In welcher politischen wie gesellschaftlichen Atmosphäre die Dokumentation erscheinen würde, war während ihrer Entstehungsphase nicht abzusehen. Nun also kommt „High & Low: John Galliano“ ausgerechnet in Zeiten, in denen ein erstarkender Antisemitismus zu verzeichnen ist. Und so wird sich, wer sich an die Ausfälle des Modegenies vor einigen Jahren noch lebhaft erinnern kann, schon vor dem Ansehen des Films fragen: Wie ist der Regisseur Kevin Macdonald bloß mit den furchtbaren Bildern dieses Vorfalls umgegangen?

Er hat sie gleich an den Anfang gesetzt, die verwackelten Handyvideos aus dem Februar 2011: Sie zeigen John Galliano, damals Kreativdirektor der Traditionsmarke Christian Dior, in einem Pariser Café sitzend, volltrunken, aggressiv. Aufs Übelste beleidigt er zwei Frauen am Nebentisch antisemitisch – es war einer von insgesamt drei Vorfällen dieser Art, darunter zudem rassistische Angriffe. Galliano wurde folgend für seine Hassverbrechen schuldig gesprochen und von seinen Aufgaben bei Dior entbunden. Das, so suggeriert schon der Titel der Doku, war der Tiefpunkt – das absolute „Low“.

Doch um zu erklären, wie es zu diesen abscheulichen Situationen kommen konnte, will Macdonald auch die Höhepunkte einer Karriere erzählen, die viele Jahre eben nur das kannte: Höhepunkte, immer neue Erfolge, immer größere Inszenierungen, immer größere Shows. Hochkarätige Protagonistinnen und Protagonisten erzählen in dem rund zweistündigen Film vom wichtigsten Designer seiner Generation; der sich aus dem Londoner Underground hochgearbeitet hatte an die silbrig glänzende Speerspitze der französischen Haute Couture.

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Die Vogue-Legende Anna Wintour, die stets Gallianos größte Unterstützerin geblieben war, Models wie Kate Moss oder Naomi Campbell, die Schauspielerinnen Penélope Cruz und Charlize Theron, namhafte Journalistinnen und Journalisten wie Hamish Bowles oder Robin Givhan (die einzige Autorin, die je einen Pulitzerpreis für ein modejournalistisches Werk verliehen bekam) – sie alle zeichnen das Bild eines Ausnahmetalents, das über die theatrale Inszenierung, über bombastische Modenschauen einen unverrückbaren Geniestatus erlangte. Und dessen sensationeller Aufstieg von Alkohol- und Medikamentensucht begleitet war.

So könnte man in der ersten Filmhälfte von „High & Low: John Galliano“ beinahe befürchten, hier ginge es um eine plumpe Rehabilitation: darum, Entschuldigungen zu finden für Dinge, die schlichtweg unentschuldbar sind. Doch die Dokumentation verharrt eben nicht im fantastischen Rausch der Bilder, überhöht nicht die Höhepunkte, auf dass der tiefe Fall banal wirkt und Gallianos Hassreden bagatellisiert würden. Es sind eben nicht nur Wintour, Moss und Campbell, die hier ins Schwärmen geraten – auch die Opfer von Gallianos Übergriffen kommen zu Wort, dazu Historikerinnen und Psychologen, die sein Gebaren kontextualisieren.

Das sind die zentralen Fragen des Films: Wie ist im Nachhinein das fraglos beeindruckende Werk eines Künstlers zu betrachten, der sich auf dem Zenit seiner Karriere als fragwürdiger Charakter offenbart? Wofür muss ein Mensch auf ewig büßen, und wann darf ihm die Gesellschaft Absolution erteilen? Aber vor allem: Ist John Galliano ein gebrochener Mann – oder schlichtweg ein Antisemit?

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Dass nicht alle Fragen umfassend und abschließend geklärt werden können, liegt wohl in der Natur der Sache. Und auch an der beeindruckenden Anzahl an Perspektiven; es müssen an die 30 Stimmen sein, die hier Gehör finden, darunter auch John Galliano selbst. Doch Kevin Macdonald ist eine ungewöhnlich ausgewogene, zu allen Seiten faire Dokumentation gelungen, die unbedingt sehenswert ist. Gerade jetzt.

High & Low: John Galliano. Dokumentation, Mubi

QOSHE - Antisemit – oder gebrochener Mann? Die Doku „High & Low“ zeigt John Gallianos tiefen Fall - Manuel Almeida Vergara
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Antisemit – oder gebrochener Mann? Die Doku „High & Low“ zeigt John Gallianos tiefen Fall

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26.04.2024

In welcher politischen wie gesellschaftlichen Atmosphäre die Dokumentation erscheinen würde, war während ihrer Entstehungsphase nicht abzusehen. Nun also kommt „High & Low: John Galliano“ ausgerechnet in Zeiten, in denen ein erstarkender Antisemitismus zu verzeichnen ist. Und so wird sich, wer sich an die Ausfälle des Modegenies vor einigen Jahren noch lebhaft erinnern kann, schon vor dem Ansehen des Films fragen: Wie ist der Regisseur Kevin Macdonald bloß mit den furchtbaren Bildern dieses Vorfalls umgegangen?

Er hat sie gleich an den Anfang gesetzt, die verwackelten Handyvideos aus dem Februar 2011: Sie zeigen John Galliano, damals Kreativdirektor der Traditionsmarke Christian Dior, in einem Pariser Café sitzend, volltrunken, aggressiv. Aufs Übelste beleidigt er zwei Frauen am Nebentisch antisemitisch – es war einer von insgesamt drei Vorfällen dieser Art, darunter zudem rassistische Angriffe. Galliano wurde folgend für seine Hassverbrechen schuldig gesprochen und von seinen Aufgaben bei Dior entbunden. Das, so........

© Berliner Zeitung


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