Rund einhundert unabhängige Plattenläden verzeichnet die Website The Record Store Map in Berlin, die Dunkelziffer dürfte höher sein. Es ließe sich meinen, dass es ihnen allen blendend gehe. Das Geschäft mit der Schallplatte boomt – so lautet zumindest seit nunmehr gut anderthalb Jahrzehnten das Credo der Musikindustrie.

Tatsächlich sind die Verkäufe in den vergangenen Jahren sukzessive gestiegen, wachsen aktuell aber kaum noch. Auch muss das nicht heißen, dass wirklich von allem mehr verkauft wird: Auf Platz 1 der deutschen Vinyl-Jahrescharts stand 2023 eine zugkräftige Band wie Rolling Stones, Taylor Swift belegte gleich mehrere Plätze der Top 10. Sie treiben das Wachstum maßgeblich an.

Stephan Schulz ist Mitbegründer des im Jahr 2013 eröffneten Dodo Beach und steht dem vermeintlichen Boom skeptisch gegenüber. „Das wird ein bisschen herbeigeredet“, sagt er. Der Marktanteil von Vinyl habe sich kaum erhöht, das Medium sei in der Nische geblieben. „Als unabhängiger Plattenladen haben wir von einem Boom wenig mitbekommen.“ Das verdeutlicht auch die Schließung der zweiten Filiale von Dodo Beach auf der Danziger Straße Anfang dieses Jahres. Das Angebot dort sei nicht umfassend angenommen worden. Seitdem konzentrieren sich Schulz und sein Team wieder auf das Geschäft am ursprünglichen Standort in der Vorbergstraße in Schöneberg.

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Die Schließung des Dodo Beach East war nicht die einzige alarmierende Nachricht der jüngeren Zeit. Dem Hard Wax, maßgeblich daran beteiligt, Techno nach Berlin zu bringen, wurde erst vor kurzem der Mietvertrag am Paul-Lincke-Ufer gekündigt. Dort werden nun Luxuswohnungen gebaut. Der Plattenladen ist mittlerweile im Kraftwerk untergekommen und damit im selben Gebäude wie der nicht minder ikonische Club Tresor ansässig. Dennoch steht der Umzug sinnbildlich für die Entwicklung Berlins, dessen Kulturszene erst viel Geld in die Stadt brachte und dann davon verdrängt wurde.

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Vor allem schlagen sich Plattenläden mit denselben Krisen herum, die der Einzelhandel in den vergangenen vier Jahren durchleiden musste. Da war zuerst die Pandemie, konstatiert Schulz, deren Effekte noch nachhallen. „Das Einkaufsverhalten hat sich verändert, die Leute erledigen ihre Einkäufe immer mehr von zu Hause.“ Laufkundschaft, die sich zu Spontankäufen hinreißen lässt, müsse wieder hinzugewonnen werden. Zudem hat wegen der wirtschaftlichen Krisen der jüngeren Vergangenheit die Kaufkraft gelitten. Weil parallel durch gestiegene Produktionskosten die Verkaufspreise neuer Veröffentlichungen in die Höhe steigen, entsteht ein Teufelskreis: Immer weniger Menschen kaufen ein, und dann ausgewählter.

Von diesen Entwicklungen profitieren am ehesten noch große Versandhändler. Sie bieten dem Publikum nicht nur mehr Bequemlichkeit, sondern auch günstigere Preise als der Plattenladen ums Eck. Wer aus dem Fenster von Bis aufs Messer in der Friedrichshainer Marchlewskistraße nach draußen schaut, sieht dort das Symbol solcher Umwälzungen in gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen in den Himmel staken: Das Edge East Side, besser bekannt als Amazon-Tower, versperrt dort mittlerweile als größter Büroturm Berlins die zuvor freie Sicht auf den Horizont.

Als der Plattenladen im Jahr 2006 öffnete, sah nicht nur die Skyline Berlins anders aus. „Ich bin immer noch überrascht, wenn ich vier Platten zusammenrechne und 100 Euro dabei rauskommen“, erzählt Mitbetreiber Robert Schulze. Früher waren in dem ursprünglich auf Punk und Hardcore spezialisierten Geschäft für denselben Betrag noch ungefähr doppelt so viele Platten zu haben. Von den gestiegenen Verkaufspreisen bleiben allerdings nicht mehr Gewinne im Geschäft liegen, das zuletzt immer wieder Rückschläge einstecken musste. Schulze erhielt Corona-Hilfen und musste sie zurückzahlen, wegen erhöhter Umsätze nach dem Fallen aller Pandemieauflagen forderte das Finanzamt höhere Vorauszahlungen für das laufende Jahr.

Ungeplante Ausgaben wie diese müssen wiederum durch höhere Einnahmen kompensiert werden, ein nervenaufreibendes Unterfangen. Ein Polster aus Rücklagen, so Schulze, habe er in den Krisen der vergangenen Jahre schlicht nicht aufbauen können. Auch im Verkauf sei die Planungssicherheit nicht mehr dieselbe, weshalb er vorsichtiger kalkuliere. „Früher wusstest du: Von der Platte kann ich 50 verkaufen. Heutzutage fängt man mit viel kleineren Stückzahlen an.“ Stephan Schulz von Dodo Beach berichtet ähnliches: „Natürlich müssen wir im Einkauf genauer darauf achten, was wir in den Laden stellen. Die Platten werden ja nicht nur für die Kunden teurer, sondern für uns auch.“ Nicht nur die Preise, sondern auch das Risiko für Verlustgeschäfte steigt sukzessive.

Vor diesem Hintergrund mag es überraschen, dass am 18. April ein überdurchschnittlich großer Plattenladen in Berlin aufmacht. Im Kalle Neukölln auf der Karl-Marx-Straße öffnen in den vormaligen Räumlichkeiten einer Karstadt-Filiale in den kommenden Monaten ein Supermarkt und ein Food-Markt. Zuvor feiert dort eine weitere Filiale der traditionsreichen Kette Rough Trade den Sprung nach Kontinentaleuropa. Sechs Filialen gibt es in Großbritannien, seit gut einem Jahrzehnt verkauft Rough Trade auch in New York City Platten, Bücher und Merchandising.

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Die Expansion nach Deutschland hat auch mit dem Brexit zu tun, erklärt Curt Keplin, Geschäftsführer des europäischen Zweigs von Rough Trade. Betroffen war vor allem der zuvor gut laufende Versandhandel. „Rough Trade hatte eine treue Klientel in ganz Europa, doch wurde vom Porto bis hin zu den Zollgebühren alles teurer und die Lieferzeiten immer länger“, berichtet er. Im Herbst richtete Rough Trade deshalb zuerst ein Lager in Kreuzberg ein, um von dort aus Online-Bestellungen in der EU abzuwickeln. Ein zusätzliches Ladengeschäft zu eröffnen, war da nur die logische Konsequenz.

Die Berliner Filiale lockt mit Bar und Fotokabine auf der Verkaufsfläche auch Menschen an, für die das Medium Schallplatte eher sekundär von Interesse ist. Zusätzlich dazu werden exklusive Konzerte angeboten, zuerst in verschiedenen Spielstätten in der Stadt, später dann in einem derzeit noch im Bau befindlichen Club unter dem Kalle Neukölln. Der Clou: Die Tickets sind nur in Kombination mit Tonträgern erhältlich. Live- und Vinylgeschäft sollen einander stützen.

Den Plattenkauf mit Veranstaltungen engzuführen, hat mittlerweile Tradition. Mit der im Jahr 2008 lancierten Initiative Record Store Day soll im April jeden Jahres der Einzelhandel unterstützt werden, indem unabhängigen Plattenläden streng limitierte Sammlereditionen angeboten werden. Das wird nicht überall gut aufgenommen: Labels klagen über Staus in den Presswerken, Vinyl-Fans echauffieren sich über überteuerte Neuauflagen von Oldies, die auf jedem Flohmarkt zu haben sind.

Robert Schulze von Bis aufs Messer soll als Betreiber eines Plattenladens eigentlich von der am 20. April stattfindenden Aktion profitieren, reiht sich aber in die kritischen Stimmen ein. „Es kommen Leute, die sonst nie da sind und schnell wieder gehen“, sagt er. „90 Prozent von denen schaut nur in der Hoffnung vorbei, etwas zum Weiterverkaufen zu finden und guckt sich nicht weiter um.“ Nicht immer außerdem gehe das Geschäft mit den limitierten Platten auf, die dann irgendwann in der Grabbelkiste landen: Außer Spesen nichts gewesen.

Stephan Schulz kennt die Kritik, ist aber erklärter Befürworter des Record Store Days. „98 Prozent der Kunden gehen mit einem breiten Grinsen aus dem Geschäft wieder raus“, sagt er. „Das hilft uns und dem Vinylmarkt im Allgemeinen.“ Tatsächlich eröffnete die Schöneberger Filiale von Dodo Beach sogar vor elf Jahren pünktlich zum weltweiten Plattenladentag und hat deshalb am 20. April doppelten Anlass zum Feiern. Dieses Jahr sogar mit Live-Konzerten von unter anderem Drangsal und Klez.e.

Bei Rough Trade wird Freibier ausgeschenkt und exklusiv ein Plattenspieler mit Firmenlogo verkauft, am Abend geht es ins Kreuzwerk weiter für eine Eröffnungsparty mit Konzerten von Discovery Zone und Digitalism. „Wir wollen ein schönes Erlebnis schaffen und die Institution des Plattenladens feiern“, so Keplin. Dass die Ankunft der weltweit agierenden Kette in Berlin, zumal im zunehmend gentrifizierten Neukölln, auch kritisch beäugt wird, ist ihm bewusst. „Wir sind nicht in den Markt gekommen, um andere zu verdrängen. Wir wollen eine Bereicherung für die Berliner Musiklandschaft darstellen“, betont er.

Stephan Schulz sieht es gelassen, dass ein großer Player in der Stadt angekommen ist. „Konkurrenz belebt das Geschäft, und jeder neue Plattenladen schafft eine höhere Wahrnehmung für das Medium Vinyl“, bekräftigt er. „Natürlich aber können wir jede Platte, die jemand anderes verkauft, nicht verkaufen.“ Dabei zählt doch in Zeiten multipler wirtschaftlicher Krisen gerade für die kleinen der über hundert Plattenläden in der Stadt jeder einzelne davon umso mehr. Ob Schulz also schwierigen Zeiten entgegensieht? „Es werden zumindest keine leichten.“

QOSHE - Record Store Day der Berliner Plattenläden: „Es werden keine leichten Zeiten“ - Kristoffer Cornils
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Record Store Day der Berliner Plattenläden: „Es werden keine leichten Zeiten“

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20.04.2024

Rund einhundert unabhängige Plattenläden verzeichnet die Website The Record Store Map in Berlin, die Dunkelziffer dürfte höher sein. Es ließe sich meinen, dass es ihnen allen blendend gehe. Das Geschäft mit der Schallplatte boomt – so lautet zumindest seit nunmehr gut anderthalb Jahrzehnten das Credo der Musikindustrie.

Tatsächlich sind die Verkäufe in den vergangenen Jahren sukzessive gestiegen, wachsen aktuell aber kaum noch. Auch muss das nicht heißen, dass wirklich von allem mehr verkauft wird: Auf Platz 1 der deutschen Vinyl-Jahrescharts stand 2023 eine zugkräftige Band wie Rolling Stones, Taylor Swift belegte gleich mehrere Plätze der Top 10. Sie treiben das Wachstum maßgeblich an.

Stephan Schulz ist Mitbegründer des im Jahr 2013 eröffneten Dodo Beach und steht dem vermeintlichen Boom skeptisch gegenüber. „Das wird ein bisschen herbeigeredet“, sagt er. Der Marktanteil von Vinyl habe sich kaum erhöht, das Medium sei in der Nische geblieben. „Als unabhängiger Plattenladen haben wir von einem Boom wenig mitbekommen.“ Das verdeutlicht auch die Schließung der zweiten Filiale von Dodo Beach auf der Danziger Straße Anfang dieses Jahres. Das Angebot dort sei nicht umfassend angenommen worden. Seitdem konzentrieren sich Schulz und sein Team wieder auf das Geschäft am ursprünglichen Standort in der Vorbergstraße in Schöneberg.

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Die Schließung des Dodo Beach East war nicht die einzige alarmierende Nachricht der jüngeren Zeit. Dem Hard Wax, maßgeblich daran beteiligt, Techno nach Berlin zu bringen, wurde erst vor kurzem der Mietvertrag am Paul-Lincke-Ufer gekündigt. Dort werden nun Luxuswohnungen gebaut. Der Plattenladen ist mittlerweile im Kraftwerk untergekommen und damit im selben Gebäude wie der nicht minder ikonische Club Tresor ansässig. Dennoch steht der Umzug sinnbildlich für die Entwicklung Berlins, dessen Kulturszene erst viel Geld in die Stadt brachte und dann davon verdrängt wurde.

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Vor allem schlagen sich Plattenläden mit denselben Krisen........

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