Ich wohne in der Schönhauser Allee. Was das bedeutet, hat Wladimir Kaminer vor etlichen Jahren höchst amüsant beschrieben. Dem ist nur hinzuzufügen, dass mein Kiez seither noch wilder, hektischer, lustiger und verrückter geworden ist.

Zu jeder Tages- und Nachtzeit kann ich etwas trinken oder essen gehen, treffe ich Leute auf der Straße, die ich kenne oder gerade kennenlerne. Die ganze Welt ist im Prenzlauer Berg zu Besuch, ich muss nicht mehr verreisen, um sie zu sehen. Wenn ich ins Kino oder Konzert will, habe ich eine Auswahl, als wäre ich am Londoner Westend oder auf dem New Yorker Broadway. Das Leben auf der Schönhauser Allee ist unglaublich hektisch. Meistens empfinde ich das als aufregend und schön. Geräusche, Gerüche, Gesichter überfallen und überwältigen mich ununterbrochen.

Manchmal wird mir das jedoch zu viel und ich brauche eine Auszeit. Das Vabali ist mir zu teuer und die Uckermark zu weit weg. Was tun? Ich gehe – und jetzt folgt ein ultimativer Geheimtipp, der es in keinen TripAdvisor oder Guide du Routard geschafft hat – zur Entschleunigung in die Postfiliale Schönhauser-Allee-Arkaden. Dort arbeiten meist vier oder fünf sehr nette Damen, von denen drei gebannt und ausdauernd auf die Bildschirme ihrer Computer schauen, ab und zu eine einzelne Taste drücken und ansonsten lange warten; eine andere nette Mitarbeiterin läuft in Zeitlupe mit einem Brief oder Päckchen im Arm durch die Filiale, und eine weitere bedient hin und wieder wartende Kund:innen am einzigen geöffneten Schalter. Das natürlich ebenfalls gründlich, sehr freundlich und ohne jede Eile. Die Stimmung ist gedämpft, Geduld und Ehrfurcht liegen in der Luft.

Der wundervolle Effekt des sofortigen Ausbremsens jeglicher Alltagsnervosität steigert sich noch einmal zur Weihnachtszeit, wenn die altmodische Sitte des Päckchen-Verschickens zu einer Warteschlange gleich einer riesigen, fast unbeweglichen Schnecke längs durch die gesamten Arkaden führt. Ich würde mich von solchem Andrang aus der Ruhe bringen lassen und versuchen, schneller zu arbeiten. Nicht so die ayurvedischen Damen der Postfiliale Schönhauser-Allee-Arkaden.

•gestern

23.04.2024

•gestern

Berlin-Prenzlauer Berg: Die Schönhauser Allee in Fotografien aus der DDR-Zeit

15.11.2022

Vom Frühstück bis zum Absacker: So genießen Sie Prenzlauer Berg in vollen Zügen

10.06.2023

Einmal, beim meditativen Beobachten der dortigen Arbeitsvorgänge, stellte ich mir ungewollt die Frage, ob es wohl schneller ginge, wenn man die Regale zum Ablegen abgegebener Päckchen näher an die Postschalter rücken oder mit drei bis vier Paketen im Arm dorthin pilgern würde? Diese Gedanken verwarf ich schnell. Das Konzept der Post getreu den Liedzeilen: „Nur nicht gleich, nicht auf der Stell’, denn bei der Post geht’s nicht so schnell!“ geht vollkommen auf.

Fast vollkommen. Ein paar weiche Liegen, Räucherstäbchen und ein blubbernder Zimmerspringbrunnen würden das Runterkommen im rasenden Schönhauser-Allee-Treiben weiter erleichtern. Eine Oase der Ruhe, das Auge im Taifun einer wahnsinnig gewordenen Weltstadt ist die Postfiliale in den Schönhauser-Allee-Arkaden schon jetzt. Wer ein ähnliches Erlebnis im Prenzlauer Berg sucht, muss schon das Bürgeramt in der Fröbelstraße aufsuchen. Dort wird sie oder er jedoch womöglich auf die wundervolle Freundlichkeit der Post-Damen verzichten müssen.

Michael Günther, Jahrgang 1966, ist Schauspieler und Vorstandsmitglied der Shakespeare Company Berlin. Er lebt seit 36 Jahren in Berlin und seit zwölf Jahren im Prenzlauer Berg.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.

QOSHE - Die Postfiliale der Schönhauser Allee Arcaden: Eine seltene Wellness-Oase - Michael Günther
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Die Postfiliale der Schönhauser Allee Arcaden: Eine seltene Wellness-Oase

10 1
25.04.2024

Ich wohne in der Schönhauser Allee. Was das bedeutet, hat Wladimir Kaminer vor etlichen Jahren höchst amüsant beschrieben. Dem ist nur hinzuzufügen, dass mein Kiez seither noch wilder, hektischer, lustiger und verrückter geworden ist.

Zu jeder Tages- und Nachtzeit kann ich etwas trinken oder essen gehen, treffe ich Leute auf der Straße, die ich kenne oder gerade kennenlerne. Die ganze Welt ist im Prenzlauer Berg zu Besuch, ich muss nicht mehr verreisen, um sie zu sehen. Wenn ich ins Kino oder Konzert will, habe ich eine Auswahl, als wäre ich am Londoner Westend oder auf dem New Yorker Broadway. Das Leben auf der Schönhauser Allee ist unglaublich hektisch. Meistens empfinde ich das als aufregend und schön. Geräusche, Gerüche, Gesichter überfallen und überwältigen mich ununterbrochen.

Manchmal wird mir das jedoch zu viel und ich brauche eine Auszeit. Das Vabali ist mir zu teuer und die Uckermark zu weit weg. Was tun? Ich gehe – und........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play