit weißer Kreide geschriebene Gewinner- und Verlierer-Gleichungen à la Karl Marx’ „Kapital Raum“ auf riesigen Schiefertafeln. Beuys,........

© Berliner Zeitung


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