Agnes Schorer steht in ihrem Atelier und kann es nicht verstehen. „Diese zuletzt so populär gewordene Idee eines sogenannten Boyfriend-Looks“, sagt sie und legt die Stirn in denkerische Falten. „Ich begreife das einfach nicht.“ Man brauche doch Frauen gar nicht erst einzureden, dass sie sich am besten aus dem Schrank ihres Partners bedienten – „die können doch einfach ihre eigenen Hosen und Jacken anziehen!“

Schorer sagt das freilich auch mit Blick auf ihr eigenes Angebot: 2015 gründete die gelernte Schneiderin ihr Atelier Agnes Nordenholz, in ihrer eleganten Charlottenburger Wohnung gelegen, ein großer, heller Arbeitsraum, moderne Nähmaschinen und alte Möbel überall ringsum. Hier entwirft sie Anzüge für Frauen, die zwar stilistisch angelehnt sind an die klassische Herrenschneiderei, nur dezent taillierte Jacketts aus feinen englischen Stoffen, mit breiten Revers und hoch angesetzten Ärmeln. An die weiblichen Rundungen ihrer Trägerinnen sollen sie sich trotzdem bestens anschmiegen.

Zwar bietet Agnes Schorer in vereinzelten Fällen auch Vollmaßschneiderei an, komplett handgefertigte Ensembles also, für deren Erstellung sie den Schnitt in enger Abstimmung mit der Kundin von Grund auf neu konstruiert. Ihr Hauptfokus aber liegt auf der Maßkonfektion: Eine Reihe von ihr entworfene Anzüge, fertige Schnitte und musterhafte Details, werden lediglich auf die Maße der Kundin hin abgeändert und in einem Familienunternehmen in Cagliari auf Sardinien produziert. Ab 1800 Euro kostet ein solcher Nordenholz-Zweiteiler.

So oder so, ob Vollmaß oder Maßkonfektion: „Mich hat es immer gestört, dass Kleidungsstücke auf diesem Niveau den Männern vorbehalten waren“, sagt Schorer. „Dass in der klassischen Herrenschneiderei ein viel größerer Aufwand betrieben wird als in der Damenschneiderei, die einige zeitintensive Verarbeitungsprozesse einfach nicht vorsieht.“ Also kam ihr die Idee, etwas ebenso Hochwertiges für Frauen anzubieten. Schließlich gibt es – ob zeitgenössisch oder historisch – durchaus weibliche Vorbilder.

28.03.2024

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gestern

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Marlene Dietrich zum Beispiel wollte auf den Tragekomfort maßgeschneiderter Outfits nicht verzichten: Ihre Fracks ließ sie bei der Wiener Schneiderwerkstatt Knize anfertigen, die auch Marilyn Monroe und Josephine Baker zu ihren Kundinnen zählte. In den frühen 1970ern orderte dann Bianca Jagger Maßanzüge bei Tommy Nutter in London, der auch ihren Ehemann Mick belieferte. Heute fällt die New Yorker Schriftstellerin Fran Lebowitz in maßgefertigten Mänteln und Jacketts auf; sie kommen von der Londoner Firma Anderson & Sheppard, bei der auch König Charles III. stets fündig wird.

Und dann wäre da noch die fiktive Stardirigentin aus Todd Fields „Tár“: Gleich die erste Szene des im vergangenen Jahr erschienenen Films spielt im Berliner Atelier Egon Brandstetters, eines der bekanntesten Maßschneider der Stadt. Die von Cate Blanchett gespielte Lydia Tár lässt sich ein Jackett auf den Leib schneidern – für die Dirigentin nur das Beste, das nicht nur auf ihren Habitus rückwirkt, sondern auch auf ihr innerstes Selbstverständnis.

Ich habe festgestellt, dass der Mantel eine Art Sonderstatus genießt.

Ein Vorbild allerdings scheint die Filmfigur zumindest für die Kundinnen von Agnes Nordenholz nicht geworden zu sein. „Ich kann nicht behaupten, dass sich auf ,Tár‘ hin neue Kundinnen bei mir gemeldet hätten“, sagt Schorer, die nach ihrer Schneiderlehre Mode an der Universität für angewandte Kunst in Wien studiert hat, erst bei Marc Bohan, dann bei Helmut Lang, schließlich unter Jean-Charles de Castelbajac. Sie selbst aber sei von dem Film begeistert gewesen, gerade von seiner stilprägenden ersten Szene.

Auch Manuela Leis hat „Tár“ gesehen und für „ein bisschen prätentiös, aber wahnsinnig gut“ befunden. Auf ihr eigenes Geschäft habe sich der Film allerdings ebenso wenig ausgewirkt – „eher kämen die Leute wohl zu mir, wenn es wieder einen neuen ,Matrix‘ in den Kinos gäbe“. Expressive Mäntel, wie sie in Lana und Lilly Wachowskis Science-Fiction-Trilogie eine tragende Rolle spielen, könne man sich schließlich von ihr anfertigen lassen. „Und tatsächlich habe ich auch einen Kunden, der sich speziell Designs aus Filmen nachschneidern lässt.“

Manuela Leis sitzt im Schneidersitz auf einem alten Rattansessel, als sie das erzählt, eine schier endlose Reihe an Papierschnittmustern hängt ihr im Rücken. Seit 2017 führt die Schneiderin, die ihr Handwerk an der renommierten Kunst- und Modeschule Herbststrasse in Wien erlernte, ein eigenes Atelier in Friedrichshain. Dabei konzentriert sie sich ganz auf das Obendrüber – auf den Maßmantel nämlich.

„Mich auf ein einziges Teil zu limitieren, war natürlich ein Wagnis“, sagt sie. „Aber ich habe mich vor meiner Firmengründung ganz intensiv mit dem Kaufverhalten einer möglichen Klientel auseinandergesetzt, viel gelesen, Statistiken gewälzt, und immer wieder festgestellt, dass der Mantel eine Art Sonderstatus genießt.“ Ein guter Mantel sei wie ein Zuhause, so drückte es ihrerseits die damalige Max-Mara-Chefin Laura Lusuardi aus.

Und tatsächlich, es funktioniert, auch in Friedrichshain: Mittlerweile bedient Manuela Leis Kundinnen und Kunden aus der Schweiz, aus Polen, Belgien, Tschechien und Österreich, aus den Niederlanden und aus Norwegen. Noch seien es größtenteils Männer, die bei ihr bestellten – doch auch mehr und mehr Frauen fänden Gefallen an der Idee eines perfekt sitzenden Maßmantels.

„Vom ersten Gespräch bis zum fertigen Teil würde es in etwa vier Wochen dauern, wenn ich konzentriert an nur einem Stück arbeiten könnte“, sagt Leis. „Aber da ich immer an mehreren Projekten gleichzeitig sitze, müssen Sie schon ein bisschen mehr Zeit mitbringen.“ Und: rund 3800 Euro allein für Leis’ wochenlange Handarbeit, hinzu kommen die Materialkosten, „aktuell gehen die meisten Mäntel bei mir so um die 5000 Euro raus.“

Leisten würde sich das vor allem, wer Wert auf Maßarbeit statt Masse legt, auf Originalität, auf Individualität, auch auf den persönlichen Kontakt zu jenen Handwerkerinnen und Handwerkern, die die feine Kleidung produzieren. Und ganz so wenige Menschen, wie man zunächst vermuten würde, sind das offenbar nicht: Trotz der Krisen vergangener Jahre sei ihre Auftragslage „sehr gut“, sagt Leis im Schneidersitz. „Bis nächstes Jahr im März bin ich komplett ausgebucht.“

Von langen Wartelisten kann auch Korbinian Ludwig Heß berichten: Wer in seiner 2017 gegründeten Charlottenburger Werkstatt zu Kundin oder Kunde werden will, müsse derzeit etwa ein halbes Jahr warten. Heß bietet keine maßgeschneiderten Anzüge, sondern maßgenähte Schuhe an – auch das ein Bereich, für den sich lange vor allem die Herren begeisterten. Doch das habe sich geändert, durchaus zu seinen Gunsten, so Heß.

„Ich begrüße es sehr, dass immer mehr Frauen zu uns kommen“, sagt der Maßschuhmacher, der sein Handwerk unter anderem bei der legendären Wiener Schuhmacherei Scheer gelernt hat. Männer seien eher ängstlich, gerade was exaltierteres Schuhwerk angeht. „Frauen gehen mit dem Thema ein bisschen spielerischer um, sie haben Spaß daran, da muss es nicht immer nur der schwarze Oxford oder der braune Derby sein.“ Mit Heß wissen die Damen einen kompetenten Partner an ihrer Seite, auch für ungewöhnlichere Ideen.

Neulich habe er für eine Kundin ein Paar Cowboystiefel mit „wahnsinnig aufwendiger Stickerei“ gemacht, erzählt er – sagenhafte 14.000 Euro konnte er dafür verlangen, „vor allem wegen der sehr langen Arbeitszeit“. Normalerweise ginge es preislich für ein Paar seiner Maßschuhe bei ungefähr 6000 Euro los.

Darüber hinaus verkauft Heß eine kleine Konfektionskollektion, von Slippern für 840 Euro bis zu Chelsea Boots für 1400 Euro. Günstig ist das nicht, dafür verspricht Korbinian Ludwig Heß eine Qualität, wie es sie in Berlin, laut ihm sogar in Deutschland kein zweites Mal gibt.

Während Heß von seinem Geschäft erzählt, klopft und hämmert es in verschiedenen Ecken seiner lichtdurchfluteten Werkstatt. Seine Mitarbeiterinnen Eleonore Larasser und Luise Gebert – „die Besten, die du in ganz Berlin finden kannst!“ – sitzen jeweils an einem Paar Maßschuhe. Dabei arbeiten Heß und Team so traditionell wie irgend möglich, ohne Strom und mit selbstgemachten Klebern.

Nachdem sie die Kundinnen und Kunden eingehend beraten und ihre Füße vermessen haben, fertigen sie von Hand zunächst die hölzernen Leisten, dann ein erstes Paar Probeschuhe an. „Die werden erst mal anprobiert und getragen, manchmal nur eine halbe Stunde, manchmal auch ein paar Tage“, so Heß. Die Kundinnen und Kunden sagen, wo’s noch drückt, der Schuhmacher schneidet den Schuh auf, sieht und fühlt noch einmal selbst nach.

Manchmal wird noch ein zweites, leicht verändertes Probepaar angefertigt – erst wenn alles stimmt, geht’s an den finalen Schuh. Seine Leder bezieht Heß von ausgewählten Gerbereien, von Perlinger aus Bayern oder Rendenbach aus Trier zum Beispiel. „Und wir arbeiten mit den französischen Tanneries du Puy zusammen, wo auch Hermès sein Leder kauft.“ Dass Korbinian Ludwig Heß auf eine treue Klientel bauen kann, ist schon in seinen Arbeitsräumen zu sehen.

An einer Wand der Werkstatt hängen in Reih und Glied ihre Leisten – Dutzende hölzerne Formen, jedes Paar ganz den Füßen einer Kundin oder eines Kunden entsprechend. „Einer bestellt bei mir nur noch per SMS“, sagt Heß, „das Vertrauen ist groß.“ Und auch die Zahl der Kolleginnen und Kollegen in der Stadt ist gar nicht so klein. In Berlin, erzählt der Maßschuhmacher noch, hätten sich vor allem Schuhmacherinnen niedergelassen. „Das ist durchaus ein kleines Phänomen“, auch wenn nicht alle so traditionell und höchstwertig arbeiten wie er. Ähnlich beschreibt es auch Manuela Leis, die Frau mit den Mänteln.

Zwar gebe es in Berlin nur noch eine Handvoll Herrenschneider, die vor Ort Maßbekleidung anfertigen, also das, was auf Englisch „bespoke“ genannt wird. Der eingangs erwähnte Egon Brandstetter eben, Alexander Amann in Treptow, außerdem James Whitfield – der einzige Maßschneider der Stadt, der in der Savile Row ausgebildet wurde, der ikonischen Londoner Maßschneiderstraße. „Was allerdings stetig größer wird, ist das Angebot an Maßkonfektion“, sagt Manuela Leis.

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Vollends vergleichen lassen sich die beiden Sparten nicht, der Vollmaßanzug bleibt in Aufwand und Qualität einsame Spitze. Doch ist es eine gute Sache, dass sich mittlerweile auch ein Konfektionsangebot durch niedrigere Preise an mehr Männer richtet – und an mehr Frauen. „Für sie finde ich es wichtig, dass sie damit immer auf eine adäquate Garderobe zurückgreifen können, gerade wenn sie in hohen Positionen sind, in denen sie sich auch durch ihre Kleidung gestärkt und unterstützt wissen wollen“, sagt Agnes Schorer in ihrem Charlottenburger Atelier, inmitten ihrer Anzüge auf Schneiderpuppen und an Kleiderbügeln.

An einer Wand mit Entwürfen hat die Schneiderin ein eigenes Zitat aufgehängt: „Die Waffen der Frauen sind vielfältig“, steht darauf, „ich empfehle Wissen und einen Anzug“.

Agnes Nordenholz. Bleibtreustraße 34–35, 10707 Berlin. Nur nach Terminvereinbarung. www.agnesnordenholz.com

Manuela Leis. Corinthstraße 44, 10245 Berlin. Nur nach Terminvereinbarung. www.thecoatress.com

Korbinian Ludwig Heß. Hohenzollerndamm 201, 10717 Berlin. Nur nach Terminvereinbarung. www.klh-massschuhe.com

QOSHE - Friedrichshain bis Charlottenburg: Wo traditionelle Maßschneiderei noch lebendig ist - Manuel Almeida Vergara
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Friedrichshain bis Charlottenburg: Wo traditionelle Maßschneiderei noch lebendig ist

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30.03.2024

Agnes Schorer steht in ihrem Atelier und kann es nicht verstehen. „Diese zuletzt so populär gewordene Idee eines sogenannten Boyfriend-Looks“, sagt sie und legt die Stirn in denkerische Falten. „Ich begreife das einfach nicht.“ Man brauche doch Frauen gar nicht erst einzureden, dass sie sich am besten aus dem Schrank ihres Partners bedienten – „die können doch einfach ihre eigenen Hosen und Jacken anziehen!“

Schorer sagt das freilich auch mit Blick auf ihr eigenes Angebot: 2015 gründete die gelernte Schneiderin ihr Atelier Agnes Nordenholz, in ihrer eleganten Charlottenburger Wohnung gelegen, ein großer, heller Arbeitsraum, moderne Nähmaschinen und alte Möbel überall ringsum. Hier entwirft sie Anzüge für Frauen, die zwar stilistisch angelehnt sind an die klassische Herrenschneiderei, nur dezent taillierte Jacketts aus feinen englischen Stoffen, mit breiten Revers und hoch angesetzten Ärmeln. An die weiblichen Rundungen ihrer Trägerinnen sollen sie sich trotzdem bestens anschmiegen.

Zwar bietet Agnes Schorer in vereinzelten Fällen auch Vollmaßschneiderei an, komplett handgefertigte Ensembles also, für deren Erstellung sie den Schnitt in enger Abstimmung mit der Kundin von Grund auf neu konstruiert. Ihr Hauptfokus aber liegt auf der Maßkonfektion: Eine Reihe von ihr entworfene Anzüge, fertige Schnitte und musterhafte Details, werden lediglich auf die Maße der Kundin hin abgeändert und in einem Familienunternehmen in Cagliari auf Sardinien produziert. Ab 1800 Euro kostet ein solcher Nordenholz-Zweiteiler.

So oder so, ob Vollmaß oder Maßkonfektion: „Mich hat es immer gestört, dass Kleidungsstücke auf diesem Niveau den Männern vorbehalten waren“, sagt Schorer. „Dass in der klassischen Herrenschneiderei ein viel größerer Aufwand betrieben wird als in der Damenschneiderei, die einige zeitintensive Verarbeitungsprozesse einfach nicht vorsieht.“ Also kam ihr die Idee, etwas ebenso Hochwertiges für Frauen anzubieten. Schließlich gibt es – ob zeitgenössisch oder historisch – durchaus weibliche Vorbilder.

28.03.2024

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Marlene Dietrich zum Beispiel wollte auf den Tragekomfort maßgeschneiderter Outfits nicht verzichten: Ihre Fracks ließ sie bei der Wiener Schneiderwerkstatt Knize anfertigen, die auch Marilyn Monroe und Josephine Baker zu ihren Kundinnen zählte. In den frühen 1970ern orderte dann Bianca Jagger Maßanzüge bei Tommy Nutter in London, der auch ihren Ehemann Mick belieferte. Heute fällt die New Yorker Schriftstellerin Fran Lebowitz in maßgefertigten Mänteln und Jacketts auf; sie kommen von der Londoner Firma Anderson & Sheppard, bei der auch König Charles III. stets fündig wird.

Und dann wäre da noch die fiktive Stardirigentin aus Todd Fields „Tár“: Gleich die erste Szene des im vergangenen Jahr erschienenen Films spielt im Berliner Atelier Egon Brandstetters,........

© Berliner Zeitung


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