Wer zwischen ruhigen Seen, weiten Wäldern und wilden Flüssen wandern, Rad oder Kajak fahren will, wird wissen, dass es sich lohnt, die polnische Region Ermland-Masuren zu besuchen. Kaum bekannt ist hingegen, dass es östlich von Masuren noch weitergeht mit der Schönheit und Abgeschiedenheit der Natur. Bis an die Grenze zu Litauen und Belarus zieht sich im Nordosten Polens Podlachien, die am dünnsten besiedelte Woiwodschaft (Region oder Verwaltungsbezirk) des Landes – die trotzdem eine der Superlative ist: Hier finden sich der größte polnische Nationalpark, das ausgedehnteste Torfmoor, der tiefste See, der längste Kanal und einer der umfangreichsten Urwälder des Landes. Das alles sollte doch mindestens eine Reise wert sein.

Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine achtet man in Podlachien besonders genau auf die Nachrichtenlage. Teil der Woiwodschaft ist die sogenannte Suwałki-Lücke, der nur 65 Kilometer lange Grenzkorridor zwischen Litauen und Polen. Es ist die einzige Verbindung der baltischen Länder mit den übrigen Nato-Staaten, eingezwängt zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und Belarus. Es gibt Stimmen, die dieses Gebiet als „Achillesferse der Nato bezeichnen“. Aber allzu große Sorge sollte derzeit nicht bestehen, es gibt keinerlei Reisewarnungen. Im Gegenteil: Vor allem zwischen Frühjahr und Spätsommer lohnt ein Trip in diese Region der Superlative.

Beginnen wir mit dem Superlativ des tiefsten Sees: Es ist der Hańcza-See, der in der Nähe der Stadt Suwałki liegt, die dem Grenzkorridor ihren Namen verleiht, und der eine maximale Tiefe von 113 Metern erreicht. Aus ihm entspringt der Fluss Czarna Hańcza. Und wer einmal wirklich in der Natur versinken will und in einem ganz und gar ursprünglichen Umfeld Kajak oder Kanu fahren, der sollte das auf genau diesem Fluss tun. Die Czarna Hańcza fließt 108 Kilometer durch Polen, in östlicher Richtung, bis sie die Grenze nach Belarus überquert. Sie fließt gemächlich und mäandernd durch eine wild-romantische Landschaft. Manchmal muss man etwas aufpassen, wenn kleine Stromschnellen, Untiefen oder umgestürzte Bäume zu umschiffen sind.

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Doch genau diese kleinen Hindernisse aus Felsen, wuchernden Wasserpflanzen oder morschen Flussbäumen machen die Fahrt zu einem besonderen, paradiesischen Erlebnis. Menschliche Siedlungen sind, wenn überhaupt, nur in der Ferne zu erkennen, manchmal erscheinen eine Schutzhütte oder ein einfacher Platz zum Campieren am Ufer. Aber meistens fließt der Fluss durch Wald, durch verschiedenste Schattierungen von Grün, aus denen im Frühjahr ein vielstimmiges Vogelkonzert erklingt. Manchmal gesellen sich Enten oder andere Wasservögel zu den entspannten Kajak-Touristen.

Die Czarna Hańcza fließt auch durch den See Wigry. Er gehört zu einem Geflecht aus 25 Seen, die das Herz des jüngsten polnischen Nationalparks Wigierski bilden. Das Besondere an diesem Nationalpark ist, dass er auch ein baugeschichtliches Highlight birgt: das ehemalige Kamaldulenser-Kloster Wigry. 1694 vom katholischen Eremitenorden gegründet, fand dort nur rund hundert Jahre lang wirklich Klosterleben statt. In den beiden Weltkriegen wurde es schließlich fast völlig zerstört, ab 1950 aber wieder aufgebaut und zu einem Kloster-Hotel mit Restaurant gemacht. Sogar Papst Johannes Paul II. hat hier auf einer seiner vielen Polen-Reisen übernachtet.

Am Kloster Wigry kann man gut erkennen, welch eine Popularität der polnische Papst bis heute genießt. Nicht nur eine öffentlich aufgestellte Fotostrecke, auch die original – und überraschend spartanisch – eingerichteten Klosterzimmer, die Johannes Paul II. damals bewohnte, erinnern noch heute an seinen Besuch in den 1990er-Jahren. Wenn man schon mal vor Ort ist, sollte man auf jeden Fall auf den Glockenturm steigen, von dem ein wunderbarer Rundumblick auf das Seengeflecht des Nationalparks möglich ist. Ganz unbedingt sollte man aber auch wieder hinabsteigen und die paar Meter bis zu einem ganz besonderen Wohnwagen laufen.

Aus diesem Wohnwagen heraus verkauft Teresa Biziewska traditionell selbst gemachte Piroggen und Sękacze, den man auf Deutsch Baumkuchen nennt, der aber etwas ganz anderes ist als die Vorstellung, die man hierzulande mit diesem Begriff verbindet. Pani Teresy lässt sich von angemeldeten Gruppen gern über die Schultern schauen, wenn sie ihn zubereitet: Sie streicht den Teig aus weißem Mehl, Eischnee, Butter, Zucker und Zitrone auf einen sich horizontal vor Heizdrähten drehenden Spieß. Hier backt er schichtweise fest und ist dann entweder frisch oder auch noch Tage und Wochen später ein Genuss. Seit 50 Jahren backt Teresa Biziewska diese Spezialität. Sie ist jetzt mehr als 70 Jahre alt und wirkt nicht, als wolle sie damit aufhören: „Kommen Sie“, sagt sie, „probieren Sie einmal selbst, den Teig auf den Spieß zu streichen.“

Es gibt in Podlachien mit seinen knapp 1,2 Millionen Einwohnern zwar sehenswerte Städte wie die Hauptstadt und einzige Großstadt Białystok, das schon erwähnte Suwałki unweit der Grenze zu Litauen oder den zumindest in Polen berühmten Kurort Augustów. Aber man besucht die Woiwodschaft doch vor allem wegen ihrer schier unermesslich weiten, unberührten Natur. Um zu den Superlativen zurückzukehren: Der Nationalpark Biebrza ist der größte Polens, die größte Entfernung zwischen seinen Grenzen beträgt 100 Kilometer. Und er birgt weitere Rekorde wie das weiteste Torfmoor des Landes und entlang des Flusses Biebrza eines der größten Marschlande oder Schwemmgebiete Europas.

Sein Vogelschutzgebiet ist ein wertvolles Refugium: 270 Arten leben hier, 180 davon nisten entlang des Flusses. Dazu kommen zehn Fledermaus- und 48 Säugetierarten wie Elche und Bisons und unzählige Pflanzen und Bäume, die hier ungestört wachsen dürfen. Wer nur einen Tag hat, um einen Eindruck vom Nationalpark zu gewinnen, sollte das Zentrum in Osowiec-Twierdza ansteuern, wo auch Filme und Ausstellungen über die reiche Flora und Fauna des Parks zu sehen sind. Von hier aus können sich Besucher auf einen dreistündigen Lehrpfad aufmachen. Insgesamt 15 markierte Wanderrouten führen durch den Park, die schönsten in der Nähe der Dörfer Gugny und Barwik.

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Auf dem Fluss Biebrza gibt es auch ein erstaunliches touristisches Angebot, das sich „Rafting“ nennt, aber noch weniger mit unserer Vorstellung des Begriffs zu tun hat als der polnische Sękacze mit unserem Baumkuchen. Was man nämlich zum Beispiel von Dolina Biebrzy, einem Restaurant mit Pension in Wroceń aus tun kann, ist keine Schlauchbootfahrt über gefährliche Stromschnellen, sondern ein gemütliches Schippern in Hausbooten im flachen Wasser. Angetrieben werden die Boote von starken Männern, die sie mit langen Hölzern vom Grund abstoßen. In dieser maximalen Entschleunigung kann man gut mit einer Leiter auf das Dach eines Hausboots klettern und in die geschützte Natur schauen – und dabei zum Beispiel riesige Starenschwärme im Schilf entdecken, die sich schon von weither durch ihr Sirren, Schnarren und Pfeifen verraten.

Als Hauptquartier für eine Podlachien-Tour empfiehlt sich der Kurort Augustów, der auf die Unterbringung von Reisenden gut vorbereitet ist. Das älteste noch betriebene Hotel ist von 1934, als sich die Stadt als Magnet vor allem für Inlandstouristen etablierte. Ein Tipp ist das Hotel Warszawa mit schönem Spa-Bereich, das direkt an der Augustów-Seenplatte liegt. Nach dem Katzensprung zum See Necko lässt sich ein Sonnenuntergang über stillem Wasser genießen. Es ist außerdem Ausgangspunkt zu einer Fahrt über den Augustów-Kanal – und hier schließen sich viele Kreise.

Zum einen mündet der Fluss Czarna Hańcza in den Kanal – und damit kann man eine Kajak-Reise hier fortsetzen. Er trägt außerdem den Superlativ „längste künstliche Wasserstraße Polens“. Er ist 101 Kilometer lang und überwindet 55 Meter Höhenunterschied mit 18 Schleusen, von denen 14 in Polen und vier in Belarus liegen und die meist noch per Hand von Schleusenwärtern betrieben werden. Das ist ein schönes Schauspiel für die Reisenden auf Kajaks oder Katamaranen.

Über den durch Seen fließenden Kanal lässt sich die Halbinsel Studzieniczna erreichen, die seit dem 18. Jahrhundert Marien-Wallfahrtsort mit Kapelle ist. Und seit Papst Johannes Paul II. sie besuchte, steht neben der Kapelle natürlich auch eine Bronzestatue, die lebensecht an ihn erinnert und die mit vielen bunten Ketten behängt ist. Reisende können sich deshalb heute mit dem Katamaran auf dem Papstpfad den Kanal entlang bewegen. Der oberste Geistliche als Tourismus-Lockvogel – so etwas gibt es wohl nur in Podlachien.

Reise mit dem Auto oder Bahn: Von Berlin nach Suwałki (Podlachien) dauert es etwa 9 Stunden. Die Zugfahrt beträgt etwa 11 Stunden. Man kann den Berlin-Warschau-Express nehmen und muss nur einmal umsteigen, in Warschau, um weiter nach Suwałki oder Augustow zu gelangen.

Übernachten: Eine Übernachtung im Kamaldulenser-Kloster Wigry muss man per E-Mail reservieren, die Zimmer sind spartanisch, aber gemütlich eingerichtet. Im Nationalpark Biebrzy empfehlen wir die am Wasser gelegene Pension Dolina Biebrzy – Ośrodek Agroturystyczny (pro Nacht etwa 50 bis 70 Euro, tolles Restaurant mit regionalen Produkten). In Augustow legen wir eine Reservierung im Hotel Warszawa SPA & Resort nahe, etwa 120,- Euro pro Nacht. Kajaktouren auf dem Czarna Hańcza gibt es bei Szot zu buchen. Weitere Infos zur Reise hier.

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Größter Nationalpark in Polen: Podlachien ist eine Region der Superlative

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27.04.2024

Wer zwischen ruhigen Seen, weiten Wäldern und wilden Flüssen wandern, Rad oder Kajak fahren will, wird wissen, dass es sich lohnt, die polnische Region Ermland-Masuren zu besuchen. Kaum bekannt ist hingegen, dass es östlich von Masuren noch weitergeht mit der Schönheit und Abgeschiedenheit der Natur. Bis an die Grenze zu Litauen und Belarus zieht sich im Nordosten Polens Podlachien, die am dünnsten besiedelte Woiwodschaft (Region oder Verwaltungsbezirk) des Landes – die trotzdem eine der Superlative ist: Hier finden sich der größte polnische Nationalpark, das ausgedehnteste Torfmoor, der tiefste See, der längste Kanal und einer der umfangreichsten Urwälder des Landes. Das alles sollte doch mindestens eine Reise wert sein.

Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine achtet man in Podlachien besonders genau auf die Nachrichtenlage. Teil der Woiwodschaft ist die sogenannte Suwałki-Lücke, der nur 65 Kilometer lange Grenzkorridor zwischen Litauen und Polen. Es ist die einzige Verbindung der baltischen Länder mit den übrigen Nato-Staaten, eingezwängt zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und Belarus. Es gibt Stimmen, die dieses Gebiet als „Achillesferse der Nato bezeichnen“. Aber allzu große Sorge sollte derzeit nicht bestehen, es gibt keinerlei Reisewarnungen. Im Gegenteil: Vor allem zwischen Frühjahr und Spätsommer lohnt ein Trip in diese Region der Superlative.

Beginnen wir mit dem Superlativ des tiefsten Sees: Es ist der Hańcza-See, der in der Nähe der Stadt Suwałki liegt, die dem Grenzkorridor ihren Namen verleiht, und der eine maximale Tiefe von 113 Metern erreicht. Aus ihm entspringt der Fluss Czarna Hańcza. Und wer einmal wirklich in der Natur versinken will und in einem ganz und gar ursprünglichen Umfeld Kajak oder Kanu fahren, der sollte das auf genau diesem Fluss tun. Die Czarna Hańcza fließt 108 Kilometer durch Polen, in östlicher Richtung, bis sie die Grenze nach Belarus überquert. Sie fließt gemächlich und mäandernd durch eine wild-romantische Landschaft. Manchmal muss man etwas aufpassen, wenn kleine Stromschnellen, Untiefen oder umgestürzte Bäume zu umschiffen sind.

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Doch genau diese kleinen Hindernisse aus Felsen, wuchernden Wasserpflanzen oder morschen Flussbäumen machen die Fahrt zu einem besonderen, paradiesischen Erlebnis. Menschliche Siedlungen sind, wenn überhaupt, nur in........

© Berliner Zeitung


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