Jüterbog? Eine brandenburgische Perle mit historischem Stadtkern, wunderschöner Backsteingotik und erheblichem Anteil am Lauf der Regional- und Weltgeschichte? Jawohl, genau diese Stadt mit dem hässlichen Bahnhof, durch die der ICE auf halber Strecke nach Leipzig oder Halle durchdonnert und wo alle halbe Stunde – so die DB will – ein Regionalexpress aus Berlin ankommt. Und genau die Stadt, in der gerade eben der Landesverband der AfD seinen Parteitag abhalten konnte. Warum dort aussteigen? Es gibt gute Gründe, denn eine Stadt ist mehr als die aktuelle Gesinnung eines Teils der Bürger.

Der bedeutendste: Jüterbog ist die zweitälteste Stadt Brandenburgs – und das sieht man auf Schritt und Tritt. Vor genau 850 Jahren, am 29. April 1174, verlieh der Magdeburger Erzbischof Wichmann (1116–1192) Jüterbog das Stadtrecht. Er hatte die dort bestehende wendische Siedlung 1157 seinem Bistum einverleibt und flämische Siedler aus dem heutigen Belgien und den Niederlanden herbeigeholt – die erste bekannte Migration im Land Brandenburg. Die Bezeichnung Fläming geht auf diese erste Siedlungswelle zurück.

Wahrscheinlich überreichte Erzbischof Wichmann dem Rat der Stadt die Urkunde persönlich, jedenfalls weilte der umtriebige Missionar slawischer Heiden und Gründer deutscher Kolonien in jenen Tagen in Jüterbog. Er wird es mit Sicherheit auch gewesen sein, der einen Tag zuvor, am 28. April 1174, die Liebfrauenkirche einweihte.

In diesem beeindruckenden romanischen Bau, wohlsaniert und als Evangelische Kirche in Betrieb, wird am Sonntag, dem 28. April 2024, wieder ein leibhaftiger Bischof die Kirchweihe feiern und, ganz wie 850 Jahre zuvor, wird dieser Bischof auch die feierliche Stadtrechtsverleihung am prächtigen Dammtor symbolisch nachvollziehen – Christian Stäblein, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg.

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Die Stadt feiert diesen stolzen Geburtstag. Von Berlin und Cölln, den beiden Entwicklungsprojekten der askanischen Herren der Mark Brandenburg, gibt es aus der Zeit, als Jüterbog das Stadtrecht bekam, allenfalls erste Siedlungsspuren. Cölln wurde im Jahr 1237 erstmals urkundlich erwähnt, Berlin 1244. Da hatte sich Jüterbog bereits ausgedehnt, ein Vogt und ein Schultheiß sprachen Recht in den Angelegenheiten der Bürger.

Jüterbog hat eine Festwoche organisiert, die interessantesten Tage für Besucher sind sicherlich Sonnabend, 27. April (unter anderem mit Spazierlauf entlang der mittelalterlichen Stadtmauer und Mittelaltermarkt) und vor allem Sonntag, 28. April: Nach der Kirchweihe und der symbolischen Urkundenüberreichung startet an der Liebfrauenkirche ein historischer Umzug, den Bürger der Stadt gestalten.

Es folgt das traditionelle Maibaumaufstellen durch die Handwerkergewerkschaft Teltow-Fläming. Am Montag feiert die Stadt die offizielle Stadtrechtsverleihung mit einer historischen Ratssitzung (Publikum ist auf der Empore zugelassen) im Rathaus – ein wahres Prachtstück der Backsteingotik (Baubeginn 1285), mit herrlicher Gerichtslaube, so, wie sie einst auch vor dem alten Berliner Rathaus stand und bei dessen Abriss in den Park Babelsberg versetzt wurde.

Abgesehen von den Feierlichkeiten zeigt sich Jüterbog als geordnetes Gemeinwesen – mit gepflegten Häusern (viele romantische Fachwerkhäuser), Grünanlagen, Straßen, Kindergärten, Schulen, dem Goethe-Schiller-Gymnasium und einem weitläufigen Schlosspark. Am Osterwochenende lag die Innenstadt zwar still, doch die Nikolaikirche (1307 erstmals erwähnt) hatte etliche Besucher, denn dieser Ort ist Pflicht, schließlich ging von dort wahrhaft Weltgeschichte aus.

In Jüterbog predigte nämlich 1517 der von Bischof Albrecht von Brandenburg zum Geldbesorgen (für den Bau des Petersdoms in Rom und für die eigene Kasse) ausgesandte talentierte Ablassprediger Johann Tetzel und presste den frommen Leuten in ihrer Höllenangst ihr Geld ab mit Sprüchen wie: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt.“ Heute heißen solche Leute Influencer.

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Der Mann akquirierte auch in Berlin, Braunschweig und Görlitz et cetera. Doch Tetzels berühmter Kasten, in dem er das Abgeschwatzte sammelte, steht in der Jüterboger Nikolaikirche: eine riesige, schwere, dunkle Truhe (angeblich hatte Tetzel sie mit einem Teufel bemalen lassen).

Martin Luther im nahen Wittenberg wetterte gegen das Treiben des Ablassgauners und schlug am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Wittenberger Schlosskirche. Die in Jüterbog angestoßene Reformation brachte die Herrschaft des päpstlichen Katholizismus ins Wanken – mit allen Konsequenzen wie der Kirchenspaltung und dem Dreißigjährigen Krieg. An diesem Datum begehen Protestanten den Reformationstag. Luthers These Nummer 21 lautet: „Es irren daher diejenigen Ablassprediger, die da sagen, dass ein Mensch durch Ablässe des Papstes von jeder Strafe gelöst und errettet wird.“ Besser sei: Buße tun. Man merke sich das.

Auf nach Jüterbog, möchte man also freudig rufen – wäre da nicht dieser durch die aktuellen politischen Umstände erzeugte Störfaktor AfD. Am 7. April machten 500 Bürger der Stadt und angereiste Unterstützer „gegen rechts“ mit einer Demonstration vor dem mit 850-Jahr-Feier-Transparent geschmückten Rathaus klar, warum sie sich um ihre Stadt sorgen: Es geht um den wachsenden Einfluss der AfD. Der 2019 mit 56 Prozent für acht Jahre gewählte Bürgermeister Arne Raue, parteilos, zeigt nach Auffassung der Protestierenden immer wieder verstörende Nähe zur als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuften Partei.

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Die AfD hielt an jenem Aprilwochenende in der Wiesenhalle in Jüterbog ihren Landesparteitag ab und wählte einen neuen Landesvorstand. Viele Bürger treibt die Sorge um, dass Jüterbog einen Ruf erlangt, der Zuzugswillige oder Investoren abschreckt. In Jüterbog stehen unübersehbar Wohnungen und Geschäftsräume leer, preiswert, in günstiger Lage – 45 Minuten mit dem Regionalexpress vom Potsdamer Platz in Berlin entfernt, eigentlich eine Option.

Doch von der AfD abgesehen: Jetzt kommen Tage, an denen vor allem die alte, ehrwürdige Stadt Jüterbog zu feiern ist, eine ältere Schwester Berlins. Eine Reise nach Jüterbog ist eine Reise in die Geschichte unseres Landes.

QOSHE - Echt alt: Warum sich jetzt ein Besuch bei Berlins älterer Schwester Jüterbog lohnt - Maritta Adam-Tkalec
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Echt alt: Warum sich jetzt ein Besuch bei Berlins älterer Schwester Jüterbog lohnt

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24.04.2024

Jüterbog? Eine brandenburgische Perle mit historischem Stadtkern, wunderschöner Backsteingotik und erheblichem Anteil am Lauf der Regional- und Weltgeschichte? Jawohl, genau diese Stadt mit dem hässlichen Bahnhof, durch die der ICE auf halber Strecke nach Leipzig oder Halle durchdonnert und wo alle halbe Stunde – so die DB will – ein Regionalexpress aus Berlin ankommt. Und genau die Stadt, in der gerade eben der Landesverband der AfD seinen Parteitag abhalten konnte. Warum dort aussteigen? Es gibt gute Gründe, denn eine Stadt ist mehr als die aktuelle Gesinnung eines Teils der Bürger.

Der bedeutendste: Jüterbog ist die zweitälteste Stadt Brandenburgs – und das sieht man auf Schritt und Tritt. Vor genau 850 Jahren, am 29. April 1174, verlieh der Magdeburger Erzbischof Wichmann (1116–1192) Jüterbog das Stadtrecht. Er hatte die dort bestehende wendische Siedlung 1157 seinem Bistum einverleibt und flämische Siedler aus dem heutigen Belgien und den Niederlanden herbeigeholt – die erste bekannte Migration im Land Brandenburg. Die Bezeichnung Fläming geht auf diese erste Siedlungswelle zurück.

Wahrscheinlich überreichte Erzbischof Wichmann dem Rat der Stadt die Urkunde persönlich, jedenfalls weilte der umtriebige Missionar slawischer Heiden und Gründer deutscher Kolonien in jenen Tagen in Jüterbog. Er wird es mit Sicherheit auch gewesen sein, der einen Tag zuvor, am 28. April 1174, die Liebfrauenkirche einweihte.

In diesem beeindruckenden romanischen Bau, wohlsaniert und als Evangelische Kirche in Betrieb, wird am Sonntag, dem 28. April 2024, wieder ein leibhaftiger........

© Berliner Zeitung


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