Vor dem Koi-Becken im Aquarium Berlin sitzen Kindergartenkinder in gelben Warnwesten, essen Brote und gekochte Eier. Ein paar Rabauken stecken den Verboten der Erzieher zum Trotz den Zeigefinger in das längliche Fischbecken, in dem sich die bunten Zuchtkarpfen befinden. Von den schmierigen Fingerkuppen der jungen Trockennasenaffen scheinen die Kois unbeeindruckt zu sein. Würden die Kinder respektvoller mit den Fischen umgehen, wenn sie wüssten, dass sich unter ihnen Überlebende des Aquadom-Unglücks befinden? Dort im Aquarium Berlin haben sie ein neues Zuhause gefunden.

Mit einem lauten Knall zerbarst am 16. Dezember 2022 um 5.43 Uhr der Aquadom. Das Aquarium befand sich im Foyer des Radisson Collection Hotels nahe des Fernsehturms. In den frühen Morgenstunden zersprang die Acrylglasscheibe, hinter der sich eine Million Liter Salzwasser befand. Durch die Explosion wurden Teile der Inneneinrichtung, Acrylglassplitter und Türen bis auf die Karl-Liebknecht-Straße geschwemmt. Manche der Glassplitter waren mehrere Meter groß. Das große Wunder: Nur zwei Personen wurden verletzt.

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Rund 1500 Fische kamen bei der Havarie ums Leben. Um die 100 Arten lebten im Aquadom. Die allermeisten starben direkt vor Ort, wurden teilweise bis auf die Straße gespült. In weiteren Becken im Hotel befanden sich ebenfalls mehrere hundert Fische, die aufgrund des Stromausfalls zu ersticken drohten. Einige davon konnten gerettet werden. Unter anderem im Aquarium im Zoo haben die Tiere ein neues Zuhause gefunden.

Im großen Rundumbecken im Aquarium Berlin sind die meisten der überlebenden Fische untergekommen. Ein gepunkteter Rochen gleitet über den steinigen Boden des Aquariums. Über ihm schwimmen bunte Fische im Kreis, als ob sie die Schwänze des Vordermannes jagen, ein quietschgelber Zitronen-Kugelfisch leuchtet im Licht der Beckenleuchte. Die Überlebenden des Unglücks am 16. Dezember 2022 haben sich in ihr neues Zuhause eingelebt. So gut, dass sie von den ursprünglichen Bewohnern des Aquariums nicht mehr zu unterscheiden sind.

Lange Zeit war nicht klar, wieso der Aquadom platzte. Ein Gutachten sollte für Klarheit sorgen, konnte aber keine finale Antwort geben. Im Oktober 2023 stellte der Kunststoffexperte Christian Bonten seinen Bericht vor. Er sieht im Bersten des Aquadoms ein „plötzliches und unerwartetes Ereignis“. Im Wesentlichen zieht Bonten drei mögliche Theorien in Betracht. Dabei können Fehler bei der Verklebung der Glaselemente beim Aufbau des Aquariums oder bei den Sanierungsarbeiten im Jahr 2019 eine Rolle spielen. Als ein dritter möglicher Grund für das Unglück wird ein Sprung im Sockel des Glaszylinders genannt, der das Aquarium letztendlich zum Platzen brachte.

„Einen entscheidenden Hinweis auf die Schadensursache müssen wir nicht zuletzt aufgrund der vielen Sekundärschäden durch den tiefen Fall und Aufprall der Acrylglas-Segmente aus mindestens acht Metern Höhe schuldig bleiben“, sagt Christian Bonten. Die Glasteile wurden nach der Havarie in eine Lagerhalle nach Bad Belzig in Brandenburg gebracht. Unter anderem dort wurde das Material intensiv untersucht. 1100 Arbeitsstunden investierten die Ingenieure in Tests und Untersuchungen. Ein klares Ergebnis konnten sie dennoch nicht liefern.

Am Morgen des 16. Dezembers 2022 wird Gordon Freiherr von Godin zum Unglücksort gerufen. Genauer gesagt ins angrenzende DDR-Museum, dessen Direktor er ist. Die Putzkräfte seien nicht ins Museum gekommen. Als er vor Ort ankam, erwartete ihn ein Bild, das zunächst nach einem Anschlag aussah. Überall kaputte Glasscheiben, die halbe Inneneinrichtung des Radisson Collection Hotels lag auf der Straße, dazwischen Polizisten mit Maschinengewehren. Zunächst wurde Freiherr von Godin das Betreten des Museums verwehrt. Irgendwann bekam er das Okay des Einsatzleiters, der ihm gestattete, die Türen des DDR-Museums zu öffnen.

Die Türen des Museums befinden sich auf der Spreeseite des Gebäudes. Der Strom war weg, im Museum war es an diesem Morgen deshalb dunkel. Als Freiherr von Godin die Türen öffnete, hörte er ein Rauschen. Denn das Wasser des Aquadoms war bis ins Museum vorgedrungen. Das Museum liegt ein Stockwerk tiefer als der Aquadom. Die Decken waren teilweise heruntergekommen. Mehrere Zentimeter tief stand das Salzwasser im Museum.

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Fast ein Jahr später sitzt Freiherr von Godin in seinem Büro und zeigt auf einem A3-Ausdruck des Grundrisses, in welchen Bereichen sich das Wasser besonders stark gesammelt hatte. Vor allem das Modell einer alten DDR-Wohnung war besonders in Mitleidenschaft gezogen worden. Das Salzwasser hatte sich bis in den Estrich gedrückt. Noch am selben Tag fing im Museum die Bautrocknung an. Vieles musste renoviert werden; das Museum war rund dreieinhalb Monate geschlossen. Erst im März 2023 öffnete es nach umfassenden Baumaßnahmen wieder.

Das DDR-Museum ist in privater Hand. Da es keine staatlichen Gelder gibt, musste das Museum die Kosten für die Renovierungsarbeiten vorstrecken. Das Problem: Die Versicherungen haben immer noch nicht alle Gelder ausgezahlt. Zwar blickt das Museum trotz dreimonatiger Schließung auf ein wirtschaftlich gutes Jahr 2023 zurück; der Schaden liegt dennoch in Millionenhöhe. „Wir haben bisher knapp 900.000 Euro erhalten. Der Schaden im Museum liegt bei gut 2,1 Millionen Euro“, sagt Quirin Graf Adelmann, Geschäftsführer des Museums. „Das Hauptproblem haben wir mit der R&V Versicherung, die unsere Gebäudeversicherung ist.“

Glücklicherweise wurde trotz des immensen Wasserschadens nur ein einziges Exponat so zerstört, dass es nicht mehr ausgestellt werden konnte. Eine olivgrüne Schreibmaschine des Modells „Erika“, ein echter DDR-Klassiker, wurde durch das Salzwasser an der Mechanik beschädigt. Auf den Tasten trocknete das Wasser des Aquadoms ganz langsam und hinterließ eine dünne Salzkruste. Die Maschine steht zwar nicht mehr im Museum, man entschied sich dennoch dafür, das Gerät in dem Zustand zu lassen, in dem man sie nach der Havarie des Aquariums vorgefunden hatte. Quasi als Erinnerung an das Unglück.

Nicht nur im DDR-Museum hat das Aquarium bleibende Schäden hinterlassen. Das Radisson Collection Hotel hat zurzeit geschlossen. Vor Ort wird immer noch renoviert. Die Hotelgruppe möchte weiter am Standort DomAquarée festhalten, sagt ein Sprecher des Konzerns. „Derzeit rechnen wir mit einer Wiedereröffnung nicht vor Ende 2024.“ Auch der angrenzende Lindt-Laden erlitt einen Totalschaden. Die Ladenfläche musste kernsaniert werden.

Die Eigentümergesellschaft der Immobilie Union Investment hat entschieden, dass der Aquadom nie wieder errichtet werden soll. Kritik am Vorfall kam unter anderem von der Tierschutzorganisation Peta, die nicht nur Strafanzeige gegen die Verantwortlichen stellte, sondern auch ein Mahnmal für die gestorbenen Fische forderte. Das „Fischgefängnis“ solle nicht wieder aufgebaut werden. Und während die Spuren des Aquadom-Unglücks noch immer nicht ganz beseitigt sind, wird ein paar Kilometer weiter schon eine neue maritime Attraktion gebaut. Die Coral World in der Rummelsburger Bucht soll eine Art Aquarium-Hotel werden. Die Pläne werden trotz der Havarie des Aquadoms weiter umgesetzt. Für den Bau wollte man über sieben Millionen Euro Fördergelder vom Land Berlin bekommen. Letztes Jahr wurde der Antrag aber abgelehnt. Vor Gericht verlor das Unternehmen ebenfalls.

Was wohl passiert wäre, wenn der Aquadom um die Mittagszeit geplatzt wäre, wenn die Hotellobby dicht besucht und der gläserne Fahrstuhl im Aquarium in Betrieb gewesen wäre – darüber möchte man gar nicht nachdenken. Zum Glück starben nur Fische. Lediglich zwei Menschen wurden leicht verletzt, darunter ein Hotelmitarbeiter, der durch die Wassermassen in den benachbarten Lindt-Laden gespült wurde. Unter Trümmerteilen konnte er von der Feuerwehr befreit werden.

Jorge Marin hatte die Schicht eines Kollegen übernommen, als der 42-Jährige kurz vor Ende seiner Nachtschicht von den Wassermassen erfasst wurde. Er sagt, dass er alle 30 Sekunden nach Hilfe gerufen habe, sonst blieb er ruhig. Er weiß noch, dass er auf dem Weg zum Rettungswagen aus dem Shop ein Schoko-Bonbon mitgenommen habe. „Das war total nass.“ Die ersten Wochen war er nur froh, dass alles gut ausgegangen sei, doch dann kamen Schlafstörungen und er merkte, dass er aggressiver reagiert als sonst. Jorge Marin bekommt inzwischen eine Therapie auf Spanisch, seiner Muttersprache. Er sagt, die Welle habe sich angefühlt wie ein Surfunfall in seiner Heimat Malaga. Er arbeitet jetzt woanders.

Und wie geht es den überlebenden Fischen? Vor dem Rundumbecken im Aquarium Berlin neben dem Zoo krabbelt ein Kind, das eigentlich schon laufen kann. Die Mutter packt es von hinten und setzt es in den Kinderwagen. Neben der Glasscheibe befindet sich eine kleine Pfütze. Werden bald noch einmal Fische durch Scheiben stürzen? Das Becken im Aquarium Berlin ist wesentlich kleiner und nicht dem immensen Druck von einer Million Liter Wasser ausgesetzt. Sorgen machen müssen sich an diesem Tag wohl eher die Besucher wegen des rutschigen Bodens. Ein gelbes Schild warnt sie: „Achtung Rutschgefahr“.

QOSHE - Ein Jahr nach dem Aquadom-Unglück: Wie geht es den Beteiligten? - Kevin Gensheimer
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Ein Jahr nach dem Aquadom-Unglück: Wie geht es den Beteiligten?

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16.12.2023

Vor dem Koi-Becken im Aquarium Berlin sitzen Kindergartenkinder in gelben Warnwesten, essen Brote und gekochte Eier. Ein paar Rabauken stecken den Verboten der Erzieher zum Trotz den Zeigefinger in das längliche Fischbecken, in dem sich die bunten Zuchtkarpfen befinden. Von den schmierigen Fingerkuppen der jungen Trockennasenaffen scheinen die Kois unbeeindruckt zu sein. Würden die Kinder respektvoller mit den Fischen umgehen, wenn sie wüssten, dass sich unter ihnen Überlebende des Aquadom-Unglücks befinden? Dort im Aquarium Berlin haben sie ein neues Zuhause gefunden.

Mit einem lauten Knall zerbarst am 16. Dezember 2022 um 5.43 Uhr der Aquadom. Das Aquarium befand sich im Foyer des Radisson Collection Hotels nahe des Fernsehturms. In den frühen Morgenstunden zersprang die Acrylglasscheibe, hinter der sich eine Million Liter Salzwasser befand. Durch die Explosion wurden Teile der Inneneinrichtung, Acrylglassplitter und Türen bis auf die Karl-Liebknecht-Straße geschwemmt. Manche der Glassplitter waren mehrere Meter groß. Das große Wunder: Nur zwei Personen wurden verletzt.

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Rund 1500 Fische kamen bei der Havarie ums Leben. Um die 100 Arten lebten im Aquadom. Die allermeisten starben direkt vor Ort, wurden teilweise bis auf die Straße gespült. In weiteren Becken im Hotel befanden sich ebenfalls mehrere hundert Fische, die aufgrund des Stromausfalls zu ersticken drohten. Einige davon konnten gerettet werden. Unter anderem im Aquarium im Zoo haben die Tiere ein neues Zuhause gefunden.

Im großen Rundumbecken im Aquarium Berlin sind die meisten der überlebenden Fische untergekommen. Ein gepunkteter Rochen gleitet über den steinigen Boden des Aquariums. Über ihm schwimmen bunte Fische im Kreis, als ob sie die Schwänze des Vordermannes jagen, ein quietschgelber Zitronen-Kugelfisch leuchtet im Licht der Beckenleuchte. Die Überlebenden des Unglücks am 16. Dezember 2022 haben sich in ihr neues Zuhause eingelebt. So gut, dass sie von den ursprünglichen Bewohnern des Aquariums nicht mehr zu unterscheiden sind.

Lange Zeit war nicht klar, wieso der Aquadom platzte. Ein Gutachten sollte........

© Berliner Zeitung


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