Dass Berlin in Sachen Windstrom kaum als Pionierregion gelten kann, ist sicher unbestritten. Beweise dafür wären jedenfalls schwer zu finden. Seit im Norden Pankows das erste Windrad im Stadtgebiet aufgestellt wurde, sind 16 Jahre vergangen und seitdem gerade einmal fünf Windkraftanlagen hinzugekommen. Während heute im kleineren Hamburg 67 Anlagen Wind zu Strom machen und sich im noch kleineren Bremen sogar 87 Rotoren drehen, ragen im großen Berlin zwar die Schornsteine von zehn Gas- und Kohle-Großkraftwerken in den Himmel über der Hauptstadt, aber nur sechs Masten von Windrädern.

Tatsächlich war die Erzeugung von grünem Strom aus Wind sehr lange nur ein Randthema in der Berliner Energiepolitik. Die war dagegen nahezu komplett auf die Gewinnung von Strom aus Sonnenstrahlen und den Berliner Masterplan Solarcity fixiert, nach dem Photovoltaikanlagen auf den Dächern der Stadt künftig ein Viertel des benötigten Stroms erzeugen sollen.

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Zwar wurde in einer vom Senat in Auftrag gegebenen Studie bereits 2015 angemahnt, dass Berlin auf dem Weg zur Klimaneutralität auch etwa 50 Windkraftanlagen brauche, doch hat sich darum offenbar niemand gekümmert. Jedenfalls wurde eine seinerzeit empfohlene Machbarkeitsstudie zur Windenergienutzung in Berlin danach von zwei verantwortlichen grünen Umweltsenatorinnen nie in Auftrag gegeben. Windkraft? Nein danke.

Nun aber soll die Flaute ein Ende haben. „Neben Solarenergie wird auch die Windkraft eine Rolle spielen“, sagt Severin Fischer, Staatssekretär in der SPD-geführten Senatsenergieverwaltung Berlin. Und auch die vor neun Jahren empfohlene Machbarkeitsstudie liegt jetzt vor. Ende 2022 hatte der parteilose Energiesenator Stephan Schwarz das Berliner Umweltforschungsunternehmen Bosch & Partner und das Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik damit beauftragt. Allerdings war schon damals der Druck groß.

Denn im Bundesklimaschutzministerium wurde seinerzeit längst das sogenannte Wind-an-Land-Gesetz diskutiert, um den Ausbau von Windkraftanlagen bundesweit zu beschleunigen. Denn bis 2030 soll die Erzeugung von Strom aus Wind verdoppelt werden. Dafür verpflichtet das seit Februar 2023 geltende Gesetz die Bundesländer, auf zwei Prozent ihres Territoriums den Bau von Windkraftanlagen zu ermöglichen. Stadtstaaten bekommen Rabatt und müssen nur ein halbes Prozent ihrer Fläche ausweisen.

Von dem weitgehend unvorbereiteten Berlin verlangt dies dennoch einen Blitzstart. Denn nicht weniger als 446 Hektar sind nach der 0,5-Prozent-Vorgabe in der Stadt für Windräder nachzuweisen. Eine Fläche, eineinhalbmal so groß wie das Tempelhofer Feld, oder das Neunfache des Volksparks Friedrichshain. Den Berliner Senat hat nun offenbar der Ehrgeiz gepackt. Es gehe nicht nur darum, die gesetzlichen Vorgaben des Bundes zu erfüllen, sagt Staatssekretär Fischer. „Sondern auch um die Frage, wie Berlin bis 2045 klimaneutral werden kann.“ Dafür habe man jetzt erstmals eine wissenschaftliche Studie, die das theoretische Windenergieflächenpotenzial in Berlin aufzeige.

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100.000 Euro ließ sich der Senat die Suche nach geeigneten Standorten für weitere Windräder in der Stadt kosten. Für diesen Betrag analysierten die Wissenschaftler jeden Hektar der 892 Quadratkilometer großen Stadt. Sie ermittelten den Gebäudebestand und die Art der Nutzung, berücksichtigten Abstandsvorgaben, Erholungsgebiete und Naturschutzareale und erkundeten, wo etwa Fledermäuse und Zauneidechsen ihr Zuhause haben.

Nach zwölf Monaten wissenschaftlicher Arbeit belegt die Studie unter dem Strich tatsächlich, dass Berlin für Windräder größtenteils ungeeignet ist. 95,1 Prozent des Stadtgebiets haben die Wissenschaftler „als für die Windenergienutzung kategorisch auszuschließen“ identifiziert. Aber auch die übrigen 4,9 Prozent werden wenig zuversichtlich als „theoretisches Potenzial“ und „nicht kategorisch ausgeschlossen“ bezeichnet. Immerhin 4328 Hektar. Fast das Zehnfache dessen, was das Bundesgesetz verlangt. Uneingeschränkt grünes Licht für den Bau einer Windkraftanlage geben die Wissenschaftler aber auch dort nicht.

Tatsächlich wurden diese knapp fünf Prozent des Stadtterritoriums detailliert untersucht und in sechs sogenannte Konfliktrisikokategorien eingeteilt. Diese reichen von der Kategorie 1 mit einem „sehr geringen“ Konfliktrisiko bis zur „besonders hohen“ Konfliktrisikoklasse 6, in der sich gleich mehrere Konfliktquellen überlagern. Das Ergebnis: Von den theoretisch für windradtauglich befundenen 4328 Hektar wurde nicht ein einziger Hektar in die Risikokategorie „sehr gering“ oder wenigstens „gering“ eingestuft. Dagegen wurden 4000 Hektar als Hochrisikogebiet der Stufen 5 und 6 deklariert, weil es dort beispielsweise erste Ideen für neue Wohnquartiere gibt oder bislang unbekannte Vorkommen „windenergiesensibler“ Vogel- oder Fledermausarten zu vermuten sind.

Übrig blieben 330 Hektar, die für den Bau von Windkraftanlagen allerdings auch nur bedingt verwertbar sein dürften. Denn von diesen 330 Hektar haben etwa 140 ein mittleres und 190 Hektar hohes Konfliktrisiko. So bleibt der wissenschaftlichen Analyse zufolge der eigentlich unberechenbare Faktor Wind in Berlin noch die zuverlässigste Größe. Jedenfalls bescheinigt die Studie, dass die gefragte Energiequelle in 150 Metern Höhe überall in der Stadt mit einer Mindestwindgeschwindigkeit von sieben Metern pro Sekunde weht. „Aufgrund der Windressource gibt es keine Einschränkungen“, sagen die Wissenschaftler.

Auf dem Boden bleibt die Zukunft indes vage. Da in großen Gebieten wie etwa im Grunewald, im Tegeler Forst und um die großen Seen im Köpenicker Südosten eine Bebauung ob ermittelter Konfliktrisikoklassen 5 oder 6 nahezu aussichtslos erscheint, bleiben die genannten 330 Hektar. Hinter dieser Zahl stecken konkret 14 Gebiete, die im Schnitt 25 Hektar groß sind und in den meisten Fällen Platz für mehrere Windräder bieten könnten. Sie gelten der Studie zufolge als Gebiete mit der Priorität eins. Elf von ihnen befinden sich im Ostteil der Stadt, drei im Westteil. Bis zu 24 Windkraftanlagen könnten dort insgesamt aufgestellt werden.

Sehr konkret sind die Studienautoren dagegen bei darüber hinaus ermittelten 32 Standorten für einzelne Windkraftanlagen. Dort könnten zwölf Windräder mit einer Nabenhöhe von 155 Metern und einem Rotordurchmesser von 75 Metern sowie 19 etwas kleinere mit einer Gesamthöhe von 150 Metern betrieben werden. Der Analyse nach wäre das etwa bei Müggelheim in Köpenick möglich, ebenso in der Wuhlheide zwischen FEZ und dem Union-Stadion an der Alten Försterei oder am Kraftwerk Klingenberg in Lichtenberg. Aber auch in Teilen des Grunewalds und in Siemensstadt können sich die Studienautoren solche Einzelanlagen vorstellen.

Tatsächlich könnten allein diese 32 Anlagen zehnmal so viel Strom produzieren wie die derzeit in Berlin vorhandenen sechs Windräder. Allerdings sind diese nur eine Art Bonus. Denn weil die ausgewiesenen Flächen im Schnitt keine zwei Hektar groß sind, fallen sie nach dem Wind-an-Land-Gesetz, das einzig den Nachweis von Fläche verlangt, kaum ins Gewicht. „Das ist ein Konstruktionsfehler des Gesetzes“, sagen auch die Studienautoren von Bosch & Partner. Dort geht es um auszuweisende Flächen, nicht um zu erwartende Strommengen.

Wo tatsächlich gebaut werden darf, müssen nun Senat und die betroffenen Bezirke untereinander aushandeln. Dabei drängt die Zeit. Denn wenn Berlin nicht die 446 Hektar ausweisen kann, muss die fehlende Fläche einem anderen Bundesland, das das Ziel seinerseits übererfüllt, quasi abgekauft werden. Dafür verlangt das Gesetz allerdings einen Staatsvertrag, der bis Ende Mai unterzeichnet sein muss.

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Auf diesem Wege könnte Berlin übrigens sogar bis zu 75 Prozent seiner Flächenvorgabe kompensieren, bräuchte statt der 446 also nur 112 Hektar für den Bau von Windkraftanlagen auszuweisen. Im Roten Rathaus sieht man diese Möglichkeit allerdings nur als Notlösung. „Unser Anspruch ist es, einen möglichst großen Teil der vorgeschriebenen Windenergieflächen selbst zu erbringen“, sagt Energiestaatssekretär Severin Fischer. Für die Windräder selbst müssen dann Investoren gefunden werden. Man verspricht zügige Genehmigungsverfahren.

QOSHE - Energiewende in Berlin: Windräder statt Schornsteine? - Jochen Knoblach
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Energiewende in Berlin: Windräder statt Schornsteine?

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17.01.2024

Dass Berlin in Sachen Windstrom kaum als Pionierregion gelten kann, ist sicher unbestritten. Beweise dafür wären jedenfalls schwer zu finden. Seit im Norden Pankows das erste Windrad im Stadtgebiet aufgestellt wurde, sind 16 Jahre vergangen und seitdem gerade einmal fünf Windkraftanlagen hinzugekommen. Während heute im kleineren Hamburg 67 Anlagen Wind zu Strom machen und sich im noch kleineren Bremen sogar 87 Rotoren drehen, ragen im großen Berlin zwar die Schornsteine von zehn Gas- und Kohle-Großkraftwerken in den Himmel über der Hauptstadt, aber nur sechs Masten von Windrädern.

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Denn im Bundesklimaschutzministerium........

© Berliner Zeitung


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