Die allermeisten Popsongs von Wert wurden geschrieben, weil jede Liebe enden muss. Dem ist sich Tristan Brusch gewahr. Bereits seit seinen Anfangstagen zählt er Tom Waits zu seinen Idolen und Hildegard Knef. Jedes Lied ein Drama, keine Romanze ohne Leiden, die Gesten gewaltig. Auf der jüngsten Platte „Am Wahn“ wandelt er in den dornenvollen Pfaden von französischen Chansonniers wie Jacques Brel oder Serge Gainsbourg. Ein letztes Mal schmachten seine Protagonisten hier auf dem Sterbebett, aus Eifersucht stechen sie Messer in Herzen. Wie ein „kurz-vorm-Aufprall-fallendes Klavier“ wird geliebt – und dann zerbrochen.

Als Tristan Brusch kurz vor 22 Uhr die Bühne des altehrwürdigen Heimathafen Neukölln betritt, ist ein einzelner strahlender Scheinwerfer auf ihn gerichtet. Wie ein aus der Zeit gefallenes Engelskind blickt er in sein Publikum: schulterlanges Lockenhaar, auf der Haut trägt er einen schwarzen Anzug, darunter schimmert ein Hemd in Leopardenmuster. Nur mit einer akustischen Gitarre in der Hand eröffnet Brusch den Abend.

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Erst nach dem ersten Titel „20.15“ schreitet seine dreiköpfige Band an ihr Instrumentarium. Untermalt von Klavier, Geige und Saxofon singt Brusch schließlich das Eröffnungsstück seines jüngsten Albums: „Möchtest du mich lieben, musst du nur den Verstand verlieren. In ein tiefes Loch und durch ein weites Meer.“ Das große Fühlen – drunter macht er es auch später nicht. Auf „Baggersee“ etwa spricht Brusch aus der Perspektive eines Todkranken. Inmitten einer Chemotherapie trachtet er nach glückseligen Stunden mit seiner Liebsten. Trotz inhaltlicher Schwere zählt der Titel zu den eingängigen Liedern dieses Konzertabends – vielleicht kann man ihn noch am ehesten mit dem Etikett Indie-Pop versehen, statt des Pianos wird nun ein Kontrabass bespielt.

Im Zuge der Studioaufnahmen schwingen die Streicher teils mit großer Geste ihre Bögen, an diesem Freitag wird jene Opulenz auf ihre wunderschönen Melodien heruntergebrochen. Während des unheilvoll polternden Dreiminüters „Mirage“ hat zunächst der in Sonnenbrille verhüllte Saxophonist einen Solo-Auftritt – und dann das Publikum. Allen voran die Damenstimmen verbinden sich zu einem zaghaften wie anrührenden Chor: „Was du gefühlt hast, war nicht da. Was du geliebt hast, gar nicht wahr.“ Danach spricht Brusch erstmalig zu seiner Hörerschaft. Das letzte Mal sei er 2012 durch den Rixdorfer Ballsaal geschritten. Am nächsten Tag habe er ein Konzert gespielt, drei Gäste seien erschienen.

Im Januar 2024 ist das anders, achthundert Menschen füllen die ausverkaufte Spielstätte. Bei „Am Herz vorbei“ zücken einige von ihnen ihre Telefone, um das hinreißende Rührstück festzuhalten. Die Geigerin lässt ihren Kopf kreisen und währenddessen offenbart Brusch einmal mehr, wo er die Liebe verortet: im Abgrund. Einige Pärchen im Saal drücken sich gerade während dieser herzerschütternden Balladen, wenn Brusch von Tod und Trennung singt, besonders fest aneinander. „Ich sag es aus vollem Herzen und mit dem Unterbau der Erfahrung: Ihr seid ein tolles Publikum.“ Ein wenig nuancierte Schmeichelei kann sich der Liedermacher erlauben, sein Auditorium honoriert die Avancen mit Applaus.

In Abwesenheit seiner Band spielt Brusch ein Potpourri älterer Stücke, ein Gast reckt sein Feuerzeug in die Höhe: „Oh, mon amour. Oh, mon amour. Wenn du dich traust, verschütt' ich mich dir.“ Es folgt der Moment des Abends: In schwarzem Kleid betritt Annett Louisan die Bühne. Gemeinsam habe man Lieder für ihr letztes Album „Babyblue“ verfasst, erzählt Brusch. Kurz bevor ihr Taxi kam, sei dann das Chanson „Wenn ich einmal sterben sollte“ entstanden – betrunken, wohlgemerkt. Auf dem butterzarten Duett „Kein Problem“ schließlich wiederholen beide die Zeilen des jeweils anderen. Ein reizender Kunstgriff, und eine Verbeugung vor Jane Birkin und Serge Gainsbourg.

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An dieser Stelle sei auch etwas zu Bruschs Stimme geschrieben: Er hat sie im Griff, besonders schön heimelt das Vibrato in tieferen Tonlagen. Die ersten Hüften werden geschwungen als die Band zurückkehrt und ein Gospel namens „Oh, Lord“ erklingt. Von seltenen Ausbrüchen wie diesem einmal abgesehen, lauscht das Publikum andächtig den Geschichten Bruschs. Was jene Erzählungen auszeichnet: Zum einen decouvrieren sie genau so viel, dass Bilder in den Köpfen der Hörerschaft aufgehen. Zum anderen lassen sie für Jedermann genügend Interpretationsspielraum, um die eigene Vergangenheit in den Liedern wiederzufinden.

Als Zugabe spielt Brusch zwei Lieder, aus denen Kindheit spricht. Das reduzierte Lullaby „Für Theo“ widmet er seinem Sohn. Unterdessen lässt die Discokugel langsam rotierende Lichtpunkte entstehen. Empore und Saal, Stuck und Bemalung werden als Sternenhimmel ausgeleuchtet. „Ich sing so lange bis es wirklich wahr ist“, flüstert Brusch vor dem letzten Refrain dieses Abends: „Das Leben ist schön.“ In dieser Sekunde nimmt das Drama ein Ende. Für diesen kurzen Augenblick stimmt das, was er sagt.

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Tristan Brusch im Heimathafen Neukölln: Jedes Lied ein Drama

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27.01.2024

Die allermeisten Popsongs von Wert wurden geschrieben, weil jede Liebe enden muss. Dem ist sich Tristan Brusch gewahr. Bereits seit seinen Anfangstagen zählt er Tom Waits zu seinen Idolen und Hildegard Knef. Jedes Lied ein Drama, keine Romanze ohne Leiden, die Gesten gewaltig. Auf der jüngsten Platte „Am Wahn“ wandelt er in den dornenvollen Pfaden von französischen Chansonniers wie Jacques Brel oder Serge Gainsbourg. Ein letztes Mal schmachten seine Protagonisten hier auf dem Sterbebett, aus Eifersucht stechen sie Messer in Herzen. Wie ein „kurz-vorm-Aufprall-fallendes Klavier“ wird geliebt – und dann zerbrochen.

Als Tristan Brusch kurz vor 22 Uhr die Bühne des altehrwürdigen Heimathafen Neukölln betritt, ist ein einzelner strahlender Scheinwerfer auf ihn gerichtet. Wie ein aus der Zeit gefallenes Engelskind blickt er in sein Publikum: schulterlanges Lockenhaar, auf der Haut trägt er einen schwarzen Anzug, darunter schimmert ein Hemd in Leopardenmuster. Nur mit einer akustischen Gitarre in der Hand eröffnet Brusch den Abend.

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24.01.2024

25.01.2024

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25.01.2024

Erst nach dem ersten Titel „20.15“ schreitet seine dreiköpfige Band an ihr Instrumentarium. Untermalt von Klavier, Geige und Saxofon singt Brusch schließlich das Eröffnungsstück........

© Berliner Zeitung


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