Während dieser Tage in Genf über ein Pandemieabkommen und Reformen der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) verhandelt wird, fließen bereits heute Milliarden in das neue Arbeitsfeld der „Pandemieprävention, -vorsorge und -bekämpfung“ (englisch: pandemic prevention, preparedness and response, PPPR). In einem anderen Artikel habe ich dargelegt, wie unbestimmt der Begriff „Pandemie“ ist. So kann jeder dieses Schlagwort so nutzen, wie es in die eigene Argumentation passt.

Mal werden Pandemien als Schreckgespenster herangezogen, etwa wenn das Weltwirtschaftsforum von einer „Krankheit X“ fantasiert, die zwanzigmal tödlicher sein könnte als Corona. Mal werden alle möglichen nichtpandemischen Krankheitsausbrüche aufgezählt (etwa die Affenpocken mit 170 Toten weltweit), um eine vermeintlich zunehmende Gesundheitsbedrohung nachzuweisen.

In der G20-Abschlusserklärung von 2020 heißt es etwa: „Die Covid-19-Pandemie ist noch nicht vorbei, und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat kürzlich die Affenpocken als eine weitere gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite (PHEIC) eingestuft und damit verdeutlicht, dass internationale Gefahren für die Gesundheit allgegenwärtig sind und dass die G20 und die weitere internationale Gemeinschaft gemeinsam unsere Fähigkeiten der Pandemieprävention, -vorsorge und -bekämpfung verbessern müssen.“

Die WHO und ihre Geldgeber wollen das Momentum nutzen, um im Windschatten der Coronapandemie erhebliche Summen zu investieren und rechtsverbindliche Strukturen zu schaffen, die die Welt für künftige Pandemien rüsten sollen. Ein von den G20 beauftragter Bericht mit dem Titel: „A Global Deal for Our Pandemic Age“ behauptet, die vorgeschlagenen Investitionen seien geeignet, Ereignisse zu verhindern, die das Siebenhundertfache des eingesetzten Geldes kosten würden. So ist es nicht verwunderlich, dass die G20-Regierungschefs diese Neuausrichtung der internationalen Gesundheitspolitik vollumfänglich unterstützen. Wo sonst bekommt man solch einen return on investment?

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Die Rechnung beruht jedoch auf den geschätzten Kosten der Coronapandemie. Dabei ist offensichtlich, dass nur ein kleiner Teil dieser Kosten auf die durch das Virus verursachten zusätzlichen Belastungen des Gesundheitssystems zurückzuführen sind. Man erinnere nur daran, dass etwa der deutsche Staat 17,6 Milliarden für die „Bürgertests“ ausgegeben hat, also Tests ganz überwiegend gesunder Menschen, davon über eine Milliarde für Tests, die nicht einmal stattgefunden haben. Viele Regierungsausgaben während der Coronajahre waren nicht die unvermeidliche Folge einer Naturkatastrophe, sondern kostspieliger Aktionismus.

Auch aus einem anderen Grund ist Corona nur eingeschränkt geeignet, als Beispiel für die natürliche Gefahr durch Pandemien herzuhalten. Viele vorgeschlagenen Investitionen zielen auf die Verhinderung von Zoonosen, also vom Tier auf den Menschen überspringenden Krankheiten. Jedoch spricht einiges dafür, dass SARS-CoV-2 nicht in einer Fledermaus oder einem Gürteltier ausgebrütet wurde, sondern in einem Biolabor. Wenn nun die Erforschung potenzieller pandemischer Erreger gefördert wird, würde das eine neue Pandemie also unter Umständen sogar wahrscheinlicher machen.

Die Ausrufung eines globalen Gesundheitsnotstands beseitigt keine Weltkrisen

27.10.2023

An der Universität Leeds in England überprüft ein Forscherteam unter Leitung des Politikwissenschaftlers Garrett Brown und des Mediziners David Bell gegenwärtig die Faktengrundlage der beschriebenen aktuellen Agenda zur „Pandemieprävention, -vorsorge und -bekämpfung“. Ich promoviere seit Beginn des Jahres im genannten Forschungsprojekt. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht durchsuchten wir alle relevanten Veröffentlichungen von WHO, Weltbank und G20 nach Aussagen zur Häufigkeit und Schwere von Pandemien und analysierten deren Begründungen.

Die Institutionen verweisen an vielen Stellen auf eine Häufung von Krankheitsausbrüchen in den letzten Jahren. Exemplarisch heißt es etwa im Weltbankbericht „Putting Pandemics Behind Us“: „Vor Covid-19 gehörten HIV/Aids, Nipah, aviäre Influenza, Ebola, Sars, Mers und Zika zu den Krankheiten, die in den letzten Jahrzehnten aus Tieren im Kontakt mit Menschen hervorgegangen sind, und einige dieser Krankheiten haben ihr pandemisches Potenzial voll entfaltet“ (alle Übersetzungen vom Autor). Bis auf HIV hatte jedoch keine dieser Krankheiten einen merklichen Einfluss auf die globale Krankheitslast. Der größte Ebolaausbruch forderte etwa so viele Tote, wie an Tuberkulose weltweit an drei gewöhnlichen Tagen sterben.

Wissenschaftliche Arbeiten wurden in den Veröffentlichungen von WHO, Weltbank und G20 selektiv und teilweise sinnverzerrend zitiert. Der oben bereits zitierte Weltbankbericht bezieht sich etwa auf eine Studie, die die Häufigkeit und Schwere von Epidemien in den letzten 400 Jahren analysierte, und behauptete auf dieser Grundlage, die Wahrscheinlichkeit schwerer Krankheitsausbrüche könnte sich in den nächsten Jahrzehnten verdreifachen.

Tatsächlich zeigt die zitierte Arbeit jedoch, dass sich die Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg deutlich reduziert hat. Sie prognostiziert keineswegs eine Verdreifachung schwerer Epidemien, sondern stellt bloß fest, dass eine angenommene Verdreifachung aller Epidemien auch zu einer ungefähren Verdreifachung schwerer Epidemien führen würde.

Auf eine andere im selben Bericht zitierte Studie nimmt die Weltbank dahingehend Bezug, dass diese zeige, dass die Geschwindigkeit des Auftretens neuer Krankheiten seit 1980 gestiegen sei, ohne jedoch darauf hinzuweisen, dass dieselbe Studie auch einen Rückgang im letzten Jahrzehnt beschreibt.

Der G20-Bericht „A Global Deal for Our Pandemic Age“ verweist auf eine Analyse der Firma Metabiota, welche eine „eindeutige exponentielle Zunahme“ zoonotischer Epidemien und dadurch verursachter Todesfälle in den letzten 25 Jahren beschreibt. Die Forscher in Leeds zeigen jedoch, dass der exponentielle Trend alleine durch die beiden Ebola-Ausbrüche 2014 und 2018 erklärt wird. Zudem ist zu beachten, dass die Weltbevölkerung im analysierten Zeitraum gewachsen ist und dass selbst ein tatsächlicher Anstieg der Todeszahlen das Pro-Kopf-Risiko nicht unbedingt erhöht hätte.

Corona: Neue Dokumente verstärken Verdacht auf Laborursprung

23.01.2024

Tödliche Labor-Viren: Lasst uns endlich kritisch über Forschung sprechen!

13.06.2022

WHO, Weltbank und G20 nennen eine Vielzahl von Entwicklungen, die die vermeintlich steigende Pandemiegefahr erklären sollen. Vor allem wird das gestiegene Risiko von Zoonosen durch das Vordringen von Menschen in natürliche Habitate genannt. So könnten etwa bei der Rodung eines Urwalds Menschen das erste Mal in Kontakt mit bisher unbekannten Viren kommen, die dort bei einer seltenen Fledermausart endemisch sind. Das ist plausibel.

Auf lange Sicht sinkt jedoch die Gefahr, denn das größte Zoonoserisiko besteht in Gebieten mit hoher Biodiversität. Sinkt durch den menschlichen Eingriff die Biodiversität, sinkt auch das Zoonoserisiko. So sind beispielsweise Ölpalmplantagen in der Regel frei von seltenen Arten, was ökologisch bedauerlich ist, aber auch ein geringes Zoonoserisiko birgt.

Selbst wenn die Rodung von Regenwäldern die Gefahr erhöht, ist das Argument, Landnutzungsänderungen seien für eine steigende Pandemiegefahr verantwortlich, kaum haltbar. Denn es wird heute deutlich weniger Wald gerodet als vor 20 bis 30 Jahren, somit sinkt das Gesamtrisiko.

Der wohl stichhaltigste aufgeführte Grund für den Befund eines gestiegenen Risikos für Pandemien ist die gestiegene Mobilität. Dadurch entstehen zwar keine neuen Krankheiten, aber sie verbreiten sich schneller. Andererseits erlaubt die globale Vernetzung aber auch, Informationen über neue Krankheiten und Therapien weltweit auszutauschen.

Der naheliegendste Grund für eine in manchen Studien zumindest während des 20. Jahrhunderts zu beobachtende Zunahme neuer Krankheitsausbrüche wird in den analysierten Dokumenten durchweg ignoriert: Möglicherweise waren einige der „neuen“ Krankheiten gar nicht so neu, sondern nur neu festgestellt worden. Während beinahe der gesamten Menschheitsgeschichte ließen sich Krankheiten nur anhand ihrer Symptome feststellen. Häuften sich charakteristische Krankheitssymptome und Sterbefälle in einer Population, sprach man von einer Seuche.

Dass dafür Mikroorganismen verantwortlich sind, weiß man erst seit dem 19. Jahrhundert. Erst damals wurden Mikroskope entwickelt, unter denen man Bakterien beobachten kann. Die viel kleineren Viren sind erst seit der Erfindung des Elektronenmikroskops in den 1930er-Jahren sichtbar. Gerade in den letzten Jahrzehnten haben sich die Diagnosemöglichkeiten durch PCR-Tests, Antigentests und Gensequenzierung revolutioniert. Viele der in den letzten Jahren neu festgestellten Krankheiten wären vor wenigen Jahrzehnten unbemerkt geblieben.

Die meisten Erreger wurden in den USA und in Großbritannien aufgespürt, also in Ländern mit herausragenden biomedizinischen Forschungseinrichtungen. In der Logik der Agenda der „Pandemieprävention, -vorsorge und -bekämpfung“ ist das ein Signal, Laborkapazitäten in ärmeren Ländern zu fördern, um sicherzustellen, dass neue Mutationen dort nicht übersehen werden. Das mag lukrativ sein, droht aber Finanzmittel zu binden, die sinnvoller eingesetzt werden könnten. Nicht aufgrund neuartiger Zoonosen, sondern durch Armut, Mangelernährung und fehlende medizinische Grundversorgung ist die Kindersterblichkeit vielerorts zwanzigmal so hoch wie in Deutschland.

Auch bei der Pandemiebekämpfung sind sozio-ökonomische Faktoren relevant. Eine wissenschaftliche Untersuchung, die im Februar 2024 in der Zeitschrift Economic Affairs erschien, ergab: Die nordischen Staaten haben die Pandemie mit vergleichsweise moderaten Maßnahmen und sehr geringer Übersterblichkeit durchgestanden. Eine andere Studie, die im November 2023 in der Fachzeitschrift der amerikanischen Nationalen Akademie der Wissenschaften (PNAS) veröffentlicht wurde, zeigt, dass Länder mit geringem Einkommen, hoher Armut und hoher sozialer Ungleichheit eine höhere Übersterblichkeit verzeichneten.

Pandemieprävention und -vorsorge sollte sich also nicht auf das Aufspüren neuer Krankheitserreger und die Entwicklung von Impfstoffen beschränken. Gesellschaften mit sozialstaatlicher Absicherung, wenig Armut und geringer sozialer Ungleichheit sowie mit guter ärztlicher und pflegerischer Versorgung sind auch resilienter gegenüber (neuartigen) Krankheiten.

Jean Merlin von Agris ist Doktorand an der Universität Leeds und forscht im Projekt „Re-Evaluating the Pandemic Preparedness And REsponse Agenda“ (REPPARE) zur internationalen Pandemiepolitik.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.

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Pandemievertrag: Übertreiben WHO, Weltbank und G20 die Pandemiegefahr?

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27.04.2024

Während dieser Tage in Genf über ein Pandemieabkommen und Reformen der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) verhandelt wird, fließen bereits heute Milliarden in das neue Arbeitsfeld der „Pandemieprävention, -vorsorge und -bekämpfung“ (englisch: pandemic prevention, preparedness and response, PPPR). In einem anderen Artikel habe ich dargelegt, wie unbestimmt der Begriff „Pandemie“ ist. So kann jeder dieses Schlagwort so nutzen, wie es in die eigene Argumentation passt.

Mal werden Pandemien als Schreckgespenster herangezogen, etwa wenn das Weltwirtschaftsforum von einer „Krankheit X“ fantasiert, die zwanzigmal tödlicher sein könnte als Corona. Mal werden alle möglichen nichtpandemischen Krankheitsausbrüche aufgezählt (etwa die Affenpocken mit 170 Toten weltweit), um eine vermeintlich zunehmende Gesundheitsbedrohung nachzuweisen.

In der G20-Abschlusserklärung von 2020 heißt es etwa: „Die Covid-19-Pandemie ist noch nicht vorbei, und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat kürzlich die Affenpocken als eine weitere gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite (PHEIC) eingestuft und damit verdeutlicht, dass internationale Gefahren für die Gesundheit allgegenwärtig sind und dass die G20 und die weitere internationale Gemeinschaft gemeinsam unsere Fähigkeiten der Pandemieprävention, -vorsorge und -bekämpfung verbessern müssen.“

Die WHO und ihre Geldgeber wollen das Momentum nutzen, um im Windschatten der Coronapandemie erhebliche Summen zu investieren und rechtsverbindliche Strukturen zu schaffen, die die Welt für künftige Pandemien rüsten sollen. Ein von den G20 beauftragter Bericht mit dem Titel: „A Global Deal for Our Pandemic Age“ behauptet, die vorgeschlagenen Investitionen seien geeignet, Ereignisse zu verhindern, die das Siebenhundertfache des eingesetzten Geldes kosten würden. So ist es nicht verwunderlich, dass die G20-Regierungschefs diese Neuausrichtung der internationalen Gesundheitspolitik vollumfänglich unterstützen. Wo sonst bekommt man solch einen return on investment?

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Die Rechnung beruht jedoch auf den geschätzten Kosten der Coronapandemie. Dabei ist offensichtlich, dass nur ein kleiner Teil dieser Kosten auf die durch das Virus verursachten zusätzlichen Belastungen des Gesundheitssystems zurückzuführen sind. Man erinnere nur daran, dass etwa der deutsche Staat 17,6 Milliarden für die „Bürgertests“ ausgegeben hat, also Tests ganz überwiegend gesunder Menschen, davon über eine Milliarde für Tests, die nicht einmal stattgefunden haben. Viele Regierungsausgaben während der Coronajahre waren nicht die unvermeidliche Folge einer Naturkatastrophe, sondern kostspieliger Aktionismus.

Auch aus einem anderen Grund ist........

© Berliner Zeitung


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