Prenzlauer Berg, Rewe-Markt Schönhauser Allee, Ecke Milastraße: Vor den Gemüseauslagen steht ein Mann von Anfang 50. Er trägt einen Bart, eine Brille mit transparentem Gestell und einen Parka mit Pelzbesatz an der Kapuze. In der Hand hält er eine Packung Rispentomaten. Er begutachtet sie, legt sie wieder zurück, nimmt eine andere, betrachtet sie ebenfalls genau und lässt die Packung wie selbstverständlich in seiner Umhängetasche verschwinden.

Der Mann hat sich zuvor nicht einmal umgeschaut, um sicher zu sein, dass er nicht beobachtet wird. Auch die Kunden unmittelbar neben ihm stören ihn nicht. Er geht ohne Eile weiter, durchstreift den gesamten Markt, nimmt hier und da noch etwas aus den Regalen und stopft es ebenfalls in seine Tasche. Wenig später ist zu sehen, wie der Mann mit schwerer Tasche an den Kassen vorbei zum Ausgang geht und sich dort sogar noch verabschiedet. Dann ist er weg.

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21.01.2024

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Für Marktleiter Philipp Schultz gehören Leute wie der Tomaten-Mann zu seinen liebsten Kunden. Denn was wie ein ziemlich abgebrühter Ladendiebstahl aussah, ist in dem Supermarkt in der Schönhauser Allee tatsächlich gang und gäbe. Nichts wird geklaut, alles bezahlt. Der 33-Jährige ist Chef von Berlins modernstem Supermarkt.

Wer dort ohne Korb oder Wagen einkaufen und alles gleich in der eigenen Tasche verstauen will, klinkt sich am Eingang des Markts kurz per App in das hauseigene System ein. Was dann während des Besuchs ausgewählt wird, registrieren Kameras über den Gängen. Insgesamt 400 sind installiert. Sie überwachen 380 Quadratmeter Verkaufsfläche. Zudem sind die Regale mit Gewichtssensoren bestückt. Nimmt ein Kunde Ware aus einem Regal, erkennen das die Kameras. Die eingebauten Waagen liefern die Information über die entnommene Menge. Am Ende des Einkaufs verlässt der Kunde einfach das Geschäft. Die Rechnung liefert Rewe auf das Handy und bucht den Betrag vom Konto des Einkäufers ab.

Seit November 2022 gibt es den Markt in dieser Form. Über mehrere Monate wurde die ehemalige Kaisers-Filiale aufwändig umgebaut. Eine Investitionssumme für die Transformation in die neue Einkaufswelt nennt Rewe nicht. Allerdings blieb ein bisschen von der alten erhalten. Neben den Kameras und Sensoren gibt es auch eine herkömmliche Kasse mit einer Kassiererin und dazu drei Selbstscanner-Terminals. Im Schnitt besuchen täglich etwa 2000 Kunden den Markt.

Wie viele von ihnen das sogenannte Pick-&-Go-System nutzen, will man bei Rewe nicht sagen, obwohl die Daten natürlich tagesgenau vorliegen. „Betriebsgeheimnis“, heißt es. „Die meisten zahlen schon noch an den Kassen“, sagt Marktleiter Schultz. Immerhin. Genauer will er nicht werden. Aber die Registrierungen für den kassenlosen Einkauf nähmen zu. Laut Schultz sind das nicht nur junge Leute, sondern auch viele ältere und vor allem Stammkunden aus dem Kiez. Für den Marktleiter ist das keine Überraschung, weil die Vorteile unübersehbar seien. „Wenn hier Hochbetrieb herrscht und es sich an den Kassen staut, kann man locker 15 Minuten sparen“, sagt er.

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Und hat es für den Markt auch mehr gebracht? Schultz sagt, dass die Umsätze im vergangenen Jahr im gesamten Lebensmitteleinzelhandel mit explosionsartig gestiegenen Preisen zugelegt hätten. Das sei kein Geheimnis, der Umsatzanteil der Pick-&-Go-Käufer aber schon. Dann lässt er jedoch wissen, dass die registrierten Kunden pro Einkauf im Schnitt etwa drei Euro mehr ausgeben als die Kassenkunden. Der Filialleiter vermutet, dass der Kassenkunde beim Einkauf vielleicht unbewusst von dem Gedanken gebremst wird, dass er die Waren ja alle noch einmal auf das Kassenband legen und dann wieder einpacken müsse. „Der Pick-&-Go-Kunde kauft einfach unbeschwerter ein“, sagt Schultz.

Zugleich drängt sich jedoch die Frage auf, ob nicht auch die Verluste gestiegen sind. Denn wo hinter prall gefüllten Taschen, mit denen jemand an der Kasse vorbei den Laden verlässt, nicht mehr gleich eine Straftat vermutet wird, scheinen die Bedingungen für einen echten Ladendiebstahl nahezu ideal zu sein. Aber der Marktchef winkt ab. Die Inventur sei unauffällig, eine gestiegene Diebstahlrate nicht festzustellen. In dem Markt, den er vorher geleitet hatte, sei jedenfalls mehr geklaut worden.

Damit stimmt er auch mit der übergroßen Mehrheit seiner Kollegen überein. Denn als das Kölner Einzelhandelsinstitut EHI Marktbetreiber in Deutschland fragte, ob etwa Selbstscannerkassen die Verluste durch Diebstahl nach oben getrieben hätten, hatten das fast neun von zehn Geschäftsführern verneint. Derweil macht man im Selbstscannerkassen-Mutterland USA offenbar ganz andere Erfahrungen. Dort ließen die unbemannten Kassenzonen in Supermärkten die Diebstahlraten deutlich steigen, weshalb die neuen Systeme inzwischen wieder abgebaut und Leute eingestellt werden.

Am Personalbestand des Supermarkts an der Schönhauser Allee hat die neue Technik nichts geändert. Dort hatten vor dem Umbau 23 Menschen Arbeit. Auch nach der Teilautomatisierung war das so. Inzwischen gab es Zuwachs. „Wir haben sogar noch jemanden eingestellt“, sagt der Filialleiter. Denn Supermarkt sei mehr als Kasse. Regale müssten aufgefüllt, Backwaren vorbereitet und die Datenbank hinter den Kameras etwa mit Fotos veränderter Verpackungen gefüttert werden. An Stellenabbau werde nicht gedacht.

Schultz, der selbst mit 17 als Hilfsarbeiter in der Flaschenannahme eines Spandauer Kaisers-Markts angefangen hatte, dann das Abitur und Ausbildungen nachholte und mit Mitte 20 Marktleiter wurde, sagt, dass er sich einen Supermarkt ohne Mitarbeiter nicht vorstellen könne. Es sei aus seiner Sicht auch nicht die Lösung, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. „Wir sollten eher zusehen, dass wir für die guten Leute attraktiv sind“, sagt er. Pick & Go sieht er für seine Mitarbeiter als Entlastung. Sie kämen jetzt auch mal dazu, ein wenig mit den Kunden zu plaudern. Schließlich sei ein Supermarkt ein sozialer Ort. Laut Schultz gibt es Kunden, die seinen Markt zweimal am Tag besuchten. „Nicht nur ausnahmsweise, sondern regelmäßig“, sagt er.

QOSHE - Einzelhandel 4.0: Wo Einkaufen ein bisschen wie Klauen ist - Jochen Knoblach
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Einzelhandel 4.0: Wo Einkaufen ein bisschen wie Klauen ist

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24.01.2024

Prenzlauer Berg, Rewe-Markt Schönhauser Allee, Ecke Milastraße: Vor den Gemüseauslagen steht ein Mann von Anfang 50. Er trägt einen Bart, eine Brille mit transparentem Gestell und einen Parka mit Pelzbesatz an der Kapuze. In der Hand hält er eine Packung Rispentomaten. Er begutachtet sie, legt sie wieder zurück, nimmt eine andere, betrachtet sie ebenfalls genau und lässt die Packung wie selbstverständlich in seiner Umhängetasche verschwinden.

Der Mann hat sich zuvor nicht einmal umgeschaut, um sicher zu sein, dass er nicht beobachtet wird. Auch die Kunden unmittelbar neben ihm stören ihn nicht. Er geht ohne Eile weiter, durchstreift den gesamten Markt, nimmt hier und da noch etwas aus den Regalen und stopft es ebenfalls in seine Tasche. Wenig später ist zu sehen, wie der Mann mit schwerer Tasche an den Kassen vorbei zum Ausgang geht und sich dort sogar noch verabschiedet. Dann ist er weg.

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Wer dort ohne Korb oder Wagen einkaufen und alles gleich in der eigenen Tasche verstauen will, klinkt sich am Eingang des Markts kurz per App in das hauseigene System ein. Was dann während des Besuchs ausgewählt wird, registrieren Kameras über den Gängen. Insgesamt........

© Berliner Zeitung


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