Wer sich auf die Halbinsel Stralau begibt und der Straße Alt-Stralau folgt, an der sehr viele neuere Wohnhäuser stehen, kommt geradezu auf die Tunnelstraße. An ihr steht die Stralauer Dorfkirche, deren Geschichte auf das Jahr 1464 zurückgeht, was sie zum ältesten Bauwerk im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg macht.

Auf Höhe des neben der Kirche liegenden Friedhofs gabelt sich die Tunnelstraße. Zwischen den beiden Fahrbahnen streckt sich eine annähernd 100 Meter lange, gut fünf Meter breite Rasenfläche, auf der sich an diesem Februartag die ersten Krokusse blicken lassen. Eine durchgängige Mulde prägt dieses Fleckchen. Damit erinnert es an ein vor langer Zeit ausgetrocknetes Bachbett.

An dieser Stelle befand sich einst die Ein- beziehungsweise Ausfahrt des Spreetunnels, der Stralau mit Alt-Treptow verband. Von ihm erzählt eine Infotafel, die neben der Busendhaltestelle Tunnelstraße steht. Vor 125 Jahren, am 21. Februar 1899, wurde dieser Tunnel fertiggestellt. Als erster seiner Art in Deutschland.

Die Geschichte des Spreetunnels beginnt genau genommen 1891. In jenem Jahr unterbreitet das Unternehmen A.E.G. der Stadt Berlin Vorschläge zum Bau einer Untergrundbahn. Die Stadtoberen haben jedoch Bedenken: Ist der märkische Boden dafür überhaupt geeignet? Berlin steht ja im Gegensatz zu London, wo die weltweit erste U-Bahn-Linie 1863 ihren Betrieb aufnahm, nur aus „Buddelkistensand“.

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19.02.2024

Doch die A.E.G. lässt sich nicht beirren. Auf ihrem Firmengelände an der Voltastraße in Wedding stellt sie 1895 einen Versuchstunnel fertig. Eine kleine Bahn mit Elektromotor und Oberleitung fährt durch den 295 Meter langen Tunnel, der zwei Betriebsgelände miteinander verbindet. Noch heute gibt es ihn. Der Verein Berliner Unterwelten bietet Führungen an.

Die Berliner Gewerbeausstellung im Treptower Park 1896 ist ein willkommener Anlass für die A.E.G., beweisen zu wollen, dass Bahnen auch unter der deutschen Hauptstadt verkehren können. Mit dem Unternehmen Phillip Holzmann & Co. und der Deutschen Bank gründet die A.E.G. die Gesellschaft für den Bau von Untergrundbahnen. Ihr Auftrag: einen Tunnel unter der Spree zu bauen, von der Stralauer Halbinsel zum Treptower Park, und ihn – so will es die Gemeinde Stralau – an das Straßenbahnnetz anzuschließen.

Den Bau sollen die Ingenieure Carl Schwebel und Wilhelm Lauter mittels eines sogenannten Schildvortriebs verwirklichen, einem in England entwickelten, in Deutschland noch nicht angewandten Verfahren. Schwebel und Lauter verantworteten auch den Bau des AEG-Tunnels.

Wie das Schildvortriebsverfahren funktioniert, beschreibt die Illustrierte Die Gartenlaube in ihrem Heft 11 im Jahr 1899: „Von der Stelle an, wo das Eindringen von Grundwasser möglich ist, werden die Tunnel als Rohre aus Eisen oder Stahl ausgebildet. Der vordere Teil derselben ist der sogenannte ,Schild‘. Das Rohr ist hier in einige Kammern abgeteilt, die nach hinten durch luftdicht schließende Thüren abgegrenzt sind. In diesen Kammern verrichten die Arbeiter das Ausgraben des Erdreichs. Damit sie vom Eindringen des Grundwassers gesichert bleiben, wird in die Kammern komprimierte Luft eingetrieben, die alles Wasser der Umgebung fortdrängt. Das gelockerte Erdreich räumt man durch die dem Schilde zunächst liegende Kammer bergmännisch fort. Nachdem dies geschehen ist, wird das Tunnelrohr durch hydraulische Maschinen vorwärts geschoben.“

Die Tunnelröhre besteht aus einer ein Zentimeter dicken Eisenwand und hat einen Durchmesser von vier Metern; sie ist aus Ringen zusammengefügt, die aus jeweils neun gusseisernen Platten geformt sind, und ist, um sie vor Rost zu schützen, mit Zementmörtel ummantelt, innen mit einer zwölf und außen mit einer acht Zentimeter dicken Schicht.

Eine kompliziertere Stelle hätten sich die Tunnelbauer allerdings nicht aussuchen können.

An der Verlängerten Dorfstraße (heute Tunnelstraße) auf Stralau und an der Treptower Chaussee (heute Puschkinallee) im Treptower Park sind die Rampen für die Ein- beziehungsweise Ausfahrt geplant. „Eine kompliziertere Stelle hätten sich die Tunnelbauer allerdings nicht aussuchen können“, sagt Dietmar Arnold, Vorsitzender des Vereins Berliner Unterwelten, „ständig nachrutschender Schwemmsand verzögerte die Bauarbeiten ungemein.“ Zur Eröffnung der Gewerbeausstellung am 1. Mai 1896 stand erst ein rund 160 Meter langer Tunnelabschnitt.

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„Nach dreijährigem Kampfe mit vielen Hindernissen ist der Tunnel unter der Oberspree im Osten Berlins zwischen Stralau und Treptow glücklich, ohne einen einzigen schweren Unfall, fertiggestellt worden“, berichtet Die Gartenlaube in ihrem bereits erwähnten Heft 11 aus dem Jahr 1899. Das Problem mit dem „gänzlich ungeeigneten Baugrund“ habe dazu geführt, „daß das vordere Tunnelende zu mehreren Malen gleichsam ins offene Wasser auslief und die Ersäufung des ganzen Tunnels zu befürchten war“.

Doch nicht nur das habe die Tunnelbauer in Verzug gebracht, merkt die Illustrierte an. Es sei zu berücksichtigen, „daß die Arbeiten mehrmals monatelange, ja halbjährige Unterbrechungen erlitten, die nicht auf technische Hindernisse, sondern auf den langsamen Fortschritt der Verhandlungen mit den in Frage kommenden Verwaltungen zurückzuführen waren“.

Der Tunnel an sich ist 454 Meter, mit seinen beiden Rampen 582 Meter lang; er kreuzt die an einer Stelle 195 Meter breite Spree annähernd rechtwinklig. Sein Scheitelpunkt liegt in zwölf Meter Tiefe unter dem mittleren Wasserspiegel; zeitgenössische Postkarten werben mit „15 Meter unter der Spree“.

Das Bauwerk verschlang 1,7 Millionen Goldmark, das entspricht der heutigen Kaufkraft von fast 16,8 Millionen Euro.

Am 18. Dezember 1899 nimmt die im selben Jahr gegründete Berliner Ostbahnen GmbH, eine Tochtergesellschaft der bereits erwähnten Gesellschaft für den Bau von Untergrundbahnen, den Spreetunnel in den Straßenbahnbetrieb. Die Linie 82 verkehrt zwischen Schlesischem Bahnhof (heute Ostbahnhof) und Treptow, Platz am Spreetunnel; sie wird bis 1908 nach Schöneweide und 1909 nach Cöpenick erweitert.

Die Trasse im Tunnel ist eingleisig, es ist daher nur eine Fahrt je Richtung möglich. Um Zusammenstöße zu vermeiden, ist nur der Fahrer, der einen Signalstab – im Volksmund „Knüppel“ – an seinem Straßenbahnwagen hängen hat, zur etwa zweiminütigen Durchfahrt befugt. Eine Betriebsaufsichtsperson an der Ausfahrt nimmt den Stab entgegen und gibt ihn wieder ab. Daher nennen die Berliner die Linie 82 „Knüppelbahn“.

Der Spreetunnel bilde nicht nur „eine Sehenswürdigkeit“, heißt es in einer 1899 veröffentlichten Schrift; er verschaffe der Stadt „einen nicht unbeträchtlichen Vermögensvorteil, da sie vertraglich berechtigt ist, schon nach 36 Jahren von diesem mit grossen Kosten hergestellten Bauwerk unentgeltlich Besitz zu ergreifen“.

Der U-Bahn-Bau nimmt in Berlin Fahrt auf, allerdings angetrieben von Siemens – das Unternehmen unterbreitete bereits um das Jahr 1880 Pläne für eine Hochbahn –, seinem Mitgesellschafter Halske und der Deutschen Bank. Am 18. Februar 1902 nimmt die erste U-Bahn-Linie für den öffentlichen Nahverkehr in Deutschland ihren Betrieb auf, vom Stralauer Tor (ab 1924 Osthafen, 1945 durch einen Bombentreffer zerstört) bis zur Warschauer Brücke und zum Zoologischen Garten erweitert.

Die Rechnung, mit dem Spreetunnel Geld zu machen, geht nicht auf. Als die Stadt ihn 1935 übernehmen kann, ist der Straßenbahnverkehr durch den Spreetunnel bereits seit drei Jahren eingestellt. Die Verantwortlichen mussten zunehmend Bauschäden feststellen. Immer wieder sickerte Wasser ein. Die voraussichtlichen Sanierungskosten standen in keinem Verhältnis zum Nutzen. In jedem einzelnen Straßenbahnwagen saßen schließlich nur noch zwei bis drei Fahrgäste. Der Tunnel wurde daher am 15. Februar 1932 für den Bahnbetrieb geschlossen. Damit endete seine Geschichte allerdings nicht.

Für die Olympischen Spiele 1936 erfährt der Spreetunnel eine Instandsetzung als Fußgängerpassage. Anfang 1945 werden in die Röhre Trennwände mit Türen eingebaut sowie Bänke und Stühle aufgestellt, damit sie als Luftschutzraum dienen kann. Vermutlich infolge eines Bombentreffers füllt sich der Tunnel teilweise mit Wasser. Er wird drei Jahre später sicherheitshalber ganz geflutet. Und 1968 werden beide Zufahrtsrampen und einige Tunnelmeter auf der Treptower Seite abgetragen, die Überreste zugeschüttet.

In den 1990er-Jahren plant die Entwicklungsgesellschaft Rummelsburger Bucht, auf Stralau Hunderte neue Wohnungen zu bauen. Sie erwägt, den Spreetunnel wieder nutzbar zu machen. Für die Untersuchung des Bauwerks beauftragt sie 1996 den Verein Berliner Unterwelten. Der macht sich im Dezember ans Werk. Zuerst wird ein Teil des Rasenstreifens auf der Tunnelstraße aufgebrochen – jener Teil, welcher der Spree am nächsten liegt – und der Zugang zur Röhre freigelegt. Ein Taucher der Feuerwehr begibt sich anschließend hinein. Nachdem er sich versichert hat, dass das Bauwerk betreten werden kann, wird der Tunnel leer gepumpt.

„Im Inneren des Bauwerks sah es noch erstaunlich gut aus“, erinnert sich Dietmar Arnold, der Vorsitzende der Berliner Unterwelten, an die Begehung des Tunnels. „Der vordere Teil befand sich sogar in einem relativ sauberen Zustand, die Spuren der Luftschutzanlage waren noch gut zu erkennen.“ Die Parkbänke aus Ausflugslokalen, die für die Schutzsuchenden bereitgestellt worden waren, standen immer noch da. Und: „An den Decken gab es noch Reste der Isolatoren. Hier verlief einst die Oberleitung, ein letzter Hinweis auf den ehemals durchfahrenden Straßenbahnverkehr.“

Als hätten die Schutzsuchenden die Tunnelröhre überhastet verlassen – so stellt sich die Szenerie dar: Auf den Bänken stehen oder liegen Tassen und Teller, Flaschen und Kannen sowie ein Wasserbehälter des Reichsluftfahrtministeriums; zu sehen sind auch ein Kartenspiel und ein Kamm sowie ein Paar Damenschuhe.

Das Vorhaben, den Spreetunnel instand zu setzen, gab die Entwicklungsgesellschaft Rummelsburger Bucht aus Kostengründen auf. Sobald die Pumpe abgestellt war, füllte sich der Tunnel wieder mit Wasser. Der Zugang wurde wieder verschlossen.

Auch im Treptower Park erinnert eine Infotafel an den Spreetunnel. Sie steht an der Puschkinallee, nahe dem Parkplatz am Gasthaus Zenner, an einem Kiesweg am Sommerblumengarten. Hier befand sich die Rampe zur Ein- beziehungsweise Ausfahrt. Bei der Erneuerung des Gartens im Jahr 2016 wurden deren Überreste teilweise freigelegt. Und anschließend wieder zugeschüttet.

Vorbei an den vier Springbrunnen der Gartenanlage sind es nur ein paar Meter zum Ufer der Spree mit Blick auf Stralau. Sanft wellt sich das Wasser. Und dunkel. Irgendwo da unten liegt es, das nicht sichtbare Denkmal der Berliner Verkehrsgeschichte.

Der Verein Berliner Unterwelten kann sich vorstellen, den Spreetunnel zumindest teilweise aus der Versenkung zu holen. „Man könnte“, regt Dietmar Arnold an, „die Tunnelrampen wieder ausgraben und ,archäologische Fenster‘ einsetzen.“

Bei ihrer Erkundung des Spreetunnels 1996 stießen die Besucher nach etwa 80 Metern in Richtung Treptow erst auf den Hinweis „Notausgang“ und dann auf eine türlose Trennwand aus Ziegelsteinen. Ein Notausgang ist aber Arnold zufolge in keinem Bauplan verzeichnet. Was verbirgt sich hinter dieser Mauer?

QOSHE - Stralauer Spreetunnel: Berlins unsichtbares Denkmal - Michael Brettin
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Stralauer Spreetunnel: Berlins unsichtbares Denkmal

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21.02.2024

Wer sich auf die Halbinsel Stralau begibt und der Straße Alt-Stralau folgt, an der sehr viele neuere Wohnhäuser stehen, kommt geradezu auf die Tunnelstraße. An ihr steht die Stralauer Dorfkirche, deren Geschichte auf das Jahr 1464 zurückgeht, was sie zum ältesten Bauwerk im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg macht.

Auf Höhe des neben der Kirche liegenden Friedhofs gabelt sich die Tunnelstraße. Zwischen den beiden Fahrbahnen streckt sich eine annähernd 100 Meter lange, gut fünf Meter breite Rasenfläche, auf der sich an diesem Februartag die ersten Krokusse blicken lassen. Eine durchgängige Mulde prägt dieses Fleckchen. Damit erinnert es an ein vor langer Zeit ausgetrocknetes Bachbett.

An dieser Stelle befand sich einst die Ein- beziehungsweise Ausfahrt des Spreetunnels, der Stralau mit Alt-Treptow verband. Von ihm erzählt eine Infotafel, die neben der Busendhaltestelle Tunnelstraße steht. Vor 125 Jahren, am 21. Februar 1899, wurde dieser Tunnel fertiggestellt. Als erster seiner Art in Deutschland.

Die Geschichte des Spreetunnels beginnt genau genommen 1891. In jenem Jahr unterbreitet das Unternehmen A.E.G. der Stadt Berlin Vorschläge zum Bau einer Untergrundbahn. Die Stadtoberen haben jedoch Bedenken: Ist der märkische Boden dafür überhaupt geeignet? Berlin steht ja im Gegensatz zu London, wo die weltweit erste U-Bahn-Linie 1863 ihren Betrieb aufnahm, nur aus „Buddelkistensand“.

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19.02.2024

Doch die A.E.G. lässt sich nicht beirren. Auf ihrem Firmengelände an der Voltastraße in Wedding stellt sie 1895 einen Versuchstunnel fertig. Eine kleine Bahn mit Elektromotor und Oberleitung fährt durch den 295 Meter langen Tunnel, der zwei Betriebsgelände miteinander verbindet. Noch heute gibt es ihn. Der Verein Berliner Unterwelten bietet Führungen an.

Die Berliner Gewerbeausstellung im Treptower Park 1896 ist ein willkommener Anlass für die A.E.G., beweisen zu wollen, dass Bahnen auch unter der deutschen Hauptstadt verkehren können. Mit dem Unternehmen Phillip Holzmann & Co. und der Deutschen Bank gründet die A.E.G. die Gesellschaft für den Bau von Untergrundbahnen. Ihr Auftrag: einen Tunnel unter der Spree zu bauen, von der Stralauer Halbinsel zum Treptower Park, und ihn – so will es die Gemeinde Stralau – an das Straßenbahnnetz anzuschließen.

Den Bau sollen die Ingenieure Carl Schwebel und Wilhelm Lauter mittels eines sogenannten Schildvortriebs verwirklichen, einem in England entwickelten, in Deutschland noch nicht angewandten Verfahren. Schwebel und Lauter verantworteten auch den Bau des AEG-Tunnels.

Wie das Schildvortriebsverfahren funktioniert, beschreibt die Illustrierte Die Gartenlaube in ihrem Heft 11 im Jahr 1899: „Von der Stelle an, wo das Eindringen von Grundwasser möglich ist, werden die Tunnel als........

© Berliner Zeitung


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