Endlich mal wieder ein Tag, an dem ich ein schlechter Mensch sein darf. Die Lokführer streiken, viele Räder stehen still und damit auch die Bahnen. Also muss ich Auto fahren. Ich muss ins Land Brandenburg, dienstlich und dringend: 41 Kilometer, zu Fuß wären es acht Stunden, und der Arbeitstag wäre schon mit dem Hinweg dahin. Mit dem Fahrrad sind es mehr als zwei Stunden, aber es stürmt.

Im Auto ist es schön warm. Ich bin allein und kann machen, was ich will: laut Musik hören, laut telefonieren, laut pupen. Endlich mal wieder ohne schlechtes Gewissen die Vorzüge des komplett individualisierten Verkehrs genießen. Nicht drängeln in überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln, nicht die Telefonate von wildfremden Leuten hören müssen oder die Gerüche von überparfümierten Frauen oder ungewaschenen Männern riechen müssen.

Die App verspricht eine entspannte Fahrt von einer Stunde und drei Minuten. Es werden fast 1,5 Stunden, obwohl gar kein Stau war, aber die Straßen sind voll. Auf dem Rückweg will ich auf keinen Fall wieder quer durch Berlin, weil das Handy überall knallrot vermeldet: Achtung, Stau!

Also fahre ich Autobahn. Leider funktioniert irgendetwas an der Musikanlage nicht. Ich muss meine Lieblingsmusik über Kopfhörer hören wie im Zug. Wie langweilig. Überhaupt ist diese Fahrt auf der Autobahn fast wie Zugfahren: Berufsverkehr, wir bilden eine lange Schlange, Stoßstange an Stoßstange bei Tempo 100. Wir sind wie Einzelabteile eines endlosen Zuges, der auf dem Berliner Ring einmal um die Hauptstadt fährt.

24.01.2024

•vor 3 Std.

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•gestern

gestern

Das Handy zeigt nun 1,5 Stunden. Ich will in Schönefeld in Richtung Berlin, ich blinke früh, ich will nach rechts, doch alle Spuren sind voll. Ganz außen eine dichte Wand an Brummis, kein Durchkommen. Hier regieren die Großen und Starken, da wird mein kleines Auto einfach übersehen.

Abfahrt ahoi, ich rase dran vorbei, fahre weiter, einmal halb um den Berliner Ring herum, ein endloses Meer von roten Lampen.

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24.01.2024

Es nervt. Die einzige Rettung: meine Lieblingsmusik. Aber ich kann ja nicht mal die Anlage laut aufdrehen, weil ich unter Kopfhörern hören muss. Da habe ich nicht mal Lust, laut mitzusingen. So komme ich schnell ins Meckern.

Nach etwas mehr als zwei Stunden bin ich in unserer Straße. Das ist exakt die Zeit, die ich mit dem Fahrrad gebraucht hätte. Und jetzt muss ich noch einen Parkplatz finden. Mist.

Es wird Zeit, dass ich endlich mal wieder ein guter Mensch sein kann und Zug fahre. Da ist alles so entspannt: einfach nur rumsitzen, Augen schließen, dösen oder zur Not die Musik aufdrehen, wenn mal wieder jemand zu laut telefoniert. Oder ich höre einfach zu und errate die Worte der Gegenseite.

QOSHE - Wenn die Bahn streikt, können wir mal wieder Auto fahren ohne schlechtes Gewissen - Jens Blankennagel
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Wenn die Bahn streikt, können wir mal wieder Auto fahren ohne schlechtes Gewissen

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26.01.2024

Endlich mal wieder ein Tag, an dem ich ein schlechter Mensch sein darf. Die Lokführer streiken, viele Räder stehen still und damit auch die Bahnen. Also muss ich Auto fahren. Ich muss ins Land Brandenburg, dienstlich und dringend: 41 Kilometer, zu Fuß wären es acht Stunden, und der Arbeitstag wäre schon mit dem Hinweg dahin. Mit dem Fahrrad sind es mehr als zwei Stunden, aber es stürmt.

Im Auto ist es schön warm. Ich bin allein und kann machen, was ich will: laut Musik hören, laut telefonieren, laut pupen. Endlich mal wieder ohne schlechtes Gewissen die Vorzüge des komplett individualisierten Verkehrs genießen. Nicht drängeln in überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln, nicht die Telefonate von........

© Berliner Zeitung


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