Zum Weinen gibt es viele Gründe, warum nicht diesen: „Weil alles is’, wie es is’“. So erklären manche „Fräuleins“ in dem Wiener Theatercafé mit Tischtelefon ihre plötzlichen Tränen, wenn sie Kummer haben, da die „Kleinbürger und Bauern aus der Provinz“ in diesem Lokal „nach geschäftlichen Erledigungen in der Hauptstadt auch gleich ihre sexuelle Not beschwichtigen wollen“. Darüber zu lesen war in dem ersten Roman von André Heller, „Schattentaucher“. Der war nach seinem Erscheinen 1987 lange vergriffen und ist jetzt zum Glück wieder aufgelegt worden.

Schon damals sprach man nicht mehr ernstlich von „Fräuleins“, Tischtelefone waren kaum noch in Betrieb, aber Hellers „61 Beschreibungen aus dem Leben des Ferdinand Alt“, so der Untertitel, akzeptieren Kategorien wie Raum und Zeit höchstens als amüsante, belanglose Hürden, über die munter gesprungen wird, als wäre man ewig ein Kind.

Ferdinand Alt ist Klavierstimmer und Komponist, er hat von Berufs wegen ein offenes Ohr für Geräusche aller Art und von der Seele her eine außerordentliche Sensibilität für die Grauzonen des Alltags und die Herzklappen der Weltgeschichte. Hinter dem Banalen entdeckt er das Unerwartete und Ungeheuerliche und weiß davon so anmutig und klug zu erzählen, dass die Realität als Wunderkammer der unbeschränkten Überraschungen erscheint. Die ist am schönsten mit Geduld und Liebe, visionärem Zuckerbrot und mentaler Peitsche zu erschließen. Dieser „begnadete Flaneur“, in dem natürlich bei Bedarf Heller selbst zu erkennen ist – was nicht zwingend nötig ist, zu gut und autonom sind die Episoden –, hat mit elf Jahren ein Tagebuch begonnen, dem die Großmutter den Titel „Vom Hundertsten ins Tausendste“ gab.

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Diesem Motto ist Ferdinand Alt, inzwischen 36 Jahre, treu geblieben. Er sitzt im Kaffeehaus und beobachtet die Menschen mit ihren Alltagsmarotten oder steigt in die Kanalisation hinunter und freut sich am Ballett der Ratten. Manchmal komponiert er, oft schaut er ins Narrenkastl – „das heißt, er war an der Grenze zwischen wirklicher und unwirklicher Welt und wartete auf die Zollabfertigung seiner Gedanken“. Oder er döst vor sich hin und behandelt seine Träume derart hochachtungsvoll wie Staatsbesuche. Seine Beziehungen zu anderen Menschen sind oft innig, doch nie frei von Reserviertheit. Auch in seinen Liaisons mit Frauen schätzt er die zärtliche Distanz, „denn im Fremdsein lag das Wesen einer Erotik, die ihn vorrangig interessierte“.

Indem Alt durch die Stadt wandert, entfaltet er zum einen die Topografie von Wien in ihrer historischen Vielfalt und zum anderen die Komplexität seiner Biografie. Für die Käuze und Grazien, denen er begegnet, und für die Mysterien, die ihm zufliegen, findet André Heller zauberische Worte und kleidet sie in hinreißende Satzkaskaden. So attestiert er der Hauptfigur in einem Stegreiftheater, dass sie in ihren „besten Minuten eine Mischung aus Kugelblitz, Dialektdadaist und Originaltrottel erster Klasse“ sei. Die Frau eines aufdringlichen Ehepaars nennt er „eine Art seelischer Mitesser“, ihr nicht weniger unangenehmer Mann hat es zu „titelgekrönter Bedeutungslosigkeit“ gebracht.

Ob Hofreitschule, Kapuzinergruft oder Stephansdom, Wien wird in „Schattentaucher“ zu einem grandiosen Bühnenbild für die Tragikomödien des Ferdinand Alt, voller Fantastereien und herzzerreißender Schabernackiaden. Poetisch und geistreich, empathisch und magisch lässt André Heller mit seinen filigranen Sprachkunstwerken keinen Wunsch offen, außer einem: Dass diese Geschichten nie aufhören mögen.

André Heller: Schattentaucher. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2024, 176 Seiten, 24 Euro

QOSHE - Als wäre man ewig Kind: André Hellers erster Roman „Schattentaucher“ ist wieder da - Irene Bazinger
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Als wäre man ewig Kind: André Hellers erster Roman „Schattentaucher“ ist wieder da

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30.03.2024

Zum Weinen gibt es viele Gründe, warum nicht diesen: „Weil alles is’, wie es is’“. So erklären manche „Fräuleins“ in dem Wiener Theatercafé mit Tischtelefon ihre plötzlichen Tränen, wenn sie Kummer haben, da die „Kleinbürger und Bauern aus der Provinz“ in diesem Lokal „nach geschäftlichen Erledigungen in der Hauptstadt auch gleich ihre sexuelle Not beschwichtigen wollen“. Darüber zu lesen war in dem ersten Roman von André Heller, „Schattentaucher“. Der war nach seinem Erscheinen 1987 lange vergriffen und ist jetzt zum Glück wieder aufgelegt worden.

Schon damals sprach man nicht mehr ernstlich von „Fräuleins“, Tischtelefone waren kaum noch in Betrieb, aber Hellers „61 Beschreibungen aus dem Leben des Ferdinand Alt“, so der Untertitel, akzeptieren Kategorien wie Raum und Zeit höchstens als amüsante, belanglose Hürden, über die munter gesprungen wird, als wäre man ewig ein Kind.

Ferdinand Alt ist Klavierstimmer und Komponist, er hat von Berufs wegen........

© Berliner Zeitung


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