Es fällt mir wirklich schwer, diesen Text zu schreiben und ich weiß ehrlich gesagt nicht einmal, warum ich mich damit so schwertue. Es geht um den Supermarkt, in dem ich immer einkaufe.

Und es geht um den kleinen, kaum deutsch sprechenden Mann, der immer vor dem Supermarkt steht und eine Straßenzeitung verkauft. Manchmal hat er einen Stuhl dabei, auf dem ein Kissen liegt. Wenn es sehr kalt ist oder es regnet, dann steht er im warmen Eingang des Supermarktes. An manchen Tagen liest er leise, aber sehr konzentriert in der Bibel. An diesen Tagen stehle ich mich an ihm vorbei und bin erleichtert. Wenn er mich sieht, nennt er mich „Bruder“ und fragt mich, wie es mir geht. Das „Bruder“ habe ich mir wohl damit verdient, dass ich ihm seit Jahren etwas Geld gebe oder ihm etwas zu trinken kaufe, Orangenlimonade, etwas anderes verträgt er nicht.

Ich gebe ihm immer etwas, aber darum geht es nicht, das spielt für mich, den Vollverdiener, keine Rolle. Und trotzdem empfinde ich die Begegnung mittlerweile als Belastung. Vor mir selbst schäme ich mich dafür. Der Mann hat sicherlich kein angenehmes Leben, stundenlang steht er bei jedem Wetter vor dem Geschäft, tagein, tagaus. Und doch sprechen wir nie mehr als ein paar Sätze.

Manchmal kaufe ich ihm Aspirin oder Lutschtabletten, wenn er mir mitteilt, dass er Halsschmerzen hat, indem er schluckt und dann das Gesicht verzieht. Eigentlich wäre ich froh, wenn er nicht mehr da wäre. Wenn ich mit niemandem – und sei es auch nur kurz – reden müsste, während ich einkaufen gehe.

Die Beziehung, die zu dem Mann entstanden ist, nervt mich. Nicht, weil ich gezwungen bin, ihm etwas zu geben, sondern weil sie irgendwie nicht mehr anonym ist, aber logischerweise auch keine echte Beziehung.

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Irgendwas dazwischen, in einem seltsamen Bereich zwischen Pflicht, Verantwortung und Abneigung. Wenn ich ihm etwas zu trinken kaufe, hält er mir eine Straßenzeitung hin, zum Dank. Ich will keine Straßenzeitung zum Dank. Ich will meine Ruhe, denke ich, nehme widerwillig das Blatt und stecke es in meine Einkaufstüte. Manchmal lese ich sie sogar, oft werfe ich sie weg, noch bevor ich zu Hause bin.

Der Mann tut mir leid. Und wahrscheinlich ist das genau der Punkt, der mich stört, neben dem erzwungenen Kontakt. Ich will kein Mitleid empfinden, ich will ihm etwas geben und nichts dabei fühlen. Das sind die Gedanken, die mir dann so durch den Kopf schießen, wenn er da wieder steht in seiner dicken Jacke und mit seiner Bibel. Das alles weiß er natürlich nicht, und ich werde ihm weiterhin etwas geben und nett sein. Aber das runterzuschreiben, war mir nun eine Erleichterung.

QOSHE - Eine Frage: Warum nervt mich der Mann mit der Straßenzeitung? - Marcus Weingärtner
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Eine Frage: Warum nervt mich der Mann mit der Straßenzeitung?

19 0
24.04.2024

Es fällt mir wirklich schwer, diesen Text zu schreiben und ich weiß ehrlich gesagt nicht einmal, warum ich mich damit so schwertue. Es geht um den Supermarkt, in dem ich immer einkaufe.

Und es geht um den kleinen, kaum deutsch sprechenden Mann, der immer vor dem Supermarkt steht und eine Straßenzeitung verkauft. Manchmal hat er einen Stuhl dabei, auf dem ein Kissen liegt. Wenn es sehr kalt ist oder es regnet, dann steht er im warmen Eingang des Supermarktes. An manchen Tagen liest er leise, aber sehr konzentriert in der Bibel. An diesen Tagen stehle ich mich an ihm vorbei und bin erleichtert. Wenn er mich sieht, nennt er mich „Bruder“ und fragt mich, wie es mir geht. Das „Bruder“ habe ich mir wohl damit........

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